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„Architektur wird durchwandert, durchschritten. […] Ausgestattet mit seinen
zwei Augen, vor sich blickend, geht unser Mensch, bewegt er sich vorwärts,
handelt, geht einer Beschäftigung nach und registriert auf seinem Weg
zugleich alle nacheinander auftauchenden architektonischen Manifestationen
und ihre Einzelheiten. Er empfindet innere Bewegung, das Ergebnis einander
folgender Erschütterungen. Das geht so weit, daß die Architekturen sich in
tote und lebendige einteilen lassen, je nachdem ob das Gesetz des
Durchwanderns nicht beachtet oder ob es im Gegenteil glänzend befolgt
wurde."
(Le Corbusier, 1942)
Bereits in "Vers une Architecture", der Aufsatzsammlung, mit der Le
Corbusier 1923 die internationale Architekturbühne betreten hatte, finden
sich vergleichbare Äußerungen zum Thema Weg, Bewegung und Wahrnehmung. Es
handelt sich um ein Thema, mit dem sich Le Corbusier Zeit seines
schöpferischen Lebens beschäftigte.
Schon in "Vers une Architecture" koppelte er seine Beobachtung an eine
pointierte Polemik gegen die so genannten „graphischen
Planungsgepflogenheiten“ der akademischen Tradition, gegen sternförmige
Grundrisskonfigurationen aus dem Barock oder Klassizismus, die ihre Wirkung
lediglich auf dem Papier entfalten. In der Realität, so Le Corbusier, lösen
sich diese Grundrisse auf, da immer nur einzelne Bruchstücke oder
Ausschnitte wahrnehmbar seien. „Man darf beim Zeichnen eines Grundrisses
nie vergessen, dass es das menschliche Auge ist, welches die Wirkung
aufnimmt“,
und das befinde sich in einer Höhe von 1,70 m und sei ständig in Bewegung.
Als Referenz für eine lebendige Architektur, die der Wahrnehmungsfähigkeit
des Menschen Rechnung trägt, diente ihm stets die Akropolis von Athen. In
„Vers une Architecture“ heißt es in dem Zusammenhang:
„Das Auge sieht weit und als unbestechliches Objektiv sieht es alles,
selbst das, was über das Gewollte und Beabsichtigte hinaus geht. Die Achse
der Akropolis geht vom Piräus zum Pentelikon, vom Meer zum Gebirge. Von den
Propyläen, die rechtwinklig zur Achse stehen, bis zum fernen Horizont des
Meeres. Eine Waagerechte im rechten Winkel zu der Richtung, die einem die
Architektur, in der man sich befindet, aufzwingt: ein Eindruck von
rechtwinklig verlaufenden Kraftlinien, der wichtig ist. Es ist große
Architektur. Die Akropolis sendet ihre Wirkung bis weit zum Horizont aus."
Später in „An die Studenten“ rief Le Corbusier dazu auf, sich an diesen
Prinzipien zu orientieren:
„Architekten, in eurer Hand liegt es […] das Reich dieser engen,
viereckigen Zimmer auszudehnen bis zu den Grenzen der Horizonte, soweit ihr
nur vordringen könnt. Der Mensch, dem ihr durch eure Pläne und Entwürfe
dient, besitzt Augen, und hinter ihrem Spiegel eine Gefühlswelt, eine Seele,
ein Herz. Außen wird euer architektonisches Werk der Landschaft etwas
zufügen. Aber innen nimmt es diese auf."
