Gebaute Räume
Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt

9. Jg., Heft 1
November 2004
   

 

___Karsten Harries
New Haven
  Aus- und einräumendes Bauen.
Unser zwiespältiges Verlangen nach Freiheit und Geborgenheit

 

   

1


Was soll der Titel: aus- und einräumendes Bauen? Ausräumen schafft oder besser noch befreit den Raum, dadurch vielleicht, dass jemand Gerümpel aus einem Keller herausträgt oder ein Dieb ein Schaufenster einschlägt und es dann ausräumt. Wir sprechen auch vom Ausräumen von Missverständnissen oder Zweifeln. Solches Ausräumen erlaubt ein aufgeschlosseneres Miteinandersein. Und ist solche Offenheit nicht Voraussetzung jeder eigentlichen Begegnung?

Aber was hat das mit Architektur zu tun? Architektur will doch den Raum gerade nicht befreien, sondern binden, ihn eingrenzen. Ist es nicht Aufgabe der Architektur, den Menschen Räume und Plätze zu schenken, Bauten, in denen sie sich zu Hause fühlen können, die sie den in seinem Wesen unheimlichen Raum vergessen und sie so wohnen lassen? Hat Bauen nicht diesem Raum wohnliche Räume abzuringen? Und ist nicht Voraussetzung jedes Ausräumens ein irgendwie schon eingeräumter Raum? Ausräumendes Bauen? Ist das nicht Unfug?

Zwei Bedeutungen von Raum spielen hier durcheinander. So verstehen wir unter Raum erst einmal die Weite oder Ausdehnung, die Voraussetzung jeder Körpererfahrung ist, auch jedes Ein- und Ausräumens. Ist es nicht dieser Raum, dessen Wesen Galilei, Descartes und Newton philosophisch, mathematisch und physikalisch zu begreifen versuchten? Solch ein Begreifen kann allerdings diesen Raum nicht ergreifen, sondern ersetzt ihn mit einer von uns verfügten und verfügbaren Konstruktion. Müssen wir nicht, mit Kant, den grenzenlosen Raum, zusammen mit der Zeit, als den immer schon irgendwie mitanwesenden, doch sich unserem Begreifen entziehenden Hintergrund alles Geschehens, und das heißt auch, alles Bauens, verstehen?

Das Wort “ausräumen” jedoch lässt uns Raum erst einmal anders verstehen: als Sammelwort für etwas, meist durch Bauen, Begrenztes: ein Zimmer, z. B. ein Haus oder ein Platz. Aber auch Lichtungen und Landschaften wie das Nördlinger Ries sind Räume. Solche Räume können ausgeräumt werden. Dies wiederum setzt so etwas wie ein Einräumen voraus.

Aber wenn ich hier vom Ausräumen als einem Befreien des Raumes oder von einem ausräumenden Bauen spreche, denke ich Raum im ersten Sinne als grenzenlose Weite, die uns jede Heimat verweigert, denke also ein Bauen, das das Gebaute diesem unheimlichen Raum öffnet. Aber heißt das nicht der eigentlichen Aufgabe der Architektur, uns nicht nur physisch, sondern auch geistig Obdach zu schaffen, uns ein Heim zu geben, zu widersprechen? Wäre eine solche ausräumende Architektur nicht eine gegen Architektur gerichtete Architektur, eine Anti-Architektur also? Was soll eine solche Architektur? Ich werde Ihnen die Antwort erst einmal schuldig bleiben. Aber die Tatsache, dass solche Anti-Architektur in Theorie und Praxis heute eine große Rolle spielt, wie ja auch das Unheimliche und das Erhabene, gibt der Frage Relevanz. Joseph Addisons Satz “ein offener Horizont ist ein Bild der Freiheit
[1] gibt uns hier einen Fingerzeig. Vereinfachend gesagt: Ausräumendes Bauen will das Erhabene, einräumendes Bauen das Schöne.

Befremdet der Ausdruck ausräumende Architektur erst einmal, so sagt einräumende Architektur schon mehr. Das Einräumen einer Wohnung macht sie wohnlich. Einräumendes Bauen wäre dann ein Bauen, das uns die Welt einräumt und sie so wohnlicher oder heimeliger macht. Etwas einräumen heißt auch jemand etwas zugestehen, ihm entgegenkommen, aber so, dass wir ihm den nötigen Raum lassen. Solch ein Zugeständnis baut Brücken zu unseren Mitmenschen, stiftet Gemeinschaft. Auch so verstanden macht das Einräumen die Welt wohnlicher.

Besonders viel wird das Wort “einräumen” denen sagen, die ihm in Heideggers “Sein und Zeit”, “Bauen Wohnen Denken” oder “Kunst und Raum” begegnet sind. Nach Heidegger geschieht das Einräumen “in der zwiefachen Weise des Zulassens und des Einrichtens”:
Einmal gibt das Einräumen etwas zu. Es lässt Offenes walten, das unter anderem das Erscheinen anwesender Dinge zulässt, an die menschliches Wohnen sich verwiesen sieht.
Zum anderen bereitet das Einräumen den Dingen die Möglichkeit, an ihr jeweiliges Wohin und aus diesem her zueinander zu gehören.
[2]

Einräumen nennt nach Heidegger den Grundcharakter alles Räumens. Räumen “meint: Roden, die Wildnis freimachen. Das Räumen erbringt das Freie, das Offene für ein Siedeln und Wohnen des Menschen”.
[3] Räumen, gedacht als “Freigabe” oder “Gewähren” von Orten und Dingen, gibt Menschen den nötigen Raum.

Raum, Rum heißt freigemachter Platz für Siedlung und Lager. Ein Raum ist etwas eingeräumtes, Freigegebenes, nämlich in eine Grenze, griechisch péras. Diese Grenze ist nicht das wo etwas aufhört, sondern wie die Griechen erkannten, von woher etwas sein Wesen beginnt. Darum ist der Begriff horismos, d. h. Grenze. Raum ist wesenhaft das Eingeräumte, in seine Grenze Eingelassene. Das Eingeräumte wird jeweils gestattet und so gefügt, d. h. versammelt durch einen Ort, d. h. durch ein Ding von der Art der Brücke.
[4]


Das Bauwerk, hier in “Bauen Wohnen Denken” eine Brücke, gibt Raum. Ganz ähnlich heißt es in “Kunst und Raum” von einer Plastik, sie wäre “die Verkörperung von Orten, die, eine Gegend öffnend und sie verwahrend, ein Freies um sich versammelt halten, das ein Verweilen gewährt den jeweiligen Dingen und ein Wohnen dem Menschen inmitten der Dinge.”
[5] So verstanden ist Raum wesentlich wohnlich. In ihm sind wir immer schon irgendwie zu Hause. Hier wird Raum nicht mehr verstanden als Voraussetzung von all den Dingen und Orten, die uns begegnen können, sondern umgekehrt: Erst das freigebende Einräumen gibt Raum: “Der Ort befindet sich nicht im vorgegebenen Raum nach Art des physikalisch-technischen Raumes. Dieser entfaltet sich erst aus dem Walten von Orten einer Gegend.”[6]

