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Die Konferenz hat sich zum
Ziel gesetzt, “zum Teil vernachlässigte, wissenschaftliche Traditionen
zum architektonischen Raum” neu aufzugreifen und ihre Relevanz für die
aktuelle Problematik des gebauten Raumes aufzuzeigen. Einleitend gilt es zu
klären, was einerseits in Bezug auf den architektonischen Raumbegriff unter
den vernachlässigten wissenschaftlichen Traditionen zu verstehen ist,
andererseits, was die aktuelle Problematik des gebauten Raumes überhaupt
ausmacht. Wie im zweiten Teil sichtbar zu machen sein wird, läuft die
aktuelle Problematik des gebauten Raumes notwendigerweise und alternativlos
auf einen Punkt hinaus: auf die Frage nach der Architektur als symbolischer
Form im Zeitalter des digitalen Paradigmenwechsels. Im Zentrum steht
hierbei, ganz im Sinne von Ernst Cassirer, die Architektur als
intersubjektiv gültige Form lebensweltlicher Vermittlung der herrschenden
technischen Rationalität. Auf der angewandten Seite – diesseits der
virtuellen Neben- und Parallelwelten – kulminiert dies in der Frage nach der
Rekonzeptualisierung des architektonischen Raumes. Auslöser dafür ist die
heute zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen den dreidimensionalen
Objekt- und den zweidimensionalen Bilderwelten und der damit einhergehenden
Infragestellung des klassischen Raumbegriffs. Im dritten und letzten Teil
soll dann die Relevanz der vorgetragenen Theorieansätze für die
Architekturpraxis aufgezeigt werden. Vorgestellt werden einige Projekte des
japanischen Architekten Jun Aoki. Exemplarisch stehen sie für die sehr
eigenen Strategien kultureller Mimesis, die in der Rekonzeptualisierung des
traditionellen japanischen Raumkonzeptes ma ein Ziel verfolgen: Das
ist die Aufnahme der neuen digitalen Technologien in den kulturellen Gehalt
und damit Bestätigung der Architektur als die für die Kultur zentrale
symbolische Form im Zeitalter des digitalen Paradigmenwechsels.
Der Raum und die dynamische Struktur des kulturellen Kräftefelds
Was ist nun unter den vernachlässigten wissenschaftlichen Traditionen zu
verstehen? Ganz allgemein lassen sich zwei Kategorien unterscheiden. Zur
ersten sind jene Wissenschaftstraditionen zu rechnen, die trotz ihres
wissenschaftlichen Stellenwertes und ihrer Bedeutung für die künstlerische
Praxis zu einem bestimmten Zeitpunkt von der Dynamik der Geschichte
überrollt werden und als Makulatur in den Archiven verschwinden, wo sie dann
darauf warten, unter einer günstigeren historischen Konstellation dem
Vergessen entrissen zu werden, um im Sinne von Walter Benjamin
zu Kristallisationspunkten einer in die Zukunft gerichteten Wiederaneignung
des unterdrückten Vergangenen zu werden. Nach Reinhard Koselleck gehört
diese Art der Vernachlässigung zu den elementarsten Techniken der
Gedächtnis- und Geschichtsbildung schlechthin. Das Farbloswerden, das
Verlieren und Verblassen von Erinnerung sind Teil jener kulturellen
Prozesse, die, mit der nötigen historischen Distanz, zielstrebig in eine
zweite Phase der Verwissenschaftlichung
führen.
Ungleich brisanter sind dagegen jene Fälle, bei denen die Theorien und
Konzepte deswegen vernachlässigt werden, weil sie als allzu
selbstverständliche und gesicherte Erkenntnisse erachtet werden.
Vernachlässigt sind sie deshalb, weil sie sich in aller Sichtbarkeit
gleichsam gut versteckt der Reflexion entziehen. Als ein aus dem Bewusstsein
Verdrängtes führen sie in aller Offenheit eine im Sinne von Sigmund Freud
geradezu unheimliche Existenz, wobei sie einen Prozess der Transformation
durchmachen, an dessen Ende sie uns sogar als Teil unserer Natur erscheinen
mögen, während sie doch in Wirklichkeit alles andere als das sind.
In diese zweite Kategorie der vernachlässigten Theorien gehört der Begriff
des Raumes, und zwar insofern, als in ihm bis heute die Raumkonzeptionen und
-theorien des ausgehenden 19. Jahrhunderts latent, das heißt unhinterfragt
nachwirken. Am Ende des 19. Jahrhunderts wollte man im Raum das zentrale
Medium erkannt haben, das es erlauben sollte, vor dem Hintergrund der
verloren gegangenen Selbstverständlichkeit der Traditionen die Architektur
neu in ihrem Wesen zu bestimmen. Unter Missachtung des dynamischen
Charakters von Kultur glaubte man, die nicht weiter reduzierbare
Wesenhaftigkeit der Architektur in ihrer raumgestaltenden Funktion
ontologisch bestimmen zu können. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ist
dann die “Architektur als Raumgestalterin”
(August Schmarsow) oder die “Baukunst als Raumbildnerin”
(Paul Klopfer) an die Vorstellung einer “Wesensbestimmung der
Architektur”(Dagobert
Frey) geknüpft. Das ungebrochene Nachwirken dieses ontologischen Erbes, so
die These hier, dürfte wesentlich dafür verantwortlich sein, weshalb sich
die Architektur heute mit den Herausforderungen des digitalen Zeitalters und
im besonderen der Rekonzeptualisierung des Raumes im Kontext der digitalen
Neben- und Parallelwelten so schwer tut.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts besteht die Problematik der Diskussionen um
die Architektur als Raumbildnerin darin, dass man als Medium für die
Ontologisierung, das heißt die Wesensbestimmung der Architektur, den Raum
isoliert von allen technologischen und gesellschaftlichen Einflüssen und der
von ihnen ausgelösten kulturellen Dynamik definierte. Es ist erstaunlich,
wie die Theoretiker der frühen Moderne, wie Robert Vischer, August Schmarsow
und der junge Heinrich Wölfflin
in seiner Dissertation Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur,
später Paul Klopfer, Fritz Schumacher und Herman Sörgel, die Architektur
und den Raum ausschließlich im leibphänomenologischen Bezug zu definieren
versuchten und die Raumerfahrung weitgehend als anthropologische Konstante
behandelten.