Lebendige Architektur besitzt laut Le Corbusier wie ein lebendiges Wesen
einen inneren Kreislauf. Dieser dient nicht allein funktionellen
Erfordernissen, sondern basiert auch auf emotionalen Beweggründen. In „An
die Studenten“ heißt es:
„Innerer Kreislauf deshalb, weil die verschiedenen Wirkungen des Bauwerks
– die Sinfonie, die hier erklingt – nur in dem Maße greifbar werden, wie uns
unsere Schritte hindurchtragen, wie sie uns hinstellen, uns weiterführen und
unseren Blicken die Weite der Mauern und Perspektiven darbieten, das
Erwartete oder das Unerwartete hinter den Türen, die das Geheimnis neuer
Räume preisgeben, das Spiel der Schatten, der Halbschatten oder des Lichts,
das die Sonne durch Fenster und Türen wirft. Jeder einzelne Schritt bietet
dem Auge ein neues Klangelement der architektonischen Komposition, sei es
den Ausblick auf die bebauten oder grünen Fernen oder die Ansicht der
anmutig geordneten nahen Umgebung. […] Gute Architektur wird durchwandert,
durchschritten, innen wie außen."
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Abbildung 1
„Drei Mahnungen an die Herren
Architekten“, Le Corbusier

Abbildung 2
Optische Korrekturen:
Säulenneigungen, Choisy

Abbildung 3
Optische Korrekturen:
Kurvaturen, Choisy

Abbildung 4
Optische Korrekturen:
Kurvaturen am Parthenon, Choisy

Abbildung 5
Propyläen, Choisy

Abbildung 6
Akropolisplateau, Choisy

Abbildung 7
Parthenon, Choisy

Abbildung 8
Erechtheion, Choisy

Abbildung 9
Appia, “Rhythmic design of 1909, ‘Moonbeam’”

Abbildung 10
Appia, 1909

Abbildung 11
Villa Savoye,
Rampe

Abbildung 12
Villa Savoye

Abbildung 13
La Tourette, Wohntrakt

Abbildung 14
La Tourette,
Ausblick Speisesaal |
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In „Vers une Architecture“ sind dem Thema Grundriss und promenade
architecturale gleich zwei Kapitel eingeräumt: „Drei Mahnungen an die Herren
Architekten III. Der Grundriss“ und das Kapitel „Baukunst II. Das Blendwerk
der Grundrisse“. In beiden kommt der berühmten Akropolis-Interpretation von
Auguste Choisy aus dem Jahr 1899 eine unübersehbare Schlüsselrolle zu (Abbildung 1).
Le Corbusier verwendete Choisys Rekonstruktionsgraphik, in der er
Betrachterperspektive und Grundriss des Akropolis-Plateaus miteinander
verschränkte, in beiden Kapiteln. In „Drei Mahnungen an die Herren
Architekten III. Der Grundriss“ setzte er die Grafik sogar als
Titelfrontispiz ein, so dass sie sich - und mit ihr die Interpretation
Choisys - geradezu emblematisch mit dem Thema Grundriss in Le Corbusiers
Architekturphilosophie verbindet.
Choisy hatte die revolutionäre Entdeckung gemacht, dass der scheinbaren
Unordnung, die sich im Grundriss der Akropolis spiegelt, eine Ordnung
zugrunde liegt, die auf eine bewusste schließen lässt.
Choisy erkannte die Akropolis als dynamische Architektur, die der
Wahrnehmungsfähigkeit des Betrachters angepasst ist und die die Bewegung des
Betrachters voraussetzt. Detailliert zeichnete er den Weg des
Akropolisbesuchers nach, die Sichtweise, die sich dem Vorangehenden auf dem
Plateau eröffnet, die Art und Weise, wie sich Schritt für Schritt Verdecktes
erschließt, sich wiederum anderes dem Blick entzieht.
Dass sich die alten Griechen bei der Errichtung ihrer Tempel optischer
Korrekturen bedienten, um eine harmonische Erscheinungsweise hervorzurufen,
war zum Teil schon aus den Schriften Platons und Vitruvs bekannt:
Man wusste, dass durch die Entasis, die Schwellung der Säulen, ein optischer
Ausgleich zwischen tragenden und lastenden Architekturteilen geschaffen
wurde und dass ein verjüngter Durchmesser der 2. Säulenreihe eine größere
Tiefenwirkung evozierte. Die Ecksäulen wurden verstärkt, da diese sich nicht
vor der Cellawand, sondern vor dem Blau des Himmels abzeichnen mussten. Und
ebenfalls bekannt war, dass Säulen leicht nach innen, die Giebelfelder im
Gegensatz dazu nach außen geneigt waren und dass die Skulpturen der
Giebelfelder asymmetrisch geformt waren, um vom Betrachterstandpunkt aus
symmetrisch zu erscheinen
(Abbildung 2).