Zwei Raumbegriffe stoßen hier aufeinander: Der eine gründet in der Raumerfahrung unseres alltäglichen In-der-Welt-Seins. Was uns Raum erschließt, ist unser Umgang mit Menschen und Dingen. So verstanden, lässt uns jeder Raum immer schon irgendwohin gehören. Erst einmal sind wir in unserer Welt zu Hause. Zunächst und zumeist ist Welt Umwelt, Raum, Umraum, der uns Handlungsmöglichkeiten eröffnet, umschreibt und begrenzt.  Und so versteht Heidegger Einräumen als ein das Wesen des Menschen bestimmendes Existenzial: Raum hat sich uns immer schon irgendwie erschlossen, aber zunächst nicht als freie Weite, sondern als immer schon irgendwie eingeräumt, und das heißt Menschen und Dingen ihre verschiedenen Plätze anweisend, sie immer schon irgendwie bindend.
[7] Erst “auf dem Boden der so entdeckten Räumlichkeit”, meint Heidegger, “wird der Raum selbst für das Erkennen zugänglich.”[8]

“Der Raum selbst”: damit sind wir bei dem anderen Raumbegriff. Der Weg, der uns vom einen zum anderen Raumbegriff führt, ist ein Weg der immer entschiedeneren Befreiung von dem Platz und den Perspektiven, die unser körpergebundenes, und das heißt auch ort- und zeitgebundenes, natur- und gesellschaftsgebundenes, Sehen und Verstehen zunächst bedingen. Tätigkeiten wie Hausbau und Landvermessung sind hier ein erster Schritt:
Mit dieser noch vorwiegend umsichtigen Thematisierung der Umwelträumlichkeit kommt der Raum an ihm selbst schon in gewisser Weise in den Blick. Dem so sich zeigenden Raum kann das reine Hinsehen nachgehen unter Preisgabe der vordem einzigen Zugangsmöglichkeit zum Raum, der umsichtigen Berechnung. Die „formale Anschauung des Raumes entdeckt die reinen Möglichkeiten räumlicher Beziehungen
[9].

Aber ist eine solche Befreiung von allem was unser Sehen und Verstehen verunreinigen könnte nicht Forderung jeder Wahrheitssuche? Schon das reine Hinsehen, das sehen will, nur um zu sehen, macht uns freier. Schon hier geht der Mensch nicht mehr “in der besorgten Welt auf.” Nicht mehr an die Werkwelt gebunden, wird unsere Umsicht frei. Den so befreiten Menschen zieht es jetzt in die Ferne.
[10] Das Fernweh, die Neugier, die Lust zu sehen, nur um zu sehen, zu verstehen, nur um zu verstehen, die Aristoteles als Anfang aller Theorie und Wissenschaft verstand, gibt Flügel, lässt den Menschen seine Umwelt überfliegen, lässt ihn von anderen Welten träumen. Neugier, Freiheit und Verlust von Heim und Heimat gehören zusammen. Und so steht hinter meinem Titel “Aus- und einräumendes Bauen” der Zwiespalt von Fernweh und Heimweh, der auch die Architekturtheorie der letzten Jahrzehnte durchherrscht und auf den der Untertitel meines Vortrags hinweist: “Unser zwiespältiges Verlangen nach Freiheit und Geborgenheit.”



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Ausräumende Architektur, so sagte ich, sei eine gegen Architektur gerichtete Architektur, eine Anti-Architektur also, und als solche spiele sie in der heutigen Architekturwelt, in Theorie und Praxis eine Rolle. Dabei dachte ich unter anderem an zwei gerade erhaltene Einladungen, mich mit Beiträgen an Katalogen zu Ausstellungen in Barcelona und Bilbao sowie in Pittsburgh zu beteiligen. Beide Ausstellungen zeigen ausräumende Architekturen, die jedes einräumende Bauen in Frage stellen. Die eine, mit dem Titel “Die Stadt, die es niemals gab – Fantastische Architekturen in der Kunst des Abendlandes”, zeigt Werke aus zwei Jahrtausenden, von pompejanischen Fresken zu Werken der letzten Jahre, hauptsächlich von iberischen und englischen Künstlern. Aber nicht unerwartet stehen Maler des Manierismus und des Barock im Mittelpunkt, wie z. B. der Architekt, Dekorateur und Maler Hans Vredeman de Vries (1526-1606), dessen stilbildende Meisterschaft in der Kunst der Perspektive es ihm nicht nur erlaubte, fantastische Architekturen zu malen als Bilder einer utopischen Freiheit, sondern auch zu zeigen, wie Raum in das Gebaute eindringen kann, es aushöhlend oder ausräumend. Und leicht verwandelt sich bei Vries ein Bild der Freiheit in ein Bild des Schreckens.

Ich arbeitete an diesem Beitrag, als ich die zweite Einladung erhielt: zur Mitarbeit an einer Ausstellung von Werken von Lebbeus Woods. Wie gut seine Arbeiten in die spanische Ausstellung gepasst hätten – ist doch auch Woods ein Schöpfer von Raumfantasien, die die uns vertraute Architektur ausräumen, indem sie z. B. fantastische Gebilde in sie eindringen oder polypenartig umarmen lassen. So war ich nicht überrascht zu hören, dass Woods beim Besuch des Museums, in dem er diese Ausstellung zu besorgen hat, die hierarchische Organisation und herrische Sprache der Räume hervorhob. Heute ist eine solche Reaktion nicht unerwartet: hat Bataille uns nicht gelehrt, Architektur mit den befehlenden Stimmen von Menschen, die uns unseren Platz anweisen, zu verbinden mit Stimmen von Priestern, Königen, Bürgern, Kapitalisten, und Polizisten? Hat er uns nicht gelehrt, hinter jeder großen Architektur ein Gefängnis zu wittern?

Und nicht unerwartet ist eine solche Reaktion, denken wir an neue Technologien und die damit verbundenen Möglichkeiten, Räume und Welten zu schaffen, die ganz anders unseren dauernd sich ändernden Nöten und Wünschen entsprechen als die allzu fest eingeräumte Umwelt, die unser Erbe ist. Die Utopien, die solche Möglichkeiten versprechen, müssen den Ruf nach einer einräumenden Architektur, die das Primat der dem Körper und somit der Schwere unterworfenen Lebenswelt protestlos anerkennt, als unerträglich rückwärts blickend ablehnen, als zu bereit, kaum gewonnene Freiheit wieder aufzugeben, zu bereit, sich mit leblosen Imitationen der platz- und ortstiftenden Architektur einer nicht zu wiederholenden Vergangenheit zu begnügen.

