Gebaute Räume
Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt

9. Jg., Heft 1
November 2004
   

 

___Gesa Mueller
von der Haegen

Karlsruhe
  Szenografie in architektonischen Zusammenhängen

 

    Gelebte Wirklichkeit ist die Innenseite „Der Wirklichkeit“. Sie ist das Medium unseres Lebens, der größere Körper und die unsichtbare Anarchie. Kurz: unser Lebensraum. […] Man muss für Lebensräume endlich auch eine Bewegtheit annehmen wie sie in Leben und Natur ständig wirkt. Räume sind Lebewesen“ (F. X. Baier, 1996).

Architektur als „symbolische Kunstform“ (Hegel) bildet kulturelle und gesellschaftliche Ideale und Rituale räumlich ab. Griechische Tempel oder die Idealpläne der Renaissance geben davon geschichtliches Zeugnis. Bis heute erlebbar ist in der italienische Stadt Pienza die auf einen Gesamtplan basierende Anlage des ersten Versuchs einer urbanistischen Erneuerung größeren Ausmaßes seit der Antike. Papst Pius II., Enea Silvio Piccolomini, ließ hier unter dem Eindruck von Leon Battista Albertis Architekturtraktat seinen Vorstellungen einer Idealstadt Ausdruck verleihen: Vollendet wurde von diesem Weltbildgedanken der zentrale, mit einer Bühne vergleichbare Platz und die ihn einfassenden, „staatstragenden“ Gebäude.

Die gegenwärtige Gesellschaft bildet sich räumlich in Form von so genannten „Funarchitekturen“ und Erlebniswelten ab. Wie zu Zeiten Piccolominis wird hier Architektur zum Spiegel gesellschaftlicher Bedürfnisse und kultureller Wertigkeiten. Die Architektur schafft den „Spielraum“ für die Szenerien des Täglichen. Euklidische Raumgesetze, künstlerischer Ausdruck und Lebensform sind der Stoff: Hat eine Gesellschaft das Bedürfnis, sich in Fun- und Erlebniswelten zu bewegen und zu zerstreuen, in Baumärkten und Einkaufzentren ihre Einkäufe zu bewältigen, werden entsprechende urbane Abbildungen sichtbar. „Erlebnis“ und Kaufkultur greifen gegenwärtig offenbar als gesellschaftliche Norm. Die Diskussion um die Erstellung von Einkaufszentren mit Schlossfassade in den Innenstädten bieten eindrückliche Beispiele für eine rein marktwirtschaftlich orientierte gebaute Realität.
Unterschätzen wir dabei nicht den Einfluss, den eine qualitativ hochwertige und künstlerische Komponente in der Architektur haben könnte? Überlassen wir nicht allzu häufig die Gestaltung des Urbanen der Zweckarchitektur im Sinne von Erlebnis- und Verkaufswelten? Wenn politische Werte von nur geringer Halbwertszeit sind, Emotionalisierung und Erlebnisorientierung die „kulturellen“ Identifikationsmöglichkeiten bilden, sollte da nicht diesem Erlebnis und dieser Emotionalisierung eine nicht rein marktorientierte Richtung gegeben werden? Sollte nicht stärker die Möglichkeit ausgeschöpft werden, mit temporären künstlerischen Projekten im Erleben einen Diskurs zu verankern und diesen zu führen?

Mit seiner Intervention im Kunsthaus Bregenz („300 Tonnen“, 3. April bis 23. Mai 2004) hinterfragt zum Beispiel Santiago Sierra Funktion und Bauqualität der blockhaften Ausstellungsarchitektur von Peter Zumthor. Die Tragfähigkeit des Gebäudes sollte „zum emotionalen Prüfstein für das Publikum werden“. Sierra ließ im dritten Stock des Museumsgebäudes Betonmaterial einbringen, das mit seinem Gewicht den Bau an den Rand seiner Belastbarkeit bringt. Nur hundert Menschen, die im Durchschnitt 80 kg wiegen, dürfen die Installation zur selben Zeit betreten – würden wirklich einer mehr oder zwei Schwergewichtige unter den hundert Zugelassenen das Gebäude überlasten und damit alle gefährden? Die Installation kratzt also am Vertrauen in Baunormen und dem Gefühl von Geborgenheit im umbauten Raum. Zugleich negiert die rohe, mit allen „Baustellenabfällen“ belassene Installation der Betonquader jegliche Ästhetisierung und unterläuft so die Funktion des Baus ebenso wie die Erwartungshaltung der Kunst-Konsumenten.