Erst in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts entdeckten englische und
deutsche Archäologenarchitekten zeitgleich die Kurvaturen der horizontalen
Architekturglieder
(Abbildung 3). Diese leichten, für das Auge
fast unmerklichen Krümmungen hatten optischen Täuschungen entgegenzuwirken,
die bei gerader Linienführung den Eindruck hätten entstehen lassen, dass
sich die waagerechten Architekturteile unter der Last biegen. Choisy
folgerte aus der Tatsache, dass die Erbauer der Akropolis auf die
Wahrnehmungsfähigkeit des Betrachters reagierten, dass es demnach
intendierte Schauseiten gegeben haben muss, die beim Wiederaufbau nach den
Perserkriegen gezielt angelegt wurden. Diese Theorie fand er in den
Kurvaturen des Parthenonstylobats und der vorgelagerten Treppe bestätigt:
Der Scheitelpunkt der Kurvatur ist um 7,50 m aus der Mittelachse
verschoben, woraus sich ein idealer Betrachterstandpunkt ergibt, der den
Tempel in der Übereckansicht in seiner vollen Plastizität zeigt
(Abbildung 4).
Choisy entdeckte, dass die Akropolis als Abfolge kontrollierter Bilder
angelegt wurde, die die Bewegung des Betrachters voraussetzt und beschrieb
das antike Ensemble anhand einer promenade architecturale, wie Le
Corbusier das Phänomen später nennen sollte. Mindestens vier Standpunkte
muss der Betrachter einnehmen, um das Gesamtensemble Akropolis zu erfassen.
In jedem dieser vier Bilder sind Gebäude oder Statuen unterschiedlicher
Größen und Distanzen asymmetrisch um ein zentrales Objekt balanciert.
Den ersten Standpunkt nimmt der Betrachter vor den Propyläen ein, dem
einzigen Bau der Anlage, der sich ihm frontal entgegenstellt (Abbildung
5). Nachdem er die Propyläen durchschritten hat, überblickt er
die Gesamtanlage. Dominierendes Motiv ist aus diesem Blickwinkel die
Kolossalstatue der Athena Promachos (Abbildung 6).
Dahinter verborgen und nur ausschnitthaft sichtbar befindet sich das
Erechtheion. Auch der Parthenon erscheint aus dieser Position betrachtet
zunächst mehr oder weniger im Hintergrund und tritt erst im näheren
Herantreten vollständig in Erscheinung, wenn die Athenastatue nicht mehr das
Blickfeld dominiert (Abbildung 7). Der
Tempel ist auf dem höchsten Punkt des Plateaus errichtet und erscheint durch
seine Schrägstellung, die ihn in seiner vollständigen Plastizität zeigt,
majestätischer und größer. Ist die Athena-Statue vollständig aus dem
Sichtfeld verschwunden, befindet sich der Betrachter bereits neben dem Parthenon in einer Position, von der aus er nicht mehr die nötige Distanz
hat, um die Formen wirklich zu überblicken. Das Erechtheion wird nun zum
Hauptmotiv – es erscheint ebenfalls in der Übereckansicht, in der die
Korenhalle praktisch die leere Wand „möbliert“ (Abbildung
8).
