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Wie
funktioniert die menschliche Raumorientierung? Wie werden Räume und
Raumsysteme mental repräsentiert? Welche Rolle spielen dabei
zweidimensionale Bilder, die auf Landkarten und Stadtpläne zurückzuführen
sind, sowie dreidimensional-perspektivische Bildeindrücke[2], wie
sie beim Gehen oder Fahren durch einen Raum generiert oder durch Fotografie
und Film vermittelt werden? Mit diesen Fragen werde ich mich im folgenden
Beitrag anhand einiger ausgewählter Ansätze und Positionen auseinander
setzen, die sich mit Aspekten der Raumwahrnehmung und unterschiedlichen
Formen zwei- und dreidimensionaler kognitiver Raumrepräsentationen
beschäftigen. Dass dieser
Überblick nur
exemplarisch sein kann, verdeutlicht allein die Tatsache, dass schon 1992
insgesamt mehr als 250 Arbeiten zum Thema allein aus der
Kognitionspsychologie gezählt wurden[3].
Die Forschung
zu mentalen
Raumrepräsentationen – und hier vorwiegend zu kognitiven Karten – wird von
verschiedenen Teildisziplinen der Psychologie (Umwelt-
und Architekturpsychologie, kognitive Entwicklungspsychologie) sowie ferner
von Geographen, Stadtplanern, u. a. aber auch von Informatikern betrieben.
Bedingt durch die
unterschiedlichen beteiligten Fachrichtungen haben sich auch eine Reihe
teilweise konkurrierender Termini herausgebildet, so u. a.: „imaginary
map”, „cognitive
map”, „mental
map”, „environmental
image”, „spatial
image” und „spatial
schema” im Englischen sowie im Deutschen
„Vorstellungsbilder”,
„kognitive
Karte”, „kognitive
Landkarte” und „mentale Landkarte“[4].
In meinen
Ausführungen werde ich entweder die Termini der jeweiligen
Ansätze
übernehmen bzw. die
Begriffe „mental map“ oder „kognitive Karte“ verwenden.
„Das Bild der Stadt“ – Kevin Lynch
„Was bedeutet die Form der Stadt tatsächlich für die
Menschen, die in ihr leben? Was kann der Stadtplaner tun, um das Bild der
Stadt lebendiger und einprägsamer zu gestalten?“[5]
Diese beiden Fragen umreißen die Motivation für Kevin Lynchs Untersuchung,
die 1960 unter dem Titel „Das Bild der Stadt“ bei M.I.T. Press & Harvard
University Press erschien und schon bald zu einem Klassiker der
Fachliteratur zur Stadtgestaltung avancierte. Der Städtebautheoretiker
Thomas Sieverts geht davon aus, dass diese Untersuchung Lynchs trotz
positivistischer Ausrichtung, erzieherischen Anspruches und Glaubens an die
Formbarkeit des Menschen den Zeitgeist der 60er-Jahre überdauert hat.
Rückblickend schreibt Sieverts über das Buch: „Das
Neue bestand in der einfachen, aber vorher noch nicht gestellten Frage nach
dem ,Innenbild‘, das Bewohner von ihrer Stadt haben: Wie wird Stadt
wahrgenommen, was bleibt in Erinnerung, wie läuft Orientierung ab und welche
Vorgänge von Interaktionen zwischen Umwelt und Bewohnern beeinflussen innere
Einstellung und Wahrnehmung?“[6]
Lynch und
seine Mitarbeiter gingen von einigen Ausgangshypothesen aus, die sie dann
empirisch überprüften. Folgende Thesen wurden aufgestellt:
–
„Jedes
Einzelwesen erschafft sein eigenes Bild und trägt es in sich, aber zwischen
den Gliedern der gleichen Gruppe scheint eine wesentliche Übereinstimmung zu
herrschen.“[7]
–
„Es
scheint von jeder beliebigen Stadt ein offizielles Image zu geben, das aus
vielen individuellen Images oder Vorstellungsbildern geformt ist. Oder
vielleicht gibt es auch eine Reihe offizieller Images, deren jedes von einer
Anzahl von Einwohnern gehegt wird.“[8]
–
Die
„Klarheit“, „Ablesbarkeit“ oder „Einprägsamkeit“ bzw.