Kein Wort verlieren sie darüber, was denn der Anlass für die
Rekonzeptualisierung der Architektur im Übergang vom Stil zum Paradigma des
Raumes war. Kein Wort darüber, dass die Frage nach der Wesenhaftigkeit der
Architektur überhaupt erst durch die massiv in das kulturelle Gefüge
eingreifenden neuen Ingenieurtechnologien, die neuen Materialien und neuen
Produktionsverfahren ausgelöst wurde. Man tat so, als ob es sich bei der
Hinwendung zum Raum um einen autopoietischen Prozess handelte, als ob hier
eine aus der Logik der Disziplin selbst kommende, teleologische Entwicklung
am Werke wäre, als ob jetzt – warum aber gerade jetzt, gegen Ende des 19.
Jahrhunderts – die Geschichte der Architektur in der Idee der Architektur
als Raumbildnerin auf einer höheren Ebene angekommen sei. Alles drehte sich
um die in der “baukünstlerische[n] Bewältigung des Raumes”
(Fritz Schumacher) sich selbst findende Architektur. Ganz hegelianisch war
man der Meinung, dass der Übergang von Ornament und Stil zum Paradigma des
Raumes das Ende der Entwicklung der Architektur als Kunst sei und diese
damit ihren Abschluss gefunden hätte. Aus der Überzeugung, dass jenseits
ihres Zeichencharakters die Wesenhaftigkeit der Architektur allein im Raum
liege, erklärt sich letztendlich auch der moralische Impuls, mit dem die
Debatten um die Abschaffung des Ornaments, um den “Formenflitter längst
vergangener Stilzeiten”
geführt wurden.
Wo die Protagonisten noch an ein evolutionistisches, teleologisch
ausgerichtetes Modell kultureller Entwicklung glaubten, verschwand eines aus
dem Sichtfeld: dass nämlich unsere Wahrnehmung und damit unsere
Vorstellungen des Raumes keinen prästabilierten Vorstellungen folgen,
sondern durch die kulturelle Dynamik der Modifikation unterliegen. Die
Architektur entwickelt sich ja keineswegs losgelöst aus dem allgemeinen
kulturellen Kontext, sondern aus einem kulturinternen
Differenzierungsprozess heraus, innerhalb dessen, was Pierre Bourdieu die
“dynamische Struktur des kulturellen Kräftefelds”
bezeichnete. Etwa beginnend um die Mitte des 19. Jahrhunderts werden in der
Tat für die Architektur die neue Maschinenproduktion, die neuen
Produktionsverfahren und die neuen Materialien wie Stahl und Glas zum
dominanten kulturellen Kräftefeld. Das heißt, dass die neuen
Gestaltungsmöglichkeiten und Raumkonzeptionen, die dadurch möglich werden,
eben keine Erfindungen sind. Sie resultieren direkt aus der Interdependenz
der Architektur mit den fundamentalen Strukturen des aktuellen kulturellen
Kräftefelds, d. h. aus ihren stellungsspezifischen Eigenschaften und sind
umgekehrt gerade deswegen auch als solche analysierbar. Wie Bourdieu
feststellte, verbietet sich jeder Versuch, “die von dem synchronen
Studium eines Feldes abgelösten Beobachtungen als transhistorische und
transkulturelle Wesensbestimmung zu verklären.”
Nicht unwichtig ist darauf hinzuweisen, dass die Architektur nicht nur auf
der materiellen und konstruktiven Seite dem kulturellen Kräftefeld
ausgesetzt ist, sondern die Architekten, Architekturhistoriker und
-theoretiker ein sogenanntes intellektuelles Kräftefeld bilden, dem die
Architektur ebenso ausgesetzt ist. Dass diese miteinander in intellektuellem
Austausch stehen – zum Beispiel über Zeitschriften, Diskussionsforen und die
Ausbildung an den Akademien –, ist der Grund dafür, dass die Architektur,
trotz ihrer Einbindung in den allgemeinen Kontext der Kultur, einen gewissen
Grad an Autonomie besitzt. Es sind nach Bourdieu gerade diese
intellektuellen Kräftefelder, die die “eigentümliche Logik”
jeder Disziplin ausmachen, auch der Architektur. Ein Beweis wird in diesem
Rahmen hier nicht zu erbringen sein, aber die Vermutung besteht, dass die
Ontologisierung des Raumbegriffes im 19. Jahrhundert sich aus der
übermäßigen Dominanz jener “eigentümlichen Logik” des intellektuellen
Kräftefeldes der Architekturhistoriker und -theoretiker erklären lässt. Man
wird in der bürgerlich-humanistischen Bildungsidee mit ihrem tief im
deutschen Idealismus und in der Romantik verwurzelten Weltbild jene Struktur
erkennen müssen, auf die – in ihrer bis heute nachwirkenden latenten
Abneigung gegen die wissenschaftlich-technologischen Wissensgebiete – das
Beharren auf eine Wesensbestimmung der Architektur im ausschließlichen
Raumbezug zurückgeführt werden muss.