Und weiter war solche Reaktion auf den vorgegebenen Raum gerade von diesem Architekten nicht unerwartet, hatte Woods doch der vielversprechenden Karriere, die ihm seine Mitarbeit mit Eero Saarinen eröffnet hatte, den Rücken gekehrt, um sich als Anarchitekt zu betätigen, sich ein Wort aneignend, in dessen Namen Gordon Matta-Clark, der einst, wie mit einem Beil, ein verwahrlostes Haus aufspaltete, 1973 eine Künstlergruppe um sich versammelte.

Lebbeus Woods entschloss sich, die vorgegebene Architektur durch die Einführung von in verschiedenen Winkeln in den Raum stoßenden Sperrholzplatten, die seine Zeichnungen und Modelle tragen sollen, und von den Raum durchspinnenden gebogenen Metallstangen so zu verwandeln und zu verwirren, dass der verunsicherte Besucher nicht mehr wüsste, wie er sich zu benehmen hätte. Mir stellt sich hier die Frage: warum gibt es heute dieses Verlangen, Architektur zu dekonstruieren, zu zerstören, sie auszuräumen, beunruhigende Räumlichkeiten zu schaffen, sie in eine von Menschen geschaffene Wildnis zu verwandeln? Wie erklärt sich die Anziehungskraft des Unheimlichen? Ist es der Fortschritt der Technik, der früheren Zeiten unbekannte Möglichkeiten eröffnet und ein Verlangen geweckt hat, das keine einräumende, erbauliche Architektur mehr erfüllen kann? Oder ist es, umgekehrt, eben diese Technik, die unsere Lebenswelt so fest umarmt, dass sie uns zu ersticken droht? Wie sollen wir den heute wieder so verführerischen Anspruch des Labyrinths, übersetzt in eine neue Sprache, verstehen?

Es wäre ein Fehler, hier nur zu betonen, was einen Künstler-Architekten wie Lebbeus Woods so zeitgemäß macht: wie sich sein Werk mit einer Welt auseinandersetzt, die uns, immer mehr außer Atem, den neuesten Entwicklungen nachlaufen lässt; vielleicht träumend, dass sich mit Hilfe der Elektronik Descartes’ Versprechen einer Wissenschaft, die uns zum Meister und Besitzer der Natur, auch unserer eigenen Natur, machen würde, einlösen lässt; dass jenes globale Dorf, das uns McLuhan verhieß und das wir in Entwürfen von Lebbeus Woods, wie ein Geschöpf einer anderen Welt, in Städte wie Zagreb, Berlin oder Wien eindringen sehen, die uns vertraute Welt auf ungeahnte Weise verwandeln wird. Aber diese Entwürfe erschrecken auch: Ist dies nicht ein Prozess, in dem wie alle mehr oder weniger verfangen sind, ist unsere Technik nicht so kompliziert geworden, dass sie, die doch Werkzeug sein sollte, heute die Menschen meistert? Kann der virtuelle Raum uns den Raum, können virtuelle Menschen und Dinge uns die Wirklichkeit ersetzen? Erschreckend auch sind Gedanken an Barbaren, die unsere Technik in den Besitz von Waffen gebracht hat, die es erlauben, Massen zu morden oder zu manipulieren.

Aber gehört auch das Werk von Lebbeus Woods in die heutige Welt und will es auch als kritische Auseinandersetzung mit ihr und mit unserer Architektur verstanden werden, so dürfen wir doch nicht vergessen, dass Widerstand gegen Architektur Architektur von Anfang an begleitet hat, eine lange Geschichte, die ihren immer wechselnden Ausdruck in Bildern von fantastischen Architekturen gefunden hat, die, wie es die spanische Ausstellung zeigt, doch als Variationen weniger Archetypen verstanden werden können.



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“Fantastische Architekturen” – darin steckt eine gewisse Spannung. “Architektur” nennt erst einmal die Baukunst, aber auch das dieser Kunst gemäß errichtete Werk. Im übertragenen Sinne nennt es alles, was auf festem Grund ruht und gut gebaut ist. So lieben besonders Philosophen der Architektur entlehnte Metaphern, und keiner mehr so als Descartes, der seine Methode gerne mit der von Architekten verglich. Die Wissenschaft und Technik, die unsere moderne Welt gestaltet haben, haben ihren Ursprung in der geistigen Architektur, die er bauen half.

“Fantasie” dagegen entzieht sich der Vernunft. Hier herrscht die Einbildungskraft, sie wiederum ist beherrscht von Lust und Ekel, Verlangen und Furcht. Was ihr entspringt, ist nicht fest Gebautes, sondern Erdichtetes, Traumvisionen, ungeboten sich aufdrängende Erscheinungen.

“Fantastische Architekturen”: das erinnert ein wenig an die immer wieder vergeblich versuchte Quadratur des Kreises, durch Jahrhunderte Metapher des ebenso vergeblichen Versuches, das unendliche Wesen Gottes zu begreifen. So bieten uns auch fantastische Architekturen immer wieder Bilder eines glückseligen Wohnens, in dem weder Vernunft noch Lustverlangen, weder Ordnung noch Freiheit, weder Geist noch Körper zu kurz kommen. Utopie erscheint hier als Eutopie, mit Thomas More verstanden als ein imaginäres Reich, in dem Vernunft, Freiheit und Zufriedenheit alles Widrige vertrieben haben. Nun hat Utopie, dieses imaginäre und nirgendwo existierende Reich nicht nur diesen positiven Beiklang: Auch Babel, Labyrinth und Hölle sind Utopien, beschatten Jerusalem, Paradies und Himmel. So beschattet die Dystopie die Eutopie. Dieser Schatten liegt auch auf den festlichen ausräumenden Architekturen, die in den Architekturfantasien des Manierismus eine so große Rolle spielen.

Ich erwähnte schon Hans Vredeman de Vries. Seine Kunst erlaubt es mir zu präzisieren, was ich unter einem ausräumenden Bauen verstehe und was solch ein Bauen anziehend und zutiefst fragwürdig macht. De Vries ist ein von der Kunst der Perspektive besessener Künstler. Nun kann das auch von vielen anderen Künstlern dieser Zeit gesagt werden, wie z. B. Desiderio Monsú, Dirck van Delen oder Francisco Gutiérrez
. Warum also gerade de Vries hier besonders hervorheben? Eine erste Antwort: der holländische Meister ging den anderen voraus, wies ihnen den Weg und half, die Architekturfantasie als Genre zu etablieren.[11] Aber was mich hier interessiert, ist anderes: seine Bilder helfen uns, die geistige Bedeutung der Perspektive, des Raumes und eines ausräumenden Bauens besser zu verstehen.