„Bildprägekraft“ der Stadtszene ist ausschlaggebend für das Bild der
Stadt[9].
–
Dieses
Bild der Stadt setzt sich aus fünf
allgemein zugrunde gelegten
Elementen zusammen, diese sind: Wege, Grenzlinien, Bereiche, Brennpunkte und
Merkzeichen[10].
Am Beispiel der drei amerikanischen Städte Boston, Jersey City und Los
Angeles – bewusst ausgewählt wegen ihrer stark unterschiedlichen Struktur
und Prägnanz – wird mittels qualitativer Befragungstechniken versucht, die
aufgestellten Thesen zu bestätigen. Die räumliche Kulisse bildet jeweils ein
zentrales Stadtgebiet mit einer Ausdehnung von 2,5 x 4 km. In Boston finden
30, in Jersey City und Los Angeles jeweils 15 Befragungen statt[11].
Eine zentrale Rolle spielt bei den Interviews das Zeichnen von Karten des
Untersuchungsgebiets durch die Testpersonen[12]. Parallel zur
„Befragung kleiner Bevölkerungsgruppen“ wird eine „systematische
Überprüfung“ des Umweltbildes durch „geschulte Beobachter“ in
Form von Ortsbegehungen durchgeführt, d. h. die gezeichneten Karten der
Versuchspersonen wurden u. a. mit denen verglichen, welche die geschulten
Beobachter anfertigten[13].
Meines Erachtens betreibt Lynch jedoch seinerzeit keine Grundlagenforschung.
Die Generierung mentaler Repräsentationen wird nicht erklärt. Es finden
lediglich Exkurse in verschiedene Kulturkreise statt, die beispielsweise die
Orientierung von Eskimos und Seefahrern der Südsee illustrieren[14].
Die Frage, wie kognitive Karten entstehen und welche Bedeutung sie für die
Wahrnehmung und Orientierung haben, scheint für Lynch von untergeordneter
Bedeutung zu sein. Vielmehr setzt er deren Existenz und Bedeutung implizit
voraus. Lynch untersucht nicht primär das Problem, wie Orientierung
funktioniert, sondern interessiert sich vielmehr für ihre notwendigen
äußeren Bedingungen – für die räumlichen Merkmale, die als
Orientierungshilfe dienen.
Kevin Lynch, Schüler von Frank Lloyd Wright, war zwar vermutlich einer der
ersten Architekten und Stadtplaner, die sich Fragen der Wahrnehmung und
speziell der Repräsentationsform der kognitiven Karte widmeten, in der
Psychologie reicht die Diskussion um mentale Raumrepräsentationen allerdings
bereits bis in das späte neunzehnte Jahrhundert zurück[15].
„Das Konzept der Landkarte mit Betonung auf kognitiven Aspekten (‚cognitive
map‘) wurde erstmals von Tolman (1948) auf der Basis seiner
tierexperimentellen Untersuchungen zum Labyrinth-Lernen eingeführt, in
welchen er [am Beispiel von Ratten; J.S.] zeigen konnte, daß
Lernen sich nicht nur als mechanische Verknüpfung von Stimuli und Responses
[…] vollzieht.“[16]
Lynchs Beitrag besteht also nicht darin, den Begriff der kognitiven Karte
geprägt zu haben, den er auch nicht explizit verwendet – Lynch spricht i.d.R.