In der Bonner Republik blieb das Berliner Reichstagsgebäude halb vergessen als ungeliebte Erinnerung im Grenzgebiet an der Berliner Mauer. Nicht der Umzug des gesamtdeutschen Parlaments in dieses, sondern die parlamentarische Diskussion um dessen „Verpackung“, die Realisierung des seit den siebziger Jahren geplanten Projekts „The Wrapped Reichstag“ von Christo und Jeanne Claude im Jahr 1995 und vor allem der sich während der „Verpackungszeit“ manifestierende Umgang der Bevölkerung mit Reichstag und Umfeld veränderten den „Reichstag“ zum demokratischen „Bundestag“. Durch die international vielfältig kommentierte, temporäre Intervention Christos avancierten Reichtag und Umfeld während der Ausführungszeit zu einer Pilgerstätte, zu einem Ort mit Volksfestcharakter. Das Gebäude wurde unauslöschlich im kollektiven Gedächtnis mit dem künstlerischen Ereignis verbunden. Eine neue Sinngebung wurde durch die Aktion der Verpackung, die prospektiv Veränderung erlebbar machte, möglich, zumindest emotional verankert.

Zum Jahrtausendwechsel wurde in Braunschweig ein drei Monate währendes künstlerisches Projekt realisiert, das wegen seiner Wirkung auf verschiedenen Ebenen – Urbanität, Realisierung qualitätvoller Kunstprojekte, Szenografie / temporäre Stadtprojekte und Rezeption temporärer Kunst im öffentlichen Raum – Beachtung verdient.
Ziel des Projekts „Lichtparcours 2000“ war seitens der städtischen Initiatoren das „Sichtbarmachen urbaner Identität“ (Lichtparcours, S. 9). Über eine künstlerische Bespielung des öffentlichen Raumes sollte der die Innenstadt umschließende Fluss und damit der Stadtgrundriss nachhaltig ins Bewusstsein gebracht werden. Die auf alte Befestigungsanlagen zurückgehende Umflut ist im Stadtraum kaum wahrnehmbar: „Windungen und Brückenzäsuren [bleiben] gänzlich unübersichtlich“, sie erschließen sich keinem „perspektivischen Blick und sind nur durch Begehung oder Befahrung sukzessiv wahrnehmbar“. Brücken treten nur als „interessante Zwitter aus radikaler Verkehrsplanung und monumentaler Ingenieursarchitektur“ (Lichtparcours, S. 16) in Erscheinung.
Die hochkarätigen Künstlerpersönlichkeiten, die zu Entwürfen geladen wurden, konnten frei entscheiden, „in welchem Raum sie ihren Lichtgarten inszenieren und an welche Besucher sie ihre Lichtbotschaft richten wollen: an den Passanten der Brücke oder den Flaneur der Uferwege“. Von den Entwürfen für die 24 in die Innenstadt führenden Brücken wurden 13 durch Sponsorengelder (Identifikation der regionalen Wirtschaft) realisiert. Diese Brücken wurden des Nachts zu Lichtereignissen, der Wasserweg ebenso wie die Fahrrad- und Fußwege zu „verkehrsreichen“ Strecken und die Orte der Kunst zu kommunikativen Knotenpunkten.
Abgesehen davon, dass es überhaupt möglich gemacht wurde, eine derart umfassende künstlerische Bespielung des öffentlichen Raumes zu realisieren und ein qualitätvolles kostenfreies und leicht zugängliches Kunstereignis zu bieten, haben die städtischen Initiatoren/innen offensichtlich ihr Ziel erreicht: Der Fluss ist als bespiel- und erlebbarer Raum längerfristig in das Bewusstsein der Stadtbewohner/innen gerückt. Die Zahl der Okerrundfahrten ist angestiegen, über kleinere Events hat sich eine Verbindung von Stadt, Fluss und Literatur (Lesungen: “Mord auf der Oker“) etabliert. Ein weiterer „Parcours“, der diesmal die Plätze in den Blick nimmt, soll realisiert werden, d. h. die Möglichkeiten künstlerischer Intervention werden von der Kulturverwaltung weiterhin bewusst eingesetzt, um ein durch Kriegszerstörung, Neubebauung und wirtschaftliche Schwierigkeiten verletztes Stadtbild temporär zu heilen und so das Bewusstsein für urbanen Raum zu stärken.