Vasari sagte einmal von Uccello, dass seine maßlose Begeisterung für die Perspektive drohte, alles Leben aus seinen Bildern zu saugen, dass seine Meisterschaft dieser Kunst ihn daran hinderte, ein besserer Maler zu werden. Und gilt Ähnliches nicht auch für de Vries? Dass er so oft die Menschen in seinen Bildern nicht selber malte, dass sie in diesen Bildern nur eine ornamentale Funktion besitzen, entbehrliche Zugabe zum Wesentlichen, der dargestellten Architektur, gibt zu denken. In zwei Bildern im Kunsthistorischen Museum in Wien, z. B. Palastarchitektur mit Spaziergängern (1596) und Palastarchitektur mit Musizierenden (1596), sind die Figuren von dem jungen van Ravesteyn. Und inwiefern der Sohn Paul des Künstlers für die Ausführung der Inventionen seines Vaters verantwortlich war, ist ungewiss.
[12] Aber die erfinderische Einbildungskraft des Vaters wurde höher geschätzt als die Übersetzung seiner Entwürfe in Bilder. So ist es nicht überraschend, dass heute der Ruhm dieses Architekten, Malers, und viel beschäftigten Stechers[13] weniger seinen Gemälden verdankt als seinen vielen Veröffentlichungen, Lehrbüchern, die mit ihren Illustrationen Architekten, Malern, Gärtnern, und Dekorationskünstlern Methode und Anregung boten, aber oft auch fantastisch auf eine Art, die die ursprüngliche Absicht vergessen lässt. Methode befreit hier die Einbildungskraft.

Das Verlangen nach Methoden und Leitfäden steht am Eingang unseres modernen Weltgebäudes. In den Regulae präsentiert uns Descartes so seine Methode als einen Ariadnefaden, der uns aus dem Labyrinth der Welt in das offene Land der Vernunft führen soll. Den Schlüssel bietet hier die Logik der Perspektive. Wer diese Logik verstanden hat, wird sich nicht mehr von perspektivgebundenen Erscheinungen täuschen lassen.
[14] Wie sich zeigen wird, gibt es eine enge Verwandtschaft zwischen den Methoden von Descartes und de Vries. Aber dem Künstler wird die Perspektive zu einem Ariadnefaden, der nicht so sehr aus dem Labyrinth herausführt, sondern zurück ins Labyrinth. Die Beherrschung der Perspektive befreit hier die Einbildungskraft, eröffnet Möglichkeiten, die Natur und ihre Ordnung umzustürzen. De Vries lässt uns nicht vergessen, dass das Labyrinth, Werk des mit Kain zu vergleichenden Daedalus, dessen Kunstfertigkeit es der kretischen Königin Pasiphae erlaubte, ihr unnatürliches Verlangen nach einem Stiere zu befriedigen, die geistige Architektur durchspukt, die Descartes, schön geordnet, auf festen Grund stellen wollte. Wir wissen, dass Descartes’ Versprechen einer Methode, die uns zu Meistern und Besitzern der Natur machen würde, kein eitles Sich-versprechen war. Aber versprach auch diese Methode, die schmutzigen, zusammengewürfelten Städte der Zeit mit herrlichen, nur der Vernunft gehorchenden utopischen Architekturen zu ersetzen, von denen die Architekturfantasien der Zeit uns ein erstes Bild geben können, so regt sich doch etwas in uns, dass dieser cartesischen Architektur, die das Aussehen unserer modernen Welt immer mehr bestimmt, zu entfliehen. Wie Nietzsche in Morgenröte schrieb: “Wollten und wagten wir eine Architektur nach unserer Seelen-Art (wir sind zu feige dazu!) – so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein! Die uns eigene und uns wirklich ansprechende Musik lässt es schon errathen.”[15] Oder auch, wie es in einem nachgelassenen Fragment heißt, “Es gibt Fälle wo es eines Ariadne-Fadens bedarf ins Labyrinth hinein . . . Für den, der die Aufgabe auf sich hat, den grossen Krieg, den Krieg gegen die Tugendhaften (– die Guten und Gerechten heißt sie Zarathustra, auch “letzte Menschen” auch “Anfang vom Ende”–) heraufzubeschwören, sind einige Erfahrungen beinahe um jeden Preis einzukaufen: der Preis könnte sogar die Gefahr sein, sich selbst zu verlieren.”[16] So war de Vries berühmt als Entwerfer von Gartenlabyrinthen, die natürlich auch als Labyrinthe der Liebe gedacht waren.

Die bekannteste von de Vries’ vielen Publikationen ist seine Perspective (1604, 1605), eine weitere Demonstration der Kunst der Perspektive in der Tradition von Alberti, Dürer und Serlio. Was die Methode betrifft, war de Vries kein Erneuerer: Dem, was Alberti in Della Pittura zu sagen hatte, hatte er wenig hinzuzufügen. Auch de Vries lässt den Maler erst einmal ein lineares Gerüst konstruieren, als perspektivische Projektion eines dreidimensionalen euklidischen Gitterwerks. Den darzustellenden Dingen wird dann ihr Platz in diesem Gerüst angewiesen. Die fantastischen Architekturen in seinen Gemälden erfahren wir so als Verkörperung einer geometrischen, geistigen Architektur, die, obwohl unsichtbar, doch die Seele dieser Architektur ist. Und Voraussetzung dieser geistigen Architektur wiederum ist das euklidische Gitterwerk, das den unendlichen Raum der gerade entstehenden modernen Naturwissenschaft einräumt.

Werden solche Darstellungen des Raumes more geometrico dem Raum unserer Lebenswelt gerecht? Natürlich nicht! Da gibt es erstens die Annahme eines monokularen Sehens; zweitens, eines unbeweglichen Auges; drittens, einer flachen Erde. Dass die Künstlichkeit dieser Kunst der Perspektive der natürlichen Perspektive unserer Erfahrung Gewalt antut, wussten die Zeitgenossen sehr wohl, wie z. B. Leonardo und Kepler. Und so trug auch das erste 1505 gedruckte Buch über die Kunst der Perspektive den Titel De artificiali perspectiva. Solche Künstlichkeit war ein Opfer, das man gerne der Möglichkeit brachte, die Erscheinungen der Welt täuschend ähnlich wiederzugeben, versprach die Kunst der Perspektive doch, den Maler in die Nachbarschaft der Magier zu rücken. Und so versteht das 17. Jahrhundert die Perspektive gerne als Teil der Thaumaturgie, dieser zwischen Zauber und Wissenschaft schwankenden Wissenschaft der Wunder. Aber wir dürfen nicht vergessen, wie problematisch doch eine Kunst ist, die die Lebenswelt ihrem idealisierten und rationalisierten Bilde opfert, die den verkörperten, in der Welt handelnden, umsichtigen Menschen mit einem ruhenden Auge ersetzt, ein Handel, der den schwerer wiegenden Handel vorwegnimmt, mit dem die neue, von Galilei und Descartes inaugurierte Wissenschaft an die Stelle der Lebenswelt ihr idealisiertes Bild treten ließ, ein Weltbild, das die Natur in eine mathematisch begreifbare res extensa verwandelte, den Raum homogenisierte und als bloße extensio verstand, den Menschen zu einer vergeistigten, körperlosen res cogitans werden ließ. Die Methode Descartes’ hat ihren Vorläufer in Albertis Perspektive. Schon in Della pittura zeichnen sich die Konturen unseres modernen Weltbildes ab.