Im Kontext der neuen technischen Produktionsformen hatte in den zwanziger
Jahren Walter Benjamin auf einen wichtigen Zusammenhang hingewiesen. Es ist
die Beziehung, die zwischen den neuen Produktionsformen, der Veränderung
unserer Wahrnehmungsweisen und den Prozessen der Naturalisierung bzw.
Aufnahme der geänderten Wahrnehmungsmodi in den anthropologischen Gehalt
menschlicher Erfahrung besteht. In den Notizen seines Passagenwerks heißt es
dazu:
“Wann und wie werden die Formenwelten, die in der Mechanik, im Film, im
Maschinenbau, in der neuen Physik etc. ohne unser Zutun heraufgekommen sind
und uns überwältigt haben, das, was an ihnen Natur ist, uns deutlich machen?
Wann wird der Zustand der Gesellschaft erreicht sein, in dem diese Formen
oder die aus ihnen entstandenen sich als Naturformen uns erschließen?”
Benjamin erkannte, dass die neuen Technologien ungeahnte Möglichkeiten
insofern eröffnen würden, als aus ihnen neue Wahrnehmungsweisen hervorgehen,
die ein neues Verhältnis zur Welt herstellen, neue Sichtweisen und neue
Formen gesellschaftlicher Praxis. Von höchstem Interesse für unser Thema ist
nun, dass Benjamin in den neuen Technologien seiner Zeit einerseits
revolutionäre Energien erkannte, die die Wahrnehmung verändern, während er
andererseits aus seiner spekulativen Geschichtsphilosophie heraus glaubte,
dass diese neuen Wahrnehmungsweisen im weiteren Verlauf der Geschichte kein
Äußerliches bleiben, sondern jenseits des revolutionären Impulses direkt in
die menschliche Natur eingehen würden. Kommenden Generationen würden demnach
die veränderten Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen quasi als Natur
erscheinen.
Benjamin explizierte seine These anhand der zu seiner Zeit wohl neuesten
Medientechnologie, dem Film. Überraschenderweise sah er gerade die
Architektur als Vorbild dafür. Dabei berief er sich auf die
Architekturtheorien der Jahrhundertwende, wobei er diese einerseits in ihrer
leibphänomenologischen Komponente bestätigte, andererseits sie dabei
gleichzeitig in ihrer ontologischen Dimension auch in Frage stellte.
Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Rezeption des Films
“tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates” entspreche,
“Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im
Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige
Staatsbürger erlebt.”
Diese Veränderungen analysierte Benjamin als den Übergang von der
kontemplativen Rezeption der Kunst zur zerstreuten, beiläufigen Rezeption
des Films durch die Massen. Die Ursache dafür sah er im veränderten
Wahrnehmungsmodus von der bloßen Optik hin zur taktilen Rezeption. Und er
glaubte, das Modell dafür in der von altersher üblichen Rezeption der
Architektur erkennen zu können. Wo diese immer schon “taktil und optisch”
war sowie in der Zerstreuung durch das Kollektivum erfolge, kann nach
Benjamin die Art der Wahrnehmung in der Architektur “kanonischen Wert”
haben für das neu sich konstituierende Verhältnis der Massen zum Kunstwerk
im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.
Benjamins Vorstellung einer gemischt optischen wie taktilen Wahrnehmung kann
einerseits auf den Einfluss der Ästhetik der Aufklärung zurückgeführt
werden, ganz konkret auf Moses Mendelssohns Ästhetik der “vermischten
Empfindungen”. Mendelssohns doppelte Ausrichtung der Ästhetik auf das
Schöne und Erhabene verbindet sich ja unmittelbar mit Benjamins Konzept des
Optischen und Taktilen, wobei das Erhabene Mendelssohns wie das Taktile
Benjamins eine starke leibphänomenologische Komponente
besitzen. Andererseits jedoch stehen Benjamins gemischte Empfindungen
unzweifelhaft auch in unmittelbarem Bezug zur Architekturtheorie der
Jahrhundertwende, besonders Paul Klopfers Theorie des “Tastbildes”,
des “Tastraumes” und des “Raumtastbildes”.
In Abkehr von einer weitgehend in ihrer Zeichenhaftigkeit sich
artikulierenden Stilarchitektur versuchte Klopfer mit seinem Konzept, in dem
optische und taktile Erfahrung ineinander verschränkt sind, die Architektur
in einem starken leibphänomenologischen Bezug zu definieren. Daher der
Begriff des Raumtastbildes. Mit der Entsprechung zwischen Raum und Leib, ist
es jetzt nicht mehr die Zeichenhaftigkeit der Ornamente und Stilformen
sondern der Raum, der zum Medium der Architektur wird. Es ging darum, die
Architektur unter den neu entstandenen Rahmenbedingungen der Massenkultur
neu zu definieren und der elitären Zeichenhaftigkeit der klassizistischen
Architekturtheorie den Rezeptionsmodus des neuen Massenpublikums
entgegenzustellen.