Choisy stellte fest, dass auf dem Plateau jeder dieser drei Standpunkte von
einem Monument dominiert wird, während andere verdeckt werden. Nötig war das
laut Choisy, da zu viele Kontraste gegeben waren, die nebeneinander gestellt
die Wirkung des Einzelnen stark beeinträchtigt hätten. Um beispielsweise den
Kontrast zwischen den Karyatiden des Erechtheions und der Kolossalstatue zu
vermeiden, ist die Korenhalle zunächst hinter dem Sockel der Athena
verborgen. Sie gerät erst in den Fokus des Betrachters, wenn dieser
unüberwindbare Gegensatz nur noch in der Erinnerung existiert.
Diese Akropolis-Interpretation von Choisy, die die pittoresken Eigenschaften
der klassischen Architektur in den Vordergrund stellt, fand tiefen Widerhall
bei Le Corbusier und schlug sich in seiner Architekturphilosophie und in
seinen eigenen Werken nieder. Mit Hilfe von Choisys Interpretation gelang es
ihm, seinen eigenen Besuch auf der Akropolis im Jahr 1911, aber auch frühere
Auseinandersetzungen mit dem Thema Weg und Bewegung zu verarbeiten und zu
subsumieren.
Zu Le Corbusiers
frühen Auseinandersetzungen mit dem Thema gehörte die Beschäftigung mit
Camillo Sittes 1889 erschienener Publikation „Der Städtebau nach seinen
künstlerischen Grundsätzen".
Sittes Beschreibungen pittoresker Raumabfolgen und Straßensequenzen im
mittelalterlichen Städtebau können sicherlich auch als Ursache dafür
angenommen werden, dass Le Corbusier rückwirkend behauptete, erstmals in
Istanbul mit dem Phänomen der promenade architecturale in Berührung
gekommen zu sein.
Ebenfalls prägend waren die Begegnungen mit dem Musikpädagogen Emile Jaques-Dalcroze und dem Theatertheoretiker Adolphe Appia zwischen 1910 und
1913 in Hellerau. Sie hatten auch maßgeblichen Einfluss auf Le Corbusiers
frühe Akropolis-Rezeption und gehörten sicherlich zu den entscheidenden
Impulsgebern, die im Winter 1910/11 sein Interesse an der griechischen
Klassik und einem modernen Klassizismus weckten (Abbildungen
10, 11).
Le
Corbusier kam am Institut Jaques Dalcroze in Hellerau mit einer für den
Mikrokosmos Bühne entworfenen Architektur in Berührung, die auf die
„plastische“ Bewegung des Schauspielers oder Tänzers reagiert und diese
gleichzeitig herausfordert. Maßstabslieferant dieser Architektur waren der
Mensch und die Bewegung des Menschen.
Dalcroze hatte eine musikpädagogische Methode entwickelt, mit der sich die
musikalische Komposition durch den Körper in den Raum übertragen ließ – er
bezeichnete den menschlichen Körper auch als „bewegte Plastik".
Appia hatte dem visuellen ‚Chaos’ der Theaterkultur den Kampf erklärt und
strebte nach strenger Stilisierung, Abstraktion und Einfachheit. Seine 1909
für Dalcroze entwickelten Bühnenentwürfe, die „espaces rythmics“ zeigen
weite Horizonte, vor denen sich Mauern, Pfeiler, Treppen und Rampen aus
mächtigen Quadern erheben. Sie erinnern an Bildausschnitte antiker Paläste
in mediterranem Licht mit tiefen Schattenwürfen. Später in Hellerau entwarf
Appia ein System aus „genormten Formen“ – das Würfel, Blöcke, Stufen,
Wandschirme umfasste, die sich je nach Anforderung frei kombinieren ließen.
Le Corbusier erlebte in Hellerau, wie diese kargen, strengen Schauplätze mit
ihren scharfen Linien und Winkeln zum Leben erweckt wurden, indem sie mit
der Bewegung des menschlichen Körpers kontrastiert wurden. Seinen Schülern
soll Appia den Rat gegeben haben, nicht mit den Augen, sondern mit den
Beinen zu zeichnen.