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In den fantastischen Architekturen, die wir de Vries verdanken, verbinden sich geometrische, an die Vernunft gebundene Methode und Fantasie auf eine Art, die uns seine Paläste als fast surrealistische Konstruktionen erfahren lässt, wobei ein solcher Eindruck von der Strenge, mit der hier den Gesetzen der perspectiva artificialis gehorcht wird, nicht zu trennen ist. Solcher Gehorsam bedingt einen Wirklichkeitsverlust, entrückt die Architektur im Bild der Lebenswelt. Werfen wir noch einmal einen Blick auf die zwei Bilder, die de Vries für Kaiser Rudolf den Zweiten malte. Beide ziehen unser Auge durch einen Tunnel zum Fluchtpunkt, ehe es ihm erlaubt wird, die luftige Architektur zur Linken zu durchwandern. Auffallend ist, wie Säulen, und nicht Wände, diese Palastarchitektur bestimmen. Innen und Außen fließen ineinander. Vor Wetter oder Feinden braucht man sich in dieser Welt nicht zu schützen. Dies ist eine Architektur für sorgenfreie Spaziergänger und Musikanten, für erotische Spiele; eine Festarchitektur für Menschen, die sich von den Pflichten, Sorgen und Lasten des Alltags befreit haben; eine Architektur die Nietzsches Geist der Schwere verbannt hat. Solche Architektur weckt die Freiheit. Aber es ist nicht nur die Luftigkeit dieser Architektur, die das Auge einlädt, den verführerischen Diagonalen zu folgen, hinter dem im Bilde Sichtbaren Räume aufzusuchen, in denen vielleicht ein ungeahntes Glück zu finden wäre.  Das Offene solcher Säulenarchitektur unterstreicht nur, was hier wichtiger ist: Die Art, wie der Maler hier die Architektur dem unsichtbaren Gitterwerk der Perspektive unterwirft, entrückt sie der Lebenswelt, rückt sie in den unendlichen Raum der euklidischen Geometrie. Diese Öffnung zum Unendlichen gibt ihr eine Leichtigkeit, die sich nur schwer mit unserer erdgebundenen Existenz vereinbaren lässt.

Mit seinem Fluchtpunkt scheint das Bild das Unendliche zu berühren. Ihm entspricht die Fiktion eines der Zeit enthobenen Auges, schwebend in jenem unendlichen Raum, der Giordano Bruno zur selben Zeit so begeisterte. Wie de Vries suchte auch er die Gunst Rudolf des Zweiten in Prag. Bruno spürte in diesem Raum den Anspruch einer Freiheit, die die Menschheit nicht nur aus dem geozentrischen Kosmos des Ptolemäus führen sollte, als wäre dieser ein Gefängnis. Auch der doch immer noch endliche heliozentrische Kosmos des Kopernikus konnte diese Freiheit nicht befriedigen. Der von Hans Sedlmayr beklagte Verlust der Mitte begegnet uns hier als Forderung der Freiheit.  Solche Freiheit will keine Raum stiftende, bindende Mitte, will Beweglichkeit, will alles Eingeräumte ausräumen, sucht das Offene. Und so versucht sie auch alle Architekturen, seien sie gebaut, gemalt oder nur gedacht, die den Geist binden wollen, dem befreienden Raum zu öffnen. Der Sog des Unendlichen gibt dem Geist Flügel, verspricht Glück, das man kaum zu denken wagt. – Die Architekturbilder von de Vries sind Träume einer solchen utopischen Freiheit.

Solche Freiheit versprach auch die in denselben Jahren ihren Weg findende Naturwissenschaft. Wissenschaftliche Arbeit fordert Objektivität. Aber Objektivität verträgt sich schlecht mit dem Weltbild des Mittelalters. Und so finden wir auch hier die Bereitschaft, an die Stelle des eingeräumten Raums des Aristoteles den offenen Raum der Neuzeit treten zu lassen.  Bruno erfuhr den geozentrischen Kosmos der Alten als Höhle, als Gefängnis. Ein freier Geist wird immer wieder von einer nicht mehr erd- und körpergebundenen Existenz träumen, von einem beweglichen Subjekt, das endlich frei und fähig ist, nicht nur unsere Erde, sondern auch den Körper als Mittel zur Befriedigung natürlicher und unnatürlicher Begierden zu gebrauchen: Daedalus redivivus.



5


Bachelard meinte, dass wir alle von einem Haus träumen, das wirkliche Geborgenheit verspricht, von der Heimat, die uns in der Erinnerung manchmal ruft und die es doch so nie gegeben hat, wenn wir auch, wie z. B. Heidegger, in einem Schwarzwaldhof dessen Metapher erfahren. Dem Traumhaus entspricht die Traumstadt, von Heidegger gedacht im Bilde von Messkirch, mit schattigen Erkern, verträumten Madonnenbildern an den Häuserecken, rauschenden Brunnen.
[17] Aber viele heute fühlen sich zu beengt von unserer rationalisierten Welt mit ihren Routinen und Forderungen, um von Heimat einräumenden Architekturen zu träumen. Eher träumen wir, wie schon Nietzsche oder Jacobsen, vom Wilden, von der unbezähmten, unbezähmbaren Natur, von der heißen, nie gesättigten Leidenschaft der Renaissancemenschen,[18] träumen von Labyrinthen, von Entdeckungsreisen ins Unbekannte, das wir auch in uns tragen, in ein Land, das unserem Anspruch auf Freiheit und Glückseligkeit entspricht.

Solches Begehren brauchte nicht auf die Neuzeit zu warten. Von Anfang an begleitet so ein gegen alles künstlich Eingeräumte und so auch gegen alle den Menschen ihren Platz einräumende Architektur gerichteter Protest unser Bauen. Das Paradies hatte kein Haus nötig: In diesem Garten waren Adam und Eva schon zu Hause. Nun verloren wir diese Heimat durch den Sündenfall, aber das Versprechen dieses Gartens, übersetzt ins Architektonische, wurde in die Zukunft projiziert als Stadt, als Himmlisches Jerusalem, aber von Gott gebaut, nicht von Menschen.