Die Beispiele zeigen unterschiedliche Arten szenografischer Eingriffe: Santiago Sierra nutzt den Ausstellungsbetrieb, um emotionalen und rationalen Umgang mit Architektur (ebenso wie mit dem Kunstbetrieb selbst) zu verändern oder zumindest zu reflektieren.
Christo und Jeanne Claude hingegen schaffen aus Architektur eine Skulptur, die durch die Geschichtlichkeit des Gegenstands sowie ihre Monumentalität auf den umgebenden Raum einwirkt. Man könnte sagen, von „The Wrapped Reichstag“ geht ein szenischer Impuls aus. Dieser Impuls wird aufgegriffen und im öffentlichen Raum realisiert durch fliegende Händler, Camper, fotografierende Personen und Kleinkünstler, indem er also von den Bürgern auf neue Weise vereinnahmt und gelebt wird.
Das Braunschweiger Beispiel zeigt eine andere Art szenografischen Arbeitens: Das Projekt wurde von der Kulturverwaltung initiiert und hatte in erster Linie nicht eine künstlerische, sondern eine kulturpolitische Motivation - die Verbesserung der Qualität des urbanen Raumes. Eine Kunstausstellung im öffentlichen Raum wurde kuratiert, organisiert und ausgewählte Künstler/innen zu der Ausstellung eingeladen. D. h. die Inszenierung war von Anfang an mitgedacht und auf eine Zielvorstellung ausgerichtet. Dass dies gelang, ohne die künstlerischen Arbeiten in ihrer Eigenständigkeit und Qualität zu beschädigen, macht dieses Beispiel so bemerkenswert.

Die Trennlinie zwischen künstlerischen Projekten und szenischen Eingriffen ist nicht leicht zu ziehen, was in diesen Zusammenhängen aber auch nicht von Nöten erscheint. Szenografie kann dabei vielmehr als künstlerische Arbeitsmethode erklärt werden. Ursprünglich war mit dem Begriff die Bühnengestaltung im Theater gemeint. Im heute erweiterten Sinn hat sie die temporäre Inszenierung von Raum zum Gegenstand. Grundlage des szenischen Gestaltens bilden dabei weiterhin die Inszenierungsprinzipien des Theaters sowie die Raumgesetzmäßigkeiten der Architektur. Der szenografische Raum hat eine zeitliche Definition. In einem interdisziplinären Prozess werden mit Gestaltungsprinzipien aus Theater, bildender Kunst, Architektur, Film und auch Video- und Computerkunst Raumbilder entwickelt. Der Vorteil der szenografischen Arbeitsweise ist die Möglichkeit, unterschiedliche Disziplinen zusammenzufassen und für sie einen Kern zu bilden.
Im Ergebnis können dabei Identifikationsmuster verändert werden, wie die Beispiele der Interventionen von Sierra und Christo zeigen, oder Urbanität nachhaltig positiv besetzt werden, wie das Braunschweiger Beispiel verdeutlicht. „Erlebniswelt“ erhält auf diese Weise einen grundsätzlich anderen als den normalerweise angenommenen kommerziellen Charakter.
     

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November 2004