Wie stark Le Corbusier durch diese Bühnenentwürfe beeinflusst war, spiegelt
sich in seinen eigenen Reiseskizzen und auch in seinen Korrespondenzen aus
der Zeit. In einem in Pisa, am Ende der Orientreise an seinen Mentor William
Ritter verfassten Brief heißt es:
„Ich bin verrückt nach der weißen Farbe, nach dem Würfel, dem Kreis, dem
Zylinder und der Pyramide und der Scheibe und den großen leeren Räumen. Die
Prismen erheben sich, gleichen sich aus, rhythmisieren sich, fangen an zu
gehen, während ein großer schwarzer Drache am Horizont erscheint, um sie an
der Basis zusammenzuschließen. Über sich haben sie nur den weißen Himmel,
sie stützen sich auf ein Pflaster aus poliertem Marmor und haben ein
monolythisches Aussehen, das von keiner Farbe unterbrochen wird.“
Es folgt eine Beschreibung über das sich im Laufe der Tageszeiten
wandelnde Licht- und Schattenspiel. Und schließlich heißt es:
„Es wäre so schön, wenn unser Gang rhythmisiert würde, unsere Gesten
plastisch würden und alles zu Farbe würde. […] Hört ihr nicht die Musik in
alledem? Seht Ihr nicht, wie sie die Architektur in ein Schauspiel
verwandelt? [...] „Da und dort wird es einen Tempel geben, einen Zylinder,
eine Halbkugel, ein Würfel oder ein Polyeder. Inmitten von leeren Räumen, um
atmen zu können. Auf den Dächern werden wir wie ein wenig verrückte Leute
sein.“
In dieser stark durch Appia und Dalcroze inspirierten Vision aus dem
Jahr 1911 am Ende der Orientreise sind im Prinzip schon viele Grundzüge Le
Corbusiers späterer Architekturphilosophie enthalten: freie Gruppierung von
Bauvolumen im Raum, das Spiel der Volumen im Licht, die Horizonte, selbst
die Dachgärten erscheinen schon in dieser Vision und natürlich die Bewegung
des Betrachters im Raum.
Zentrales Element Le Corbusiers eigener architektonischer und
städtebaulicher Entwürfen wurde die promenade architecturale - der
auf den Betrachter ausgerichtete Weg durch den gebauten Raum. Sie ist die
Bildabfolge, die sich vor dem Auge des schrittweise vorangehenden
Betrachters entrollt. Sie ist das Rückgrat der Komposition, die
Hierarchisierung der architektonischen Ereignisse, die Leseanweisung - der
„innere Kreislauf“ der Architektur. Mit Hilfe der promenade
architecturale kreierte Le Corbusier virtuose Verschränkungen von Innen-
und Außenraum, fließende Räume, die sich im Voranschreiten erschließen –
eine Aneinanderreihung selbstständiger Stillleben, wie es scheint.
In der Villa Savoye in Poissy (1929) beginnt die promenade architecturale
bereits mit der Autofahrt, die im Erdgeschossbereich des Gebäudes endet, der
dem Wendekreis des Autos angepasst wurde. Im Inneren des Gebäudes
wird die fließende Bewegung der Autofahrt durch die Rampe aufgenommen und
lenkt den Besucher durch das Zentrum des Hauses hinauf zur Dachterrasse. Die
Rampe – ein Mittel, dessen sich Le Corbusier zur Formulierung der
promenade architecturale gern bediente – erschließt und verbindet die
unterschiedlichen Räume, sorgt für einen homogenen Bewegungsablauf und führt
dazu, dass sich der Raum in seiner Plastizität exakter wahrnehmen lässt. Der
Besucher wird über die Rampe vom Erdgeschoss nach einer Richtungsänderung
von 180 Grad zum Salon im „piano nobile“ geleitet. Nach einer erneuten
Kehrtwende führt die Rampe im Außenraum von der in den Baukörper
integrierten Freiterrasse im ersten Geschoss zum Dachgarten. Der Betrachter
läuft hier auf eine in die Blendmauer eingelassene Fensteraussparung zu, die
einen gerahmten, sich stetig mit jedem Schritt verändernden Ausblick in den
Außenraum freigibt (Abbildungen 12, 13).