Utopische Träume von Garten und Stadt werden zum Bild in zahllosen Architekturfantasien des 16. und 17. Jahrhunderts. Und weisen solche Utopien uns nicht den Weg? Können Vernunft und Kunst uns nicht wiedergewinnen, was der Apfelbiss uns einst verlor? So träumten Bacon and Descartes von einer Wissenschaft und Technik, die es uns erlauben würde, den uns von den Cherubim mit dem bloßen hauenden Schwert verwehrten Weg dennoch zurückzugehen. Es ist ein Traum, dem auch heute noch viele nachhängen. Aber jeder in diese Richtung gehende Versuch muss sich mit diesem Einwand auseinandersetzen: erhebt ein solcher Versuch nicht Anspruch auf das, was uns Sterblichen versagt ist und wiederholt so den Sündenfall? War es nicht Kain, der die erste Stadt baute? Die Architekturfantasien des Manierismus und Barock stehen so im Schatten des Turmes von Babel, im Schatten auch der immer noch grandiosen Überreste der Architektur der heidnischen Römer. Der Überzeugung folgend, dass keine menschliche Kunst uns unsere wahre Heimat einräumen kann, versetzten so viele Maler die Geburt Christi in irgendeine fantastische Ruinenarchitektur: Architektur, die vom wesentlichen Mangel einer jeden einräumenden Architektur spricht. Ist eine Ruine nicht ein passenderer Ort für die Geburt des Erlösers, der der Zeit ihren Stachel, der Hölle ihren Sieg nehmen soll, als ein aufwändiger Palast?

Der Schrecken der Zeit verdunkelt unsere Träume von bergender Architektur, übersetzt leicht Fantasien von festlichen Architekturen in Angstbilder: Troja in Flammen, Barbaren in der Stadt, brennende Paläste, berstende Säulen. Aber etwas in uns zieht uns zu Ruinen. Die Nähe der festlichen Bühnendekorationen der Galli-Bibiena zu Piranesis Carceri deutet auf den Schrecken der in diesen ausräumenden Architekturen lauert. Die Architekturfantasien des Barocks und Darstellungen von Ruinen öffnen beide von Menschen Gebautes dem Unendlichen auf eine Art, die die Bedeutung unseres an Ort und Zeit gebundenen Lebens in Frage stellt. Dass solche Erfahrung ein ganz besonderes Vergnügen mit sich bringt, zeigt die ästhetische Kategorie des Erhabenen, das Kant uns als Bild der Freiheit zu verstehen gelehrt hat. Robert Morris nennt so Ruinen “oft außerordentliche, ungewöhnlich komplizierte Räumlichkeiten, die einzigartige Beziehungen zwischen Zugang und Schranke, dem Offenen und dem Verschlossenen, der Diagonalen und der Horizontalen, Grundfläche und Wand bieten. In Strukturen, die von den zwiefach entropischen Angriffen der Natur und des Vandelen verschont geblieben sind, sind solche Beziehungen nicht zu finden.”
[19] Was hier fasziniert, ist die Rückkehr des fest Gebauten zur Natur, und das heißt auch ein Ausräumen der Architektur, das Räume dem Raum öffnet. Etwas tief in uns ist unzufrieden mit den geistigen und gebauten Räumen, die uns unsere Vernunft eingeräumt hat, erfährt Angriffe auf Architektur als Befreiung. Das schreckliche mysterium tremendum et fascinans der Natur, des Raumes und der Zeit, wird nicht verbannt, sondern geweckt. Es ist dieses mysterium, das den Maler und Architekten Hundertwasser die Luftangriffe von 1943 als beispielhaft formgebend loben ließ: gerade Linien und nichts sagende Gebäude verdienten, was ihnen geschah.[20] In diesem Zusammenhang verdient der Entschluss von Malern wie Hubert Robert oder Caspar David Friedrich, bekannte, noch stehende Bauwerke, wie z. B. den Louvre oder Kirchen in Meißen und Greifswald, als Ruinen zu malen, besondere Erwähnung.[21]



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Joseph Addison nannte den offenen Horizont ein Bild der Freiheit. Ein Bild wie Caspar David Friedrichs Mönch am Meer zeigt die ausräumende Macht eines solchen Horizonts: dieser Macht ist der wesentlich einräumende Rahmen hier nicht gewachsen. Der unendliche Raum weckt die unendliche Freiheit. Heute allerdings hören wir diesen zur Ausräumung jeder Architektur auffordernden Ruf des Raumes anders als Bruno: in dessen Enthusiasmus mischt sich immer entschiedener die Angst.

Lassen Sie mich noch einmal zum Werk von Lebbeus Woods zurückkehren. Ein wahrer Sohn des Daedalus, ist Woods ein Meister des künstlich Erhabenen, das seinen Grund nicht in einer Erfahrung der Unendlichkeit Gottes oder der unendlichen Natur hat, sondern der Unendlichkeit, die jeder von uns in sich trägt, in einem Freiheitsverlangen, das uns auf Stimmen hören lässt, die in jeder uns Platz anweisenden und Grenzen stiftenden Architektur ein Gefängnis wittern. So träumen Künstler und Architekten immer wieder von einer beweglichen, fliegenden Architektur. Architektur gedacht im Bilde des Gefängnisses hat ihren Antityp in dem völlig beweglichen Heim, einem Heim, so will es dieser ikarische Traum, das nicht einmal die Schwerkraft bindet: ist sie nicht der Feind eines jeden wahrhaft freien Geistes. Ballons, Flugzeuge und Raumschiffe verdienen so einen Platz in jeder umfassenden Geschichte der modernen Architektur. Montgolfiers Ballonflug und Ledoux’ Kugelgebäude gehören nicht nur zeitlich zusammen. Heute verspricht uns das Internet eine bislang unbekannte geistige Beweglichkeit, die die Bedeutung jeder Architektur in Frage stellt.

Träume von Freiheit antworten dem unendlich offenen Raumes. Ganz im Geiste Nietzsches, der im Geist der Schwere seinen Erzfeind fand, stellt sich Lebbeus Woods in die Tradition solcher erhabenen Feindschaft. “Darum bekenne ich mich Feind der Schwerkraft, denn ich bin Freund der Belebung und der Bewegung. Und darum entscheide ich mich, der Schwerkraft den Krieg zu erklären und proklamiere sie einen Feind, der, obwohl im Besitz einer gewissen Noblesse, arroganterweise den Anspruch erhebt, mein ganzes Leben zu kontrollieren. Ich weise diese Arroganz der Schwerkraft zurück und erhebe den Gegenanspruch – ich bin ein freier Geist, autonom und selbst bestimmend, Geschöpf und Architekt der Anti-Schwerkraft”.
[22]  Woods’ Visionen von einem in der Luft schwebenden Paris sprechen von einer solchen Freiheit. Wie aber haben wir uns die Bewohner dieser Stadt zu denken? Woods spricht von “Akrobaten in einem Zirkus des Werdens”.[23] Mich erinnert dies an einen Film von Alexander Kluge: “Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos” (1968). Kann man sich die Akteure in einem solchen Zirkus anders denken als ratlos?