Gerade hier treffen sich Benjamin und Klopfer: Dem Rezeptionsmodus der Masse
entspricht, wie Benjamin formulierte, der der Zerstreuung und der Gewohnheit
durch eine taktile Rezeption. Taktilität heißt hier jedoch nicht eine über
den Tastsinn, also den Hautsinn vermittelte Erfahrung, sondern die Auslösung
einer physiologischen Reaktion im Betrachter durch die Reizübermittlung des
optischen Sinns. Daher konnte Benjamin ganz auf die Schockwirkung des Films
setzen. Das ist die neue Qualität, das ist die angemessene Art der Wirkung
und die Macht des Films auf ein nur noch zerstreutes, die Kunst beiläufig
nur rezipierendes Publikum. Einerseits heißt das jetzt, dass darin das neue
technische Medium Film das alte Medium Architektur übertrifft. Andererseits
wird aber deutlich, dass es sich hier um Rezeptionsformen in Abhängigkeit
vom jeweiligen kulturellen Kräftefeld handelt, dass es sich bei den
spezifischen Rezeptionsformen weder des Filmes noch der Architektur um
“natürliche Einstellungen” handeln kann und sie daher kaum für
ontologische Letztbegründungen tauglich sind.
Wo unsere Wahrnehmungsweisen immer nur bedingt sind, ist jetzt mit Benjamin
ein genereller Vorbehalt gegen jede innerhalb der Kultur als natürlich
erscheinende Wahrnehmungsweise einzufordern. Dass Benjamin sich dessen
bewusst war und in dieser Beziehung den neuen Technologien einiges an
Misstrauen entgegenbrachte, zeigt seine Analyse des Missbrauches der neuen
Medientechnologien wie Radio und Film durch den Faschismus. Darauf
einzugehen ist hier allerdings nicht der richtige Ort. Im Folgenden gilt es
allerdings, diesen generellen Vorbehalt dem Phänomen des Raumes gegenüber
geltend zu machen und in Bezug auf die aktuelle Problematik der Architektur
im Kontext des digitalen Paradigmenwechsels in Anschlag zu bringen.
Architektur als symbolische Form
War das Anliegen bisher, die Raumwahrnehmung in ihrer spezifischen Dynamik
kenntlich zu machen, so soll jetzt im zweiten Teil das Verhältnis von
Architektur und Technologie näher bestimmt werden. Dies scheint im ersten
Augenblick von der Problematik des Raumes wegzuführen, bildet aber die
Grundlage für die weitere Diskussion des architektonischen Raumes im
Zeitalter seiner Virtualisierung. Die hier vorzutragende These ist, dass das
Problem der Ontologisierung der Architektur in den Kategorien des Raumes
daher so problematisch ist, weil es nicht nur die jeweils neuesten
Technologien als entscheidenden Faktor ignoriert, mit denen wir unser
Verhältnis zur Welt jeweils aufs Neue definieren, sondern weil es die
kulturelle Funktion der Architektur schlechthin in Frage stellt.
Was das Verhältnis von Architektur und Technologie und die kulturelle
Funktion der Architektur anbelangt, lässt sich dieses in der
Gegenüberstellung der heutigen Situation mit ihrer Vorgeschichte in der
frühen Moderne sichtbar machen. Denn ähnlich zur Situation heute
konstituierte sich auch die Architektur der Moderne unter dem Einfluss eines
technologischen Paradigmenwechsels. Während wir heute vom digitalen
Paradigmenwechsel sprechen können, war es um die Wende zum 20. Jahrhundert
der produktivistische Paradigmenwechsel und die Maschinenproduktion, die mit
der ihnen eigenen Rationalität auf den unterschiedlichsten Ebenen ins
Alltagsleben einwirkten und letztendlich zur Krise der bürgerlichen Kultur
führten.
Zwei Alternativen boten sich zur Lösung an. Eine davon ist unter dem Namen
des l’art pour l’art bekannt. Dahinter verbirgt sich der
weitestgehende Rückzug der Künste aus ihrer Einbindung in das Alltagsleben.
Unter Aufgabe ihrer unmittelbaren Wirkungsmacht bedeutete dies ihr
gänzliches Aufgehen in den ästhetischen Welten der Einzelkünste. Beispiele
dafür sind der Jugendstil im Allgemeinen und der Kreis um Stefan George im
besonderen. Die dazu konträre Alternative hat ihren prominentesten
Fürsprecher dagegen in Theodor W. Adorno. Dieser formulierte in seinem Buch
Ästhetische Theorie, dass allein die Anlehnung der künstlerischen
Praktiken an die vorherrschenden Produktionsverfahren die einzige
Möglichkeit darstelle, mit der die Künste, in einer von der instrumentellen
Vernunft der Maschinenproduktion geprägten Zeit, ihrer gesellschaftlichen
Marginalisierung entkommen könnten. In der Abwendung von der
Objektorientierung und der Hinwendung zum Verfahrenscharakter der
künstlerischen Praktiken sah er den entscheidenden Beitrag der Avantgarde
der Moderne.