Mittels der promenade architecturale verbindet Le Corbusier im Falle
der Villa Savoye nicht nur Räume und Raumvolumen – er verschränkt auch
Innen- und Außenraum miteinander. Die promenade architecturale
beginnt im offenen Raum, wird über die halboffenen Erdgeschosszone in den
geschlossenen Wohnbereich geführt, von wo aus sie über die halboffene
Terrasse zum offenen Solarium leitet. Im Inneren produzieren die
Bandfenster, die selbst ein Motiv der Bewegung darstellen, im Vorangehen
fließende, gerahmte Ausblicke in die Landschaft.
Auch im Kloster La Tourette in Eveux (1953-57) ist die promenade
architecturale Rückgrat der architektonischen Komposition. Hauptthema
ist hier die Beziehung zum Außenraum, die Wechselwirkung zwischen
Architektur und Landschaft. Licht und Ausblicke in die Umgebung werden, gut
dosiert und sehr sparsam, in die Architektur einbezogen. Das Kloster ist ein
introvertierter Block, dessen Innenhof von dem kreuzförmigen angelegten
Kreuzgang durchschnitten wird. Auf Augenhöhe angelegte Lichtschlitze, die
die Gänge der Wohntrakte flankieren, sind auf den Innenhof ausgerichtet (Abbildung
14). Die an den Enden der Gänge platzierten Fenster, die den
Blick nach außen in die Landschaft freigeben würden, sind mit Betonplatten
verschlossen, die lediglich seitlich Licht einfallen lassen. Die
Weggestaltung ist so angelegt, dass der Mönch nicht durch äußere Einflüsse
abgelenkt wird, nicht abschweifen kann, sondern im Gegenteil in seiner
Meditation oder seinem Gebet unterstützt wird. In einem der ersten
Planungsschritte, sah Le Corbusier den Kreuzgang auf dem Dach des Klosters
vor. Um die Mönche durch den Panoramablick nicht zu zerstreuen und zu
überfordern, verlegte er ihn in den Hof, wo er über kreuzförmigem Grundriss
angelegt wurde. Zu dem Dach führt in dem realisierten Bau nur eine schmale
Stiege, die bewirkt, dass sie nur jenen Mönch zum Hinaufsteigen animiert,
der das Gefühl hat, durch die Weite und den Ausblick nicht abgelenkt zu
werden. Entscheidet er sich dann dafür, hoch zu gehen, steht er nicht
dem gesamten Landschaftspanorama gegenüber, sondern lediglich einem
Ausschnitt. Eine in Augenhöhe eingezogene Umfassungsmauer tritt wie eine
künstlich eingezogene Horizontlinie in den Dialog mit dem echten Horizont
und blendet den umgebenden Nahbereich vollständig aus. Der Himmel wird auf
diese Weise klar umrissen und in die Komposition einbezogen.
Allein von den Loggien der einzelnen Wohnzellen aus bietet sich dem Mönch
der unverstellte Blick in die Landschaft. Alle anderen Ausblicke nach außen
wie auch in den Innenhof sind gelenkt, untergliedert, determiniert. Die
großen Glaswände in den Korridoren der Studiengeschosse, der Bibliothek, dem
Hörsaal, dem Refektorium, dem Kreuzgang und dem Atrium, sind so gestaltet,
dass der Außenraum in kleine übersichtliche Abschnitte gegliedert erscheint
(Abbildung 15). Grundsätzlich, nicht nur im
Kloster La Tourette, achtete Le Corbusier darauf, niemals einen undosierten
Blick in den Außenraum freizugeben. Er hatte - möglicherweise auf der
Akropolis - die Erfahrung gemacht, dass die Weite des Außenraumes erst zum
sinnlichen Erlebnis wird, "wenn die Nähe greifbar ist, wenn dem Auge
Hindernisse in den Weg gelegt werden, die es überwinden muß, um in die Ferne
zu schweifen." Für Le Corbusier "ist die Landschaft nicht etwas, das
von allen Seiten hineinflutet und im Haus überall gegenwärtig ist [...]. Die
Landschaft ist klug bemessen, ein Faktor der Überraschung; plötzliche
Ausblicke holen die Landschaft herein wie ein Bild, das auf die Staffelei
gestellt wird.”