Ist wahre Heimat nicht immer Utopie? Lebbeus Woods wenigstens weiß, dass wir immer schon “auf einem dunklen Meer” sind. “Unsere einzige Hoffnung und unser größter Ruhm liegt in unserer Bereitschaft, das Unbekannte voll zu ergreifen und anzuerkennen, auf der Erde als Fremde zu leben: erwartungsvoll und tapfer, Kinder eines noch unbekannten, höheren Zeitalters.”
[24] Und dennoch, ungeachtet solcher trotzigen Tapferkeit, weigert sich auch Woods, dem Finsteren das letzte Wort zu lassen und setzt der ausräumenden Macht des dunklen Raums die einräumende Kraft des Lichtes entgegen, träumt, wie es Menschen schon immer taten, dass am Ende das Licht siegen wird. Nicht, dass er diesen Sieg von Gott erwartet. Er hofft auf Menschen, und ganz besonders auf Architekten, die in diesem Kampf alles einsetzen, was die Technik heute schon bietet und einmal bieten wird. “Was mich am meisten anzieht, von Fragen der kontingenten Nutzbarkeit ganz abgesehen, ist Architektur, die uns das Licht intensiver erfahren lässt und den Geist sammelt. In meinem Baufieber war es genau eine solche Architektur, die meine Fantasie errichten wollte in der Form eines alleinstehenden Baus, der das Licht von Sonne, Mond und Sterne spiegeln und einfangen sollte.” Woods erfand sein Epicyclarium als Heilmittel gegen dieses Fieber, etwas bauen zu wollen, das er wirklich sein Eigen nennen könnte und in dem er sich geistig zu Hause fühlen würde.[25] Mich erinnert sein Entwurf an die utopischen Architekturen von Architekten der Aufklärung, wie z. B. von Ledoux, Boullée, Sobre und Vaudoyer.

Wichtiger als Heimat ist Heimkehr. Wichtiger als der Entwurf ist der Prozess, den Woods als “eine Entwicklung seines Bewußtseins beschreibt, eine Koordination von Hand und Auge und Geist mit elementaren Naturkräften.”
[26] Heimkehr meint auch hier ein Zusammenstimmen von Mensch und Kosmos. Auch Woods stellt der Architektur die Aufgabe, dieser Heimkehr zu dienen. Wie er weiß, ist dies ein Versuch, der ethischen Funktion der Sakralarchitektur einen zeitgemäßen Ausdruck zu geben.



7


Wie so manche fantastische Architektur ist auch die von Woods ein Traum von Freiheit. Und wiederum, wie so manche fantastische Architektur ist sie auch ein Traum von Geometrie, ein Traum also von der Versöhnung von Freiheit und Ordnung, von wahrer Autonomie, die, wie es schon das Wort sagt, ein Binden der Freiheit bedeutet, nicht durch fremde Autorität, sondern durch unsere eigene Vernunft: Traum also einer Versöhnung von ausräumendem und einräumendem Bauen. Aber wie es der Zauber von Ruinen verrät, der Traum will uns nicht halten. Immer wieder bestreiten Freiheit und Verlangen die Herrschaft der Vernunft. Kant suchte in diesem Aufruhr die Wurzel des Bösen. Doch eine solche Bestimmung lässt dessen Anspruch nicht verstummen. Und so weigert sich Dostojewskis Untergrundmensch, den Anspruch von zwei-mal-zwei-macht-vier anzuerkennen. In zwei-mal-zwei-macht-fünf findet eine Freiheit, die jede Autorität, die sie binden möchte, auch die der Vernunft, zurückweist, eine letzte Zuflucht. Zwei-mal-zwei-macht-vier, die Herrschaft der Perspektive und jede uns von der Vernunft geschenkte einräumende Architektur gehören zusammen. Und zusammen gehören zwei-mal-zwei-macht-fünf, Ruinen und ausräumende Architekturen, die das uns von der Vernunft Eingeräumte aufreißen, um der Freiheit ein Fenster zu öffnen.

In der Geschichte der Architekturfantasien wird ein solches Aufreißen zum Bild im Capriccio, das dem Ruinenbild verwandt, gerne Architekturen zur Natur zurückkehren lässt. Hier zum Beispiel ein Blatt des Johann Esaias Nilson, dessen “Neues Caffehaus” (1756) als verspielte Variation von Hogarths “Falscher Perspektive” verstanden werden kann, letztere gemeint als satirisches Titelbild für ein Buch über Perspektive. Aber Nilson kehrt Satire in leichtherziges, doch subversives Spiel. Die dekorativen Entwürfe von Woods erinnern an dieses Bild. Ist es nicht ein fantastisches Quasi-Ornament, das Woods in die Ausstellungsräume in Pittsburgh eindringen lässt? Und sind nicht auch die Gebilde, die Woods in seinen “Free-Zone”-Projekten in die Stadtlandschaften von Zagreb und Berlin eindringen lässt, ähnlich ornamental, wobei ihre subversive, politische Bedeutung nicht zu übersehen ist, versprechen sie doch ein anarchisch-utopisches Reich der Spontaneität und des Spiels. Wenn ich hier die Kunst von Woods ornamental nenne, so soll das nicht ihre Bedeutung in Frage stellen, eine Bedeutung, die Architekten wie Frank Gehry oder Daniel Libeskind nicht entgangen ist, noch den Beitrag dieser scheinbar verspielten Interventionen in unsere zunehmend homogenisierten Stadtlandschaften. Ich wollte vielmehr auf die subversive Funktion des Ornaments in der Architektur hinweisen, die ein Adolf Loos so klar erkannte.

Und nirgendwo ist diese Funktion ausgeprägter als im Ornament des 18. Jahrhunderts. Die Architekten der Aufklärung und die Kritiker, die die uns von der Aufklärung eingeräumte Architektur bewachen und beschützen wollten, wussten sehr wohl um die subversive, und das heißt auch ethische und politische Funktion des Ornaments. Kehren wir noch einmal zu Nilsons “Neuem Caffehaus” zurück. Wichtiger als dieses fragwürdige Etablissement ist das aus dem Rahmen herauswachsende Rocaille-Ornament, das in das Bild eindringt, das Haus, es fast erstickend, wie Efeu umschlingt. Und dieses Ornament richtet sich nicht nur gegen das Haus, sondern auch gegen die Regeln der Perspektive, denen doch damals jedes vernunftgerechte Bild zu folgen hatte.  Das Entsetzen der Aufklärer, die doch hofften, das ruinöse Haus der Religion mit einem uns von der Vernunft eingeräumten Haus zu ersetzen, ist leicht zu verstehen. Das nur scheinbar unschuldige Spiel des Ornaments ist Metapher des anarchischen Spiels der Fantasie und der Natur. Dionysische Mächte drohen dem uns von der Vernunft gebauten Schiff den Untergang. Die Einbildungskraft des Künstlers überspielt die Regeln der Vernunft, deren Schiff, wie in diesem Stich von Jacques de la Joue, das Riff des Ornaments scheitern lässt. Aber etwas in uns will solchen Schiffbruch.