Auf sehr pointierte Weise brachte er dies auf die Formel von der
Notwendigkeit zur Mimesis, das heißt zur Angleichung der künstlerischen
Verfahren ans “Verhärtete und Entfremdete”
der Maschinenproduktion. Das schloss beides ein, sowohl die Übernahme der
neuen Materialität – für die Architektur sind das hauptsächlich Stahl, Glas
und Beton – wie auch die Adaption der produktivistischen Verfahrensweisen
selbst. Die Impulse, die davon auf die Künste übergingen, mündeten in deren
Neuausrichtung im Übergang von der Fixierung auf das künstlerische Objekt
hin zu den künstlerischen Verfahren selbst. Vor dem Hintergrund der
Standardisierungs-, Typisierungs- und Serialisierungsverfahren fand dies in
den Künsten seinen Niederschlag in den Montage-, Collage- oder
Frottagetechniken. Peter Bürger hat dies sehr eindrücklich in seinem Buch
Theorie der Avantgarde beschrieben. Für die Architektur dagegen wurde
dies zum Anlass neuer konstruktivistischer Entwurfsstrategien, wie diese aus
dem russischen Konstruktivismus, De Stijl oder auch vom Bauhaus bekannt
sind.
Um der Marginalisierung im neuen, von der instrumentellen Vernunft der
Maschinenproduktion geprägten kulturellen Kontext zu entgehen, sind nach
Adorno die Künste und die Architektur gezwungen, irgendwie die neuen
Technologien in sich aufzunehmen, ohne sich ihnen jedoch bis zur
Unkenntlichkeit gleichzumachen. “Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete”
bedeutet Angleichung an den Verfahrenscharakter und nicht mehr Mimesis ans
Objekt. Die Technik der Mimesis an die Verfahren wird dadurch gleichzeitig
auch als eine Technik der Distanz gegenüber den Objekten, den
Hypostasierungen des Lebens sichtbar.
Tatsächlich verstand Adorno, in spezifisch dialektischer Wendung, in der
mimetischen Angleichung weder das völlige Aufgehen der künstlerischen
Praktiken in den Verfahren der Technologie noch in der Lebenspraxis.
Andernfalls wäre sie nur naive Mimesis, das heißt “schnöde Verdoppelung
des Unheils”.
Nur aus der kritischen Distanz zur zunehmend unheimlichen Gegenwart schien
ihm die Kunst ihre Qualität als Modell besserer Praxis bewahren zu können.
Somit verband sich für Adorno mit der Kunst keineswegs, wie für Benjamin,
jener Prozess, den Bürger später als “Überführung der Künste in
Lebenspraxis”bezeichnete. In einer solcherart konzeptualisierten
Dissolution der Künste in den Lebensalltag, dazu noch auf mechanistischer
Grundlage, hätte Adorno nichts weniger als ihre Instrumentalisierung durch
die Kulturindustrie gewittert.
“Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete” wird für die Avantgarde zu
einer der entscheidenden Strategien der Konzeptualisierung der Künste.
Dadurch wird auch jene Formulierung Adornos verständlich, in der er
erklärte, dass das Neue in der Moderne das "ästhetische Signum der
erweiterten Reproduktion"
sei. Das Neue sei eben immer von der Sache her erzwungen, die anders nicht
zu sich selbst kommen könne. Entscheidend für die Architektur dürfte Adornos
Erkenntnis sein, dass die Aufnahme der fortgeschrittensten Technologien in
den Gehalt der künstlerischen Disziplinen weder subjektivistischen Vorlieben
noch einem reinen Fortschrittsglaube folge noch allein den Gesetzen der
Ökonomie. Die Aufnahme der technologischen Verfahren in den Gehalt der
künstlerischen Praktiken, so Adorno, sei also keineswegs einem bloßen
Up-to-date-sein zu verdanken, sondern der kulturellen Funktionsweise
der Künste selbst geschuldet.
Für das digitale Zeitalter, so wäre hier zu ergänzen, gilt nichts weniger.
Auch hier entsteht das Neue nicht aus einer subjektivistischen Laune,
sondern im Kontext des digitalen Paradigmenwechsels aus einer kulturellen
Notwendigkeit heraus. Damit soll natürlich nicht behauptet werden, das
digitale Zeitalter sei nur eine Verlängerung oder Potenzierung des
mechanistischen Zeitalters. Die Frage ist dagegen, was denn im Zeitalter des
digitalen Paradigmenwechsels Mimesis an die neuen Technologien bedeutet, wo
diese geradewegs ins Nichts des virtuellen Raumes, also buchstäblich ins
Leere führt. Selbst eine produktionsästhetische Ausrichtung scheint im
Zeitalter einer mühelosen, zwischen Original und Kopie nicht mehr
unterscheidenden Vervielfältigungstechnik kaum mehr aktuell. Im Zeitalter
des digitalen Paradigmenwechsels wird die Notwendigkeit sichtbar, Adornos
Begriff der Mimesis selbst neu zu konzeptualisieren.
Dafür bietet sich Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen
an. Mit ihr gelingt es, wie gezeigt werden soll, Adornos Ansatz einer
kritisch-utopischen Praxis der “Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete”
zu erweitern und dem Raum, nicht nur metaphorisch das ihm im Zeitalter des
digitalen Paradigmenwechsels zukommende Gewicht zu verleihen.