von Vorstellungsbildern. Sein Verdienst ist es vielmehr, dieses Thema
innerhalb des architektonisch-städtebaulichen Diskurses zu verhandeln. Er
resümiert, dass „[seine] Untersuchung nur die Existenz eines logischen
Vorstellungsbildes bewiesen [habe], das benutzt wird, um die Stadt in
Abwesenheit der Wirklichkeit zu beschreiben oder ins Gedächtnis
zurückzurufen.“[17] Dass dieses „logische Vorstellungsbild“
die Gestalt einer Karte haben soll, lässt sich nur indirekt an Bemerkungen
wie der folgenden aus Lynchs Arbeit schließen: „[…] das Image hat
nicht nur seinen unmittelbaren Wert als Landkarte zur Ermittlung der
Bewegungsrichtung, im weiteren Sinn kann es als Bezugssystem dienen,
innerhalb dessen das Individuum agiert und an dem sich sein Wissen
orientiert.“[18]
Die Tatsache, dass die Testpersonen aufgefordert waren, aus dem Kopf Karten
einer vertrauten Umgebung zu zeichnen, kann natürlich auch als Indiz für
Lynchs Überzeugung gewertet werden, dass der städtische Raum zweidimensional
repräsentiert werde. Die getroffene Konvention könnte jedoch ebenso gut auf
die Frage der Darstellbarkeit kognitiver Repräsentationen zurückzuführen
sein. Lynch benutzt u. a. auch verbale Beschreibungen, vergleicht diese mit
den Skizzen der Testpersonen und lässt ferner Fotografien von bestimmten
Orten nach ihrer vermeintlichen Lage im Stadtplan anordnen[19].
Dabei macht er keine konkreten Aussagen über mentale Zusammenhänge zwischen
den Fotografien als Form dreidimensionaler Repräsentationen und den
zweidimensionalen Karten[20].
„Maps in Minds“ – Downs und Stea
Obwohl Lynch nie explizit behauptet, Wahrnehmung und Orientierung verlaufe
nur nach einem einzigen Schema, nämlich dem der kognitiven Karte, scheint
die Kritik von Roger M. Downs und David Stea jedoch genau darauf abzuzielen.
Downs und Stea schreiben:
„Es gibt keinen Grund für die Annahme, daß kognitive Karten
notwendigerweise die gleiche Signatur aufweisen sollten wie topographische
Landkarten. Vor allen Dingen sollten wir uns als Experimentatoren nicht
derart verrennen, daß wir Versuchspersonen veranlassen, kognitive Karten als
topographische Karten darzustellen, die wir dann anhand tatsächlicher
geographischer Karten ‚verifizieren‘. Insofern ist es auch von Bedeutung,
daß Lynch (1960) in seiner ursprünglichen Untersuchung verschiedenartige
Inputsignaturen (verbale und grafische), aber nur eine einzige graphische
Outputsignatur zur Erstellung der heute berühmten Karten von Boston, Jersey
City und Los Angeles verwandte.“[21]
Unter Signatur verstehen der Geograph Downs und der Psychologe Stea in
ihrer gemeinsamen Publikation „Maps in Minds“ von 1977 jedoch nicht etwa
eine bestimmte Symbolik, mit der Lynch entsprechende physische Karten
anfertigte, sondern vielmehr ist nach Downs und Stea die physische Karte
selbst eine mögliche Signatur der kognitiven Karte. Als weitere mögliche
Signaturen werden verschiedene bildliche und verbale Darstellungen
mündlicher und schriftlicher Art genannt und unter dem Begriff der
kognitiven Karte zusammengefasst[22]. Nach Downs und Stea ist
„[e]ine kognitive Karte
[…] ein Produkt, […] eines Menschen strukturierte Abbildung
eines Teils der räumlichen Umwelt. Beispiele hierfür sind: eine Faustskizze,
die den Weg zu unserem Haus zeigt; eine Auflistung der innerstädtischen
Gebiete, die man besser meidet, weil es dort gefährlich ist; ein Bild, das
ein Kind von seinem Haus und Wohngebiet malt, die Vorstellung, die man hat,
wenn man mit der U-Bahn die Stadt durchqueren will, oder die Reisebroschüre,
welche jene Orte beschreibt, die einen Besuch lohnen. Eine kognitive Karte
ist vor allem ein Querschnitt, der die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt
zeigt. Sie spiegelt die Welt so wider, wie ein Mensch glaubt, daß sie ist,
sie muß nicht korrekt sein.“[23]
Mit dem Begriff
Signatur soll „[…] eine deutliche und beabsichtigte Parallele zum
Charakter einer Handschrift, dem Malstil eines Künstlers wie Rembrandt oder
dem dramatischen Stil eines Shakespeare […]“[24] hergestellt
werden. Im
Zusammenhang mit den Signaturen werden ferner u. a. Souvenirpostkarten,
Tonbandaufzeichnungen von Wegbeschreibungen sowie Telefonbücher genannt.