Zugegeben: ein Abgrund trennt die Entwürfe von Lebbeus Woods von den Ornamentstichen des Rokoko. Ihr Ziel ist immer wieder Cythera. Wie das Paradies so braucht auch diese glückliche Insel der Venus keine einräumende Architektur. Nicht dass Träume von Cythera dem Reich der Venus gerecht werden. In ihrem Reich sind Geburt und Tod, Schönheit und Verwesung Geschwister: inter faeces et urinam nascimur. Es ist diese dunkle, chthonische Unterseite des scheinbar so leichtfertigen Rokoko, die die Aufklärer herausspürten, nicht nur den Umsturz der Vernunft bemängelnd, die der Fantasie den ihr gebührenden, doch sehr bescheidenen Platz einzuräumen hat, sondern auch wie leicht dieser Umsturz zum Abjekten und Monströsen führt. So lassen sich die Ornamentstiche des Rokoko auch als verspielter Vorgriff der Wendung zum Abjekten verstehen, der in der Kunst der letzten Jahre eine so große Rolle spielte und Venus immer wieder mit Kot bedeckte.

Lebbeus Woods jedoch reist nicht nach Cythera. Noch ist die Wildnis, die er erforscht, eine Wildnis der abjekten Natur. Seine Wildnis ist Werk einer Vernunft, die, unserer grenzenlosen Freiheit nicht gewachsen, die Herrschaft über sich selbst verliert und so jene Architektur, die Descartes uns einst mit seiner Methode versprach, ausräumt. Die Technik, die uns Macht über die Natur gibt, wächst hier so, dass das Künstliche zur unheimlichen zweiten Natur wird, komplex wie die erste, so komplex, dass all unsere Versuche, sie in den Griff zu bekommen, versagen. Endlose Neuerungen rufen uns mit ihrem Versprechen, wecken neues Verlangen und immer neue Erfindungen, solches Verlangen zu stillen. So gebiert der Fortschritt der Technik Traumbilder von nicht mehr ort- und zeitgebundenen Individuen, von Menschen, die die Freiheit haben, sich immer wieder selbst zu erfinden, und was auch immer für Plätze Regierungen, Götter oder die Natur den Menschen anweisen wollen, nicht zu achten. Kein neues Jerusalem! Kein Paradies! Keine Reise nach Cythera! An die Stelle solcher Fantasien tritt die Fantasie einer weder von der Vernunft noch von der Natur gebundenen Existenz: eine Vision von Cyberbabel als der schrecklich-erhabenen Heimat der wahren Freiheit.

Doch die Freiheit muss sich selbst binden, soll sie nicht zur Willkür werden. Wo aber findet diese alles ausräumende Freiheit, was sie binden könnte? In der heilenden Kraft des Lichtes? Menschen, die hier angelangt sind, werden die Hinwendung der Kunst der letzten Jahre zum Dunklen, Schweren und Abjekten fast beruhigend finden als ein erstes Geständnis, dass jede wirkliche Selbstbejahung die Rückkehr aus der Wildnis fordert, in die uns Freiheit und Vernunft geführt haben: die Rückkehr zum sterblichen Menschen und zur Erde. Noch ruft uns Cythera.

Wir sind Amphibien, gehören der Erde und dem Licht. So fordert die eine Seite unseres Wesens Freiheit, währende die andere von Geborgenheit träumt. Die eine will Heimat, die andere Reisen ins Unbekannte. Die eine sucht das Schöne, die andere das Erhabene. Die eine will Raum einräumen, die andere Räume ausräumen. Als solche Amphibien träumen wir auch von dem, was diesen Zwiespalt heilen könnte. Aber nur ein Bauen, das diesen Zwiespalt aushält und austrägt, ermöglicht ein menschliches Wohnen.
 


Anmerkungen:

[1]  Joseph Addison, Spectator, nr. 412.

[2]  Martin Heideger,  “Die Kunst und der Raum,”  Aus der Erfahrung des Denkens, 1910 – 1976Gesamtausgabe, Band 13 (Frankfurt am Main: Klostermann, 1093), S. 207.

[3]  Ebda., S. 206.

[4]  Martin Heidegger, “Bauen Wohnen Denken, ” Vorträge und Aufsätze, Gesamtausgabe, Band 7  (Fankfurt am Main: Klostermann, 200), S. 156.

[5]  “Die Kunst und der Raum,” S. 208.

[6]  Ebda. S. 208.

[7]  Martin Heideger, Sein und Zeit, Gesamtausgabe, Band 2 (Frankfurt am Main: Klostermann, 1976), S, 148. Siehe §§ 22, 24, 70.

[8]  Ebda., S. 149.

[9]  Ebda. S. 149.

[10]  Ebda. S. 228. Siehe § 36.

[11]  Cf. Hans Jantzen, Das niederländische Architekturbild (Leipzig: Klinkhardt und Biermann, 1910).

[12]  Siehe Thomas DaCosta Kaufmannn, The School of Prague. Painting at the Court of Rudolf II (Chicago and London: The University of Chicago Press, 1985), pp. 287-288, 25.1 and 25.2.

[13]  Siehe Hans Mielke, Hans Vredeman de Vries, Verzeichnis der Stichwerke und Beschreibung seines Stils, Dissertation, Berlin 1967.

[14]  Siehe Karsten Harries, Infinity and Perspective (Cambridge, Mass: MIT Press, 2001), pp. 104-124.

[15]  Friedrich Nietzsche, Morgenröthe, 169; Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, ed. Giorgio Colli and Mazzino Montinari ( Munich, Berlin, and New York: Deutscher Taschenbuch Verlag and de Gruyter, 1980 ), Band 3, S. 152.

[16]  Sämtliche Werke, vol. 14, p. 497.

[17]  Martin Heuidegger, “Jörgensen, Joh., Das Reisebuch” (1911), Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges, Gesamtausgabe, Band 16 (Frankfurt am Main: Klostermann, S. 10.

[18]  Vgl. Heidegger, “Per morten ad vitam, Reden, S. 4.

[19]  Robert Morris, “The Present Tense of Space,” Art in America, January/February 1973, S. 73.

[20]  Hundertwasser, “Mould manifesto against Rationalism in Architecture,” in Programs and Manifestoes on 20th-Century Architecture, ed. Ulrich Conrads, trans. Michael Bullock (Cambridge, MIT Press, 1975), S. 157.

[21]  Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte (Frankfurt: Ullstein, 1959), S. 77.

[22]  Lebbeus Woods, “Aerial Paris,” S. 64.

[23]  Ibid., p. 65.

[24]  Lebbeus Woods, “Epicyclarium,” S. 44.

[25]  Ibid., p. 40

[26]  Ibid., p. 52.

     

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9. Jg., Heft 1
November 2004