Cassirer zufolge sind diejenigen kulturellen Formen als symbolisch zu
bezeichnen, in denen Sinn und Sinnlichkeit in einer Weise vereinigt werden,
so dass im Sinnlichen zugleich Sinn, d. h. das Vernünftige gegeben ist und
umgekehrt im Vernünftigen auch ein Sinnliches erscheint. Symbolische Formen
besitzen also die Fähigkeit, das Rationale und Funktionale mit dem
Sinnlichen zu verbinden. Trotz ihrer Autonomie versteht Cassirer jede
symbolische Form als Matrix der Kultur, in der – fast schon hypertextartig –
die verschiedensten kulturellen Praktiken sich vielfältig kreuzen und im
gegenseitigen Austausch aufeinander bezogen sind.
Alles deutet also darauf hin, in der Architektur, in ihrer Räumlichkeit und
Materialität, im Sinne von Cassirer eine solche symbolische Form zu
erkennen. Denn es gibt wohl kaum eine andere kulturelle Praxis, die
unmittelbarer das Rationale mit der Sinnlichkeit, die Funktionalität mit der
Stofflichkeit verbindet und die zur Aufnahme der technischen Realität in den
sinnlich-ästhetischen Gehalt der Kultur fähiger wäre als die Architektur.
Wichtig ist nun, dass Cassirer Adornos Verengung der Theorie der Künste auf
eine Dialektik zwischen autonomer Kunst und Alltagswelt sprengt. Hier findet
die Öffnung hin zu einem pluralistisch konzipierten Kulturmodell statt.
Jetzt gewinnen all jene kulturellen Praktiken an Aktualität, die bisher im
dialektischen Schema zwischen hoher und niedriger Kultur schwer zu
platzieren waren, wie zum Beispiel die Architektur. Als symbolische Form
wird die Architektur als einzig intersubjektive kulturelle Instanz sichtbar,
in der die Vermittlung von Technologie und Leibphänomenologie, von Politik
und Kunst, Ökonomie und Soziales gelingen kann. Die Architektur wird so
offen für neue Zwischenformen, d. h. offen für neue Formen kultureller
Mimesis. Seine besondere Bedeutung erhält dies mit den neuen Zwischenformen,
die im Kontext der zu beobachtenden Verschiebung der kulturellen Dominante
heute von der modernistischen Objektproduktion zur postindustriellen
Bilderkonsumtion und ihrer Liquidisierung der Grenzen zwischen Objekt- und
Bilderwelt entstehen.
Von der virtuellen Realität zur virtuellen Materialität
Im Kontext des Themas – der Rekonzeptualisierung des architektonischen
Raumes im Zeitalter seiner Virtualisierung – sollen in diesem dritten und
letzten Teil nun konkrete Beispiele für die neuen Formen kultureller Mimesis
aufgezeigt werden. Ausgangspunkt dafür ist die weiter oben gewonnene
Einsicht, dass es für die Architektur heute keine Alternative zur Aufnahme
der technologischen Potenziale in ihren Gehalt gibt. Die allgemeine
Problematik des Verhältnisses der künstlerischen Disziplinen zu den neuen
digitalen Technologien hatte Konrad Paul Liessmann schon Mitte der neunziger
Jahre mit der Feststellung auf den Punkt gebracht, dass ja noch lange nicht
jede digitale Illusion am Bildschirm eine ästhetische Erfahrung sei. Seine
Kritik galt der Selbstzufriedenheit der Protagonisten der ersten digitalen
Avantgarde in den Künsten und der Architektur, wie zum Beispiel Greg Lynn,
Stephen Perrella und anderen. In der Beliebigkeit ihrer künstlerischen
Verfahren und ihrem naiven Glauben an die Befreiung der Architektur im
virtuellen Raum seien deren künstlerische Produktionen nicht viel mehr als
“Jahrmarktattraktionen”. Dennoch fügte er hinzu, dass dieses nicht
heißen könne, dass sich aus “diesen technischen Potenzialen […] nicht
ästhetische Strategien gewinnen ließen”.Wie
hier gezeigt werden soll, scheint nun in der Praxis des japanischen
Architekten Jun Aoki ansatzweise eine solche Übertragung der neuesten
technischen Potenziale in ästhetische, hier konkret in
architektonisch-räumliche Strategien zu gelingen.