Auch verbale
Beschreibungen seien nach Downs und Stea „[…] das Ergebnis von vier
Entscheidungen: über Zweck, Perspektive, Maßstab und Legende […]“[25]
und die Benutzung eine Telefonverzeichnisses wird – wenngleich auch in
Anführungszeichen – als Beispiel für „Kartenlesen“ genannt[26].
Das Generieren
kognitiver Karten bezeichnen Downs und Stea als „kognitives Kartieren“
bzw. „kognitive Kartographie“.
An den vorangegangen
Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, dass der Begriff der kognitiven
Karte bei Downs und Stea also eine beträchtliche Erweiterung findet. Zwei-
und dreidimensionale mentale Repräsentationen werden unter einem Terminus
subsumiert, der ursprünglich den zweidimensionalen Darstellungen vorbehalten
war. Die generalisierende Verwendung des Begriffs „kognitive Karte“ hat
neben dem eher populärwissenschaftlichen Stil des Buches zu Mehrdeutigkeiten
und in der Folge offensichtlich zu einer Reihe von Problemen und
Verwirrungen geführt.
Zusätzlich mag
zumindest im deutschsprachigen Raum auch die Übersetzung der englischen
Begriffe „map“ und „mapping“ durch „Karte“ und „Kartieren“ bzw.
„Kartographie“ zu Konfusionen beigetragen haben. Während „map“ im Deutschen
neben „Karte“ ebenso durch „Abbildung“ oder auch „Liste“ wiedergegeben
werden kann, ist es zumindest auch möglich, „mapping“ außer „Kartieren“
durch „Abbilden“ zu übersetzen.[27]
Auch die
Tatsache, dass Downs in einer späteren Publikation die mental maps als
doppelte Metapher charakterisiert, und zwar zum einen als „[…] Metapher
für ein Aggregat räumlichen bzw. geographischen Wissens [und zum anderen
als] Metapher für eine Form der geometrischen Abbildung von
geographischen Sachverhalten mit graphischen Mitteln […]“[28],
trägt nicht wesentlich zur Klärung der Frage bei, in welchem Zusammenhang
zwei- und dreidimensionale kognitive Repräsentationen zueinander stehen.
Mentale
Landkarten und mentale Modelle
– Mark
May
Der Psychologe Mark May merkt an, dass die meisten Forscher
das Konzept der „mentalen
Landkarte“ nicht wörtlich nehmen,
„[…] sondern in einer übertragenden Bedeutung als Begriff
zur Kennzeichnung einer speziellen Variante von mentaler Repräsentation
verwende[n]“[29].
In seiner Untersuchung zu mentalen Modellen von Städten am Beispiel von
Münster resümiert er 1992, dass die Forschung zu den mentalen Landkarten –
einem aus seiner Sicht
„[…] zwar schillernden, aber auch irreführenden Konstrukt“[30]
– „[…]
mit
verschiedenen grundlegenden Problemen konfrontiert ist[…]“[31].
May ist denn auch bestrebt, in seiner Arbeit aufzuzeigen, dass dieses
Leitkonstrukt eher hemmend als anregend auf die Forschung wirke.
Zunächst einmal zieht er sogar in Erwägung, eine „[…] schlichte
Streichung oder auch eine Ersetzung des problematischen Konzepts der
Landkarte vorzuschlagen […]“[32], kommt dann aber zu dem
Schluss, dass es hierbei „[…] wohl bei einem gutgemeinten, aber kaum
beachteten Vorschlag […]“[33] bliebe.
Offensichtlich gehört
May jedoch nicht zu den Forschern, die die Existenz der kognitiven Karten
grundsätzlich bestreiten[34], denn er strebt an, mit seinen
Untersuchungen „[…] eine positive Besetzung des als problematisch
erachteten Konzepts zu bewirken“[35].