Auch im Kapitolbezirk von Chandigarh stellen sich dem Auge des sich
nähernden Besuchers Hindernisse in den Weg, die es überwinden muss, um einen
Eindruck der gesamträumlichen Situation erhalten zu können. Da Stadtkörper
und Kapitol durch ein System künstlicher Hügel und Wälle voneinander
separiert sind, bewegt sich der Besucher geraume Zeit auf einen fast
unsichtbaren Kapitolkomplex zu, den er mehr oder weniger nur erahnen kann.
Hin und wieder wird ein Stück Fassade, ein Dachaufbau ausschnitthaft
zwischen oder über den künstlichen Hügeln sichtbar, um sich dann wieder dem
Blick zu entziehen. Auch der mächtige Block des Sekretariats, der parallel
zur Ankunftstrasse gelagert ist, tritt nie als Ganzes, sondern hinter Hügeln
und Vegetation verborgen, nur in Ausschnitten in Erscheinung. Erst wenn der
Betrachter sich in etwa auf Höhe der Mittelachse des Sekretariats befindet,
wird hinter Hügeln und Sträuchern erstmals für einen Moment die
vollplastische ¾-Ansicht des Parlaments erahnbar, um kurz darauf von der
monumentalen Rampe, dem so genannten „Geometrischen Hügel“ wieder verborgen
zu werden. Parallel dazu gerät, während das Parlament nur noch in der
Erinnerung existiert, im Vorangehen erstmals das Monument der Offenen Hand
in den Fokus des Besuchers und kurz darauf, parallel zu Ankunftsachse
gelagert, der Oberste Gerichtshof. Zuvor wäre vermutlich noch der Blick auf
den nicht realisierten Gouverneurspalast freigegeben worden, der zusammen
mit dem „Geometrischen Hügel“ die Mittelachse hätte besetzen sollen. Da der
Besucher das Kapitol nicht auf der zentralen Mittelachse betritt, sondern
schräg nach rechts versetzt dazu, bleibt die Mittelachse leer, und der Blick
wird in das Himalaja-Vorgebirge gelenkt. Erst mit dem Betreten der schmalen
gepflasterten Esplanade, die die Verbindung zwischen Parlament und Obersten
Gerichtshof herstellt, wird dem Betrachter erstmals der Eindruck einer
Platzsituation vermittelt. Die beiden Großbauten rechts und links erscheinen
nun in der Frontalansicht, der Gouverneurspalast wäre leicht aus der Achse
verschoben erschienen. Der lang gestreckte Riegel des Sekretariats ist aus
dieser Perspektive wiederum in Ausschnitten wahrnehmbar, die sich wiederum
mit jeder Schrittfolge verändern, da er teilweise durch das Parlament, in
erster Linie aber durch den „Geometrischen Hügel“ verborgen wird.