Dass heute für die Rekonzeptualisierung des Raumes die vielleicht
entscheidenden Impulse aus Japan kommen, dürfte in der spezifischen
Affinität der Virtualität der neuen Technologien zur japanischen Ästhetik
des Verschwindens, d. h. der zen-buddhistisch und damit nihilistisch
geprägten Ästhetik Japans liegen. Ausgangspunkt für Aoki ist in der Tat das
traditionelle japanische Raumkonzept, der Zwischenraum ma, mit dessen
Rekonzeptualisierung die Aufnahme jener eigentümlichen Zwischenwelten in den
Gehalt der Kultur zu gelingen scheint, die heute durch die Verwischung der
Grenzen zwischen der materiellen Objektwelt und der immateriellen digitalen
Bilderwelt die klassischen Raumkonzepte herausfordern. Wo die erste digitale
Avantgarde noch ganz auf die Virtualität des digitalen Raumes setzte,
zeichnet sich bei Aoki eine höchst interessante Verschiebung des
architektonischen Interesses und der räumlichen Strategien ab: von der
virtuellen Realität hin zu den Verfahren der virtuellen Materialität. |
Abbildung 1
Louis Vuitton, Nagoya
Abbildung 2
Louis Vuitton, Nagoya
Abbildung 3
Louis Vuitton, Harajuku |
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Aokis Pavillon für Louis
Vuitton in Nagoya dürfte wohl einer der ersten Versuche gewesen sein, der
sich der Rekonzeptualisierung des architektonischen Raumes im Kontext der
neuen digitalen Technologien stellte. Das gilt auch dort, wo das Gebäude dem
ersten Anschein nach der These von der Rekonzeptualisierung des
architektonischen Raumes zu widersprechen scheint und zwar insofern, als es
sich formal als ein einfaches Volumen, eine einfache Box präsentiert. Bei
näherer Betrachtung wird jedoch sichtbar, dass das Gebäude aus zwei Volumen
besteht, einem inneren, der eigentlichen Funktionsfläche, und einem äußeren,
das den Innenraum wie eine Art Mantel umgibt. Tatsächlich besteht die
Fassade aus zwei Schichten im Abstand von etwa zwei Metern. Die äußere
Schicht ist aus Glas und durchsichtig, die innere dagegen opak. Beide sind
jedoch mit demselben Karomuster bedruckt. Aufgrund der räumlichen Distanz,
die die zwei Ebenen voneinander haben, entsteht so, je nach Blickwinkel und
Lichtverhältnisse, ein Moiré-Effekt auf den Oberflächen. Dabei ist die
äußere Schicht tagsüber aktiver, dann scheint durch den Moiré-Effekt der
ganze Pavillon wie in einen durchsichtigen, diagonal gestreiften Stoff
gehüllt, während abends, bei künstlicher Beleuchtung, der Moiré-Effekt auf
der hinteren Ebene zur Erscheinung kommt, die dann wie mit Leder bezogen
wirkt. Der Effekt ergibt sich freilich nur aus der Distanz, tritt man näher,
so löst sich die Illusion auf. Fassbar bleiben nur Glas und Stahl. In der
stofflich-materiellen Erscheinung der Architektur im Moiré-Effekt haben wir
es also mit einem rein visuellen und im eigentlichen Sinne durchaus
virtuellen Ereignis zu tun, mit einer Art virtuellen Materialität.
Einen ähnlichen Effekt
erzielt Aoki auch bei seinem Louis-Vuitton-Gebäude in Tokios
Harajuku-Viertel, jedoch auf sehr viel abstraktere Art und Weise. Hier sind
es verschiedene Metallgewebe, die, getrennt durch einen Zwischenraum, in der
optischen Überlagerung einen kontinuierlich sich ändernden Stoffcharakter
erzeugen, der manchmal satiniert und weich, andere Male wieder
semitransparent und silbrig-metallisch wirkt. Von Bedeutung in unserem
Kontext ist, dass Aoki auf die Applikation technischer Elemente verzichtet.
Es gibt hier keine Plasmabildschirme oder computergesteuerte Programme, die
die Fassade dynamisch, sei es durch künstliches Licht oder mechanisch, in
Bewegung halten, noch kann man, selbst wo die Fassade sich permanent zu
verändern scheint, von einer Interaktivität der Fassade sprechen.
Tatsächlich bedient sich Aoki ausschließlich einfacher architektonischer
Mittel. Einerseits ist dies die natürlicherweise dynamische Beziehung, die
der Betrachter je nach Abstand zum Gebäude hat, während das zweite Mittel
eine einfache architektonische Erfindung ist: die Ausbildung der Fassade als
Volumen, als Zwischenraum. Die Erscheinung der Gebäude in ihrer jeweils
spezifischen, im eigentlichen Sinne eben virtuellen Materialität, ist ein
Effekt der Aktivierung des Fassadenzwischenraumes. Von ihm hängt der
Moiré-Effekt ab und erst in zweiter Linie von der dynamischen Beziehung des
Betrachters zum Gebäude.
Im Sinne der von Benjamin konstatierten Beobachtung, dass aus den jeweils
neuen Technologien neue Wahrnehmungsweisen, mithin neue Formen kultureller
Praxis resultieren, präsentiert sich Aokis Architektur als durchaus
emanzipierte Reaktion auf die neue digitale Medienästhetik und ihre neue
Sichtbarkeit. Mit der Flüchtigkeit der stofflichen Erscheinung und der
Virtualität der Materialität reagiert Aoki auf die neue Sensibilität der
Sinne, die neue Visualität und veränderte Wahrnehmungsweise, die sich im
Video- und Computerzeitalter eingestellt haben. Das ist aber nur die eine,
dem Zeitgeist und dem globalen technologischen Wandel zugewandte Seite,
dessen dialektischer Gegenpart die optische Aktivierung des
Fassadenzwischenraumes ist, mit der Aoki die Verbindung zur traditionellen
japanischen Ästhetik herstellt. Es ist das Ma, jener mysteriöse
Zwischenraum, der ein essentieller Bestandteil der japanischen Kultur ist,
den Aoki im Zeitalter der neuen Medienästhetik neu interpretiert. Ma
bezeichnet jenen nicht messbaren Raum, der falsch verstanden wäre, wenn man
in ihm nur den mathematisch nicht weiter aufgehenden Rest komplexer
räumlicher Figuren erkennen wollte. Ma steht zum Beispiel in den
japanischen Tuschezeichnungen für jene räumlich undefinierbaren Flächen, die
zwischen den zu perspektivischer Wirkung gestapelten Bildmotiven
übrigbleiben, ma erscheint aber auch im Alltag als Form einer nicht
näher definierbaren sozialen Distanz oder in den Techniken der
Entmaterialisierung in den klassischen Handwerkstechniken, wie zum Beispiel
den Lacktechniken; letztendlich muss man im Zwischenraum ma eine der
Erscheinungsformen der zen-buddhistischen Ästhetik des Verschwindens
erkennen.