Sein Hauptaugenmerk ist dabei nicht auf Repräsentationen gerichtet, die sich
stark an den Konventionen physischer Karten orientieren, sondern auf die
Aspekte der Dreidimensionalität. Dies wird an Mays Interesse an
perspektivischen Bildern, die als „wirkliche[r]
dreidimensionale[r]
Sachverhalt“[36] erlebt werden, ebenso deutlich wie
am Konzept des mentalen
Modells, das er einführt. May unterscheidet bei diesem zwischen
Knotenpunkt-, Strecken- und
Überblickswissen[37].
Unter Berufung auf
Siegel und White geht er davon aus, dass Knotenpunkt-, Strecken- und
Überblickswissen in der hier genannten Reihenfolge erlernt werden[38].
Empirisch
arbeitet May für das Fallbeispiel der Stadt Münster u. a. mit einem
physischen Modell markanter Gebäude im Innenstadtbereich. Mit Fotografien
wird vorab geprüft, ob den Versuchspersonen die Modellsituation in der
Realität hinreichend bekannt ist. Eines der Ergebnisse seiner Experimente
ist, dass die Testpersonen offensichtlich Vorzugsperspektiven auf das
physische Modell einnehmen, die sich zum Teil mit den Richtungen decken, in
denen sich ihre Wohnorte, bezogen auf den im Modell dargestellten Ausschnitt
der Stadt, befinden[39]. Mit diesem Experiment ist nach Mays
Auffassung „[…]
ein erster
positiver Nachweis von perspektivspezifischen Repräsentationen der Stadt
erbracht.“[40]
„Karten-“ und „Straßenwissen“
– Johannes Engelkamp
(Ruth Schumann-Hengsteler)
Fast zeitgleich
mit May trägt m. E. Johannes Engelkamp,
Kognitionspsychologe
an der Universität Saarbrücken, wesentlich zur Klärung des Verhältnisses
zwischen zwei- und dreidimensionalen kognitiven Raumrepräsentationen bei.
Engelkamp stellt 1990 dar, dass die Forschung, die unter dem
„Etikett“ der
kognitiven Landkarte die Frage diskutiert, „[w]ie […] Räume
encodiert und erinnert“[41] werden, zwischen zwei Formen
der kognitiven Landkarte, sogenannten „Überblickskarten“ und „Straßenkarten“
unterscheidet.
„‚Überblickskarten‘ erwirbt man [demnach] in der Regel durch das
Studium von Landkarten, Grundrissen etc. Die Karten werden als Ganzes mit
allen räumlichen Beziehungen zwischen den Raumpunkten zweidimensional
repräsentiert. […] ‚Straßenkarten‘ erwirbt man, indem man einen
physikalischen Raum, z. B. eine konkrete Stadt, direkt erfährt, z. B. indem
man durch den Raum wandert. In Straßenkarten werden im Prinzip die
Bewegungen der Person im Raum gespeichert […].“[42]
Trotz oder gerade
aufgrund seines Hinweises auf die überwiegend metaphorische Verwendung der
Begriffe
„Überblicks-“ und „Straßenkarte“ plädiert Engelkamp für eine neue
Terminologie. Als problematisch sieht er offensichtlich das Konzept der
„Straßenkarte“ an, und es scheint mir ein wichtiger Schritt Engelkamps zu
sein, sich bei Repräsentationen, die durch Bewegungen im physischen Raum
entstehen, zunächst einmal vom Begriff der Karte zu lösen. Engelkamp führt
anstelle von „Überblicks-“ und „Straßenkarte“ die Termini „Karten“- und
„Straßenwissen“ ein und weist gleichzeitig darauf hin, dass beide als
Konstrukte zu verstehen seien[43]. Dabei entspricht Kartenwissen
jenen Repräsentationen, die bis dahin als Überblickskarten bezeichnet
wurden, also den zweidimensionalen Raumrepräsentationen. „Das
Entscheidende am Kartenwissen ist, daß räumliches Wissen über einen
bestimmten Raum praktisch wie eine Bildmarke vorzustellen ist.“[44]
Das Konzept der Bildmarke bedeutet u.a., dass Kartenwissen als Ganzes
repräsentiert wird und abrufbar ist, Beziehungen zwischen einzelnen Orten
wie Distanzen und Richtungen nach einer euklidischen Metrik bestimmt werden
und dass sich die Person auch in der Vorstellung außerhalb der Karte
befindet[45].