Auch auf dem eigentlichen Kapitolplatz ist der Besucher aufgrund der
überdimensionierten Distanzen förmlich gezwungen sich zu bewegen, immer
wieder die Richtung zu ändern, die Architekturen aus der Bewegung heraus als
dreidimensionale Phänomene zu erleben. Und ähnlich wie in seinen
Einzelbauten, überlässt es Le Corbusier nicht dem Zufall, wie sich der
Betrachter im Kapitol von Chandigarh bewegt, wie er sich den einzelnen
Architekturen annähert, sondern führt fast unbemerkt Regie:
„Alle Straßen und Wege auf dem Kapitol verlaufen parallel oder
rechtwinklig zueinander. Aber es gibt keine durchgehende Achse. So liegen
Parlament und Justizgebäude zwar gegenüber; der Fußgänger aber kann diese
direkte Verbindung nicht beschreiten, sondern wird veranlasst, die Diagonale
zu nehmen. Kleine Plätze durchbrechen die geraden Linien, so dass beim
Begehen der Wege ständig Richtungswechsel vorgenommen werden müssen. Auf
diese Weise hat der Betrachter beim Durchschreiten des Kapitols eine Fülle
räumlicher Erlebnisse.“
Literatur:
–
Bablet, Denis u. Marie-Louise: Adolphe Appia
1862-1928. Darsteller - Raum - Licht. Ausstellungskatalog der
Kulturstiftung Pro Helvetia, Zürich 1982
–
Beacham, Richard C.: Adolphe Appia. Theatre
Artist, Cambridge, NY, Sidney 1989
–
Beacham, Richard C.: Adolphe Appia. Artiste
and Visonary of the modern Theatre, Boston 1994
–
Choisy, Auguste:
Histoire de l’architecture, 2 Bde.
(1899), Paris 1954
–
Etlin, Richard
A.: Frank Loyd Wright and Le Corbusier: The romantic legacy, Manchester 1994
–
Giertz, Gernot: Kultus ohne
Götter: Emile Jaques Dalcroze und Adolphe Appia: Der Versuch einer
Theaterreform auf der Grundlage der rhythmischen Gymnastik, München 1975
–
Gresleri, Giuliano: Le
Corbusier. Reise nach dem Orient. Unveröffentlichte Briefe und z. T. noch
nicht veröffentlichte Texte und Photographien von Edouard Jeanneret,
Venedig/ Paris 1984; Zürich 1991
–
Le Corbusier: An die Studenten.
Die `Charte d`Athènes´ (1942), Hamburg 1962
–
Le Corbusier: Unité,
in: Architecture d’Aujourd’hui, 2éme numéro spécial Le Corbusier, Paris 1948
–
Le Corbusier: Ausblick auf eine
Architektur (1923); Hrsg. H. Hildebrandt, H. Gütersloh 1995
–
Joedicke, Jürgen:
Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart/ Zürich 1990
–
Moos, Stanislaus
v.:Le Corbusier. Elemente einer
Synthese; Frauenfeld 1968
–
Sitte, Camillo: Der Städtebau
nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1901), Wien 1965
Abbildungsverzeichnis:
Abbildung 1: |
„Drei Mahnungen an die Herren Architekten. III.
Der Grundriss“, Le Corbusier, 1995, S. 47 |
Abbildung 2: |
Optische Korrekturen: Säulenneigungen, Choisy,
1954, S. 322 |
Abbildung 3: |
Optische Korrekturen: Kurvaturen, Choisy, 1954, S. 323 |
Abbildung 4: |
Optische Korrekturen: Kurvaturen am Parthenon, Choisy, 1954, S.
332 |
Abbildung 5: |
Propyläen, Choisy, 1954, S. 329 |
Abbildung 6: |
Akropolisplateau, Choisy, 1954, S. 330 |
Abbildung 7: |
Parthenon, Choisy, 1954, S. 331 |
Abbildung 8: |
Erechtheion, Choisy, 1995, S. 332 |
Abbildung 9: |
Appia, “Rhythmic design of 1909, ‘Moonbeam’”, Beacham, 1994,
S.76 |
Abbildung 10: |
Appia, 1909, Beacham, 1989, S. 51 |
Abbildung 11: |
Villa Savoye, Rampe, Foto: Turit Fröbe |
Abbildung 12: |
Villa Savoye, Foto: Turit Fröbe |
Abbildung 13: |
La Tourette Wohntrakt, Foto: Turit Fröbe |
Abbildung 14: |
La Tourette Ausblick Speisesaal, Foto: Turit Fröbe
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