Mit der Technik der Virtualisierung der Materialität, d. h. der
Scheinhaftigkeit des Materials steht die Architektur Aokis jedoch auch im
größeren kulturgeschichtlichen Kontext der Moderne. Interessanterweise
knüpft Aokis Architektur in ihrer Dialektik zwischen weicher äußerer
Erscheinungsform und den im Inneren vorherrschenden, scharfkantigen Formen
direkt an die von Benjamin für das 19. Jahrhundert beschriebene
Warenästhetik an, gleichsam in deren Umkehrung. Mit seinem Raumkonzept, das
der Idee eines umgestülpten Handschuhs folgt, präsentiert sich der Pavillon
in Nagoya gerade in Umkehrung zur Etui- und Futteralkultur, wie sie Benjamin
in seinem Passagenwerk für das 19. Jahrhundert so eindrücklich beschrieben
hatte. Charakteristisch für das fin de siècle waren für Benjamin die
mit Seide und Samt überquellend ausgeschlagenen Etuis, Kästchen, Schachteln
und Schatullen, die ganz im Dienste der Fetischisierung der Waren standen.
Die Etui-Kultur des ausgehenden bürgerlichen Jahrhunderts muss als Versuch
verstanden werden, suggestiv dem durch die Massenproduktion drohenden
Verlust der Aura der Gegenstände vorzubeugen. Standen in ihrer dunklen
Sensualität die kostbaren Etuis und Schatullen allegorisch für den
zeittypischen bürgerlichen Rückzug in die Innerlichkeit, so scheint Aokis
Architektur dagegen – mit ihrer seltsamen räumlichen Inversion –
repräsentativ zu sein für das postindustrielle Zeitalter und seine
aufzehrende Verausgabung in den Oberflächenerscheinungen der digitalen
Bilder.
Benjamins Analyse des fin de siècle bietet in Bezug auf Aokis
Pavillon jedoch den Hintergrund für eine weitere Einsicht. Gerade in Bezug
auf die Ephemerität der materiellen Erscheinung von Aokis Pavillon in Nagoya
betrifft dies die Aura der Dinge. Benjamins Aura-Begriff macht ja eines aus:
die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des Erlebten, die nach Benjamin
einer Wirklichkeitserfahrung entspricht, die nur an diesem Ort, zu
dieser Zeit erfahren werden kann. Benjamin nannte es das “Hier und
Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich
befindet.”Und:
“An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem
Zweig folgend, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die
Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.”Damit
ist aber die Aura nicht nur durch Ort und Zeit bestimmt, sondern sie
bezeichnet die Art und Weise, wie der Betrachter räumlich wechselseitig bei
den Dingen und gleichzeitig bei sich selbst ist. Es ist damit jener
eigenwillige, nicht weiter definierbare Zwischenraum erfasst, ohne den es am
Ende keine eigentliche Beziehung zu den Dingen gibt und ohne den der Bezug
zur Welt nur unbeteiligte, distanzierte Erfahrung und bei Abzug des Körpers
nur reine Information bliebe.
Aufgrund der Maschinenproduktion und des allgemein Gleichartigen in der Welt
verschwinden nach Benjamin in der Moderne die letzten Reste der
ursprünglichen künstlerischen Aura der Werke. Durch die
Reproduktionstechniken ist die singuläre Stellung der Kunst betroffen. Und
doch, wie ansatzweise am Beispiel von Aokis Gebäuden zu zeigen wäre, könnte
die Aura heute im postindustriellen Zeitalter wieder zurückkehren. Denn mit
der Ephemerität und Momentanität der Erscheinung von Aokis Architektur
stellt sich die Frage, ob für die Architektur heute nicht wieder ein
auratisches Moment
veranschlagt werden müsste, wo doch die singuläre und individuelle Erfahrung
eines der entscheidenden Kriterien der Begegnung mit ihr ist. War unter den
Bedingungen der modernistischen Reproduktionsformen die Aura, das Hier und
Jetzt der Erfahrung, verloren gegangen, so scheint sie bei Aoki mit der
Rekonzeptualisierung des durchaus dem Ephemeren verbundenen ma wieder
in die Werke zurückzukehren, mit einer Änderung: sie erscheint nicht mehr
als ein Natürliches und verbürgt so keineswegs mehr die Echtheit der Sache.
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Literaturverzeichnis:
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Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur (1886), Berlin 1999.
Bildnachweis:
Abbildungen 1 - 2 (Louis Vuitton, Nagoya): Jun Aoki & Associates
Abbildungen 3 - 7 (Louis Vuitton, Harajuku und Roppongi): Jörg H. Gleiter
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