„Straßenwissen, das den ‚Straßenkarten‘ entspricht, ist dagegen
dreidimensionales Raumwissen, das aufs engste mit der eigenen Körperbewegung
im Raum verbunden ist.“[46] Straßenwissen stellt also keine
Gesamtrepräsentation eines Raumes dar, sondern beruht auf einer sukzessiven
Wahrnehmung von Ausschnitten[47]. „Um zu einer
Gesamtrepräsentation des Raumes zu kommen, müssen sowohl die einzelnen
Ausschnitte zu einem Ganzen integriert als auch die wechselnden
Orientierungen berücksichtigt werden. Dies gelingt nicht immer. Häufig hat
eine Person Teilräume repräsentiert, die nicht zu einer konsistenten
Gesamtrepräsentation integriert sind.“[48]
Engelkamp konstatiert, dass „[…] Straßenwissen ein anderes und
komplexeres Gedächtnissystem reflektiert als Kartenwissen. Während die
Leistungen, die auf Kartenwissen zurückgeführt werden, noch mit Hilfe des
Bildmarkensystems erklärt werden können, ist zur Erklärung von Straßenwissen
ein weiteres Gedächtnissystem zu fordern, das ich [Engelkamp; J.S.]
dreidimensionales Raumsystem nenne.“[49] Engelkamp fährt fort:
„Die Betrachtung von Straßenwissen hat gezeigt, daß unsere
Gedächtnisstruktur für Raumwissen komplexer ist, als bisher deutlich
wurde. Das visuell-räumliche System ist zu ergänzen durch eine dynamische
Komponente, die durch die eigene Körperbewegung ins Spiel kommt.“[50]
An Engelkamps Beitrag wird somit deutlich, dass die Forschung offensichtlich
bis zum Ende der 80er-Jahre davon ausgegangen ist, dass nur eine
Repräsentationsform räumlichen Wissens existiere: die der kognitiven Karten.
Dabei war man sich durchaus nicht einig darüber, wie diese Karten beschaffen
seien. Probleme, die aus der Zweidimensionalität erwuchsen, hatte man
offensichtlich durch den Verweis auf die Metaphorik des Begriffs der
kognitiven Landkarte zu umgehen versucht.
Engelkamp fordert daher
also die differenzierte Betrachtung von zwei und dreidimensionalen
Repräsentationen, und das zuvor erwähnte Konzept des mentalen Modells von
Mark May kann als Versuch gewertet werden, der Forderung Engelkamps nach
einem dreidimensionalen System nachzukommen. Ruth Schumann-Hengsteler hat
1995 die Konstrukte von Karten- und Straßenwissen aufgegriffen und in Form
der hier wiedergegebenen Tabelle zusammengefasst:
Kartenwissen |
Straßenwissen |
zweidimensional
betrachterzentriert
orientierungsabhängig
ganzheitlich simultan voegegeben
statisch
euklidische Distanz symmetrisch
schematische Symbole |
dreidimensional
objektzentriert
orientierungsfrei
in Ausschnitten sukzessive erworben
bewegungsbezogen
Straßendistanz asymmetrisch
realistische Orientierungspunkte |
Übersicht 1: Gegenüberstellung von Karten- und Straßenwissen nach
Schumann-Hengsteler
Virtuelle taktile Karten – Jochen
Schneider
Jochen
Schneider – im Gegensatz
zu Stea, May, Engelkamp und Schumann-Hengsteler nicht Psychologe, sondern
Informatiker – hat sich mit dem Thema der kognitiven Raumrepräsentationen
befasst, um in Gestalt von
virtuellen taktilen Karten
ein neues
computerbasiertes Medium
zur Darstellung räumlicher Strukturen für Blinde entwickeln zu können[51].
Hier besteht also eine Annäherung an Fragen mentaler Repräsentation
räumlichen Wissens, die zumindest in ihrer Intention mit der von Architekten
und Stadtplanern wie etwa Kevin Lynch vergleichbar ist.
Es geht hier nicht wie bei psychologischen Forschungen um die Erklärung von
Funktionsabläufen des Menschen einschließlich seiner mentalen Welt, vielmehr
muss das Wissen um kognitive Zusammenhänge bei der Orientierung und Bewegung
im Raum für den Informatiker operationalisierbar sein. Als notwendige
Voraussetzung hierzu nimmt Schneider zunächst einmal eine Auswertung und
Zusammenfassung verschiedener Quellen vor, wobei er sich u. a. auf
Schuman-Hengsteler und damit wiederum auf Engelkamps Differenzierung in
Karten- und Straßenwissen bezieht.
Erwähnenswert
erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass Schneider hinsichtlich des
Abstraktionsgrades der Vorstellungen eines bestimmten Gebietes von einem
Kontinuum zwischen dem Eindruck beim Gehen durch dieses Gebiet und einer
physischen Karte desselben ausgeht. Dabei differenziert er zwischen
folgenden Abstraktionsgraden:
1.
dem
„Eindruck beim Gehen“
2.
der
„Routenperspektive“, der das „dreidimensionale Straßenwissen“
entspricht
3.
der „Horizontperspektive“,
der eine „sequentielle Routenkarte bzw. Netzwerkkarte“ entspricht[52]
4.
der „Überblicksperspektive“,
der Blicke von gebauten oder natürlichen Erhebungen aus entsprechen und die
durch eine Vektor- bzw. räumliche Routenkarte repräsentiert wird
5.
schließlich
der Aufsicht auf das „physische Medium Karte“ mit dem höchsten
Abstraktionsgrad[53].
„Räumliches Wissen entsteht [nach Schneider; J. S.] hauptsächlich von den
beiden Enden der Abstraktionsfolge her, also durch die eigene Anschauung
beim Gehen einerseits oder aus Karten andererseits. Die Stufen dazwischen
lassen sich jedoch auch auf verbreitete Methoden der Vermittlung bzw.
Erlangung räumlichen Wissens abbilden.“[54]
Zwangsläufig fällt die theoretische Auseinandersetzung Schneiders
detaillierter aus als bei Lynch, denn erstens ist die Entwicklung einer
physischen Karte – auch wenn diese virtuell und taktil ist – näher am
Gegenstand der kognitiven Karte als die Entwicklung von Qualitätskriterien
für „gute“ Stadträume.
Zweitens kann und muss
Schneider auf umfangreiche Forschungen und Erkenntnisse unterschiedlicher
Teildisziplinen der Psychologie zurückgreifen, die zu Lynchs Zeit noch nicht
vorlagen.
Dennoch ist man auch heute offensichtlich weit davon entfernt, behaupten zu
können, dass mentale Repräsentationen von Räumen hinreichend erforscht
seien. Schneider
merkt 2001 an, dass es immer noch relativ wenig gesicherte Erkenntnisse über
das Verfolgen von Wegen gibt, zieht allerdings als Beleg hierfür ein Zitat
von Downs und Stea aus dem Jahr 1977 heran[55]. Die Einschätzung
von Schneider wird allerdings – zumindest noch vor ein paar Jahren – auch
von anderen Wissenschaftlern bestätigt, die dabei zum Teil auf noch ältere
Quellen zurückgreifen. So bezieht sich Ruth Schumann-Hengsteler 1995 in
einem Resümee zum Forschungsstand über das räumliche Gedächtnis u. a. auf
folgende Bemerkung von Jammer aus dem Jahre 1954: „Like all science, the
science of space must still be classed as unfinished business.“[56]
Karl Friedrich Wender konstatiert 1999: „Wie eine mentale Repräsentation
aussieht, die durch Navigation in einer Umgebung erworben wurde, ist bisher
relativ wenig untersucht.“[57] Weiterer Forschungsbedarf scheint
also durchaus gegeben zu sein.
Ausblick: Die
Positionierung eines phänomenologischen Ansatzes zwischen Psychologie und
Architektur
Ursächlich für den in vielen Punkten noch ungesicherten Erkenntnisstand ist
wahrscheinlich auch das Grundproblem bei der Erforschung mentaler Welten,
das May in seiner Publikation herausgearbeitet hat. Dieses Problem
manifestiert sich in der Diskrepanz zwischen Teilnehmer- und Beobachtersicht[58].
May sieht hierin einen der Hauptgründe für die konstatierten Unklarheiten
und Verwirrungen im Diskurs zu den mentalen Karten. Während die
Teilnehmersicht, also die Innenperspektive auf die eigenen mentalen
Vorstellungen den einzigen direkten Zugang zu mentalen Welten darstellt,
eine intersubjektive Überprüfbarkeit aber gerade deshalb nicht einfach zu
handhaben ist, wird
dagegen mit der
Beobachtersicht
einem Individuum durch einen außen stehenden Beobachter eine bestimmte
mentale Innenwelt unterstellt[59]. Ein Extrembeispiel hierfür ist
m. E. Tolman, der 1948 aus seinen Labyrinthexperimenten mit Ratten auf das
Vorhandensein von kognitiven Karten bei diesen und daraufhin auch bei
Menschen schließt. Downs und Stea weisen darauf hin, dass wir offenbar dazu
neigen, „[…] jeder anderen Kreatur unsere eigene menschliche Art der
Auffassung und Kognition zuzuschreiben.“[60]
In der sinnvollen
konzeptionellen und methodologischen Verknüpfung beider Perspektiven –
Teilnehmer- und Beobachtersicht – sieht May eine wichtige Voraussetzung für
den Erfolg weiterer Forschungen[61]. Allerdings scheint mir dabei
die Präferenz der einen oder der anderen Sicht entscheidend beeinflusst von
den Untersuchungszielen und den methodischen Traditionen unterschiedlicher
Fachrichtungen.
Wie sich bereits an
den bisherigen Ausführungen gezeigt hat, sind die erkenntnisleitenden
Interessen der jeweiligen Disziplinen an der Auseinandersetzung mit
Raumwahrnehmung, Raumorientierung und mentaler Raumrepräsentation durchaus
verschieden. Architekten und Städtebauer erwarten aus der Auseinandersetzung
mit Rezeption und Repräsentation von Raum Erkenntnisse, Kriterien und im
Idealfall Werkzeuge für die Produktion und Manipulation von Raum. Dies wurde
bereits vor einigen Jahrzehnten an den gestaltungsorientierten Arbeiten
Kevin Lynchs, wie dem ausführlich thematisierten „Bild der Stadt“, der Suche
nach der „Essenz ihrer äußeren Gestalt“[62] bzw. der „good city
form“[63], deutlich.
Heute stehen Fragen nach der Aktualität der Lynchschen Ansätze, der
Übertragbarkeit städtebaulicher Entwurfsmethoden auf
landschaftsgestalterische Aufgaben[64] und der Wandlung einer
wachstumsorientierten in eine den Schrumpfungsprozessen angemessene Planung
ebenso unter dem
Vorzeichen der Raumproduktion und -veränderung wie Fragen nach der viel
diskutierten Objektbezogenheit[65] von Architektur, den
Minimalforderungen an
ein räumliches Objekt oder an eine räumliche Situation, um – vielleicht
sogar in Gestalt einer gezielt platzierten Baulücke – noch als Merkzeichen
zu funktionieren. Wie kann Orientierung auch mit kostengünstigen Maßnahmen
garantiert werden?
Diese Probleme, die Architekten und Stadtplaner bewegen, spielen allerdings
bei der Erforschung mentaler Welten durch die Psychologie kaum eine Rolle.
Schließlich liegen sie nicht im Hauptinteressensfeld der Psychologen, die
sich – wie gezeigt wurde – bisher wohl am intensivsten mit der
Raumwahrnehmung und Orientierung auseinander gesetzt haben. Raumwissen ist
für Psychologen vielmehr mit der Frage nach dem abstrakten Lernen von bzw.
dem Erinnern an Distanzen und Richtungen verbunden, wenngleich hin und
wieder auf die Koexistenz von Raumwissen im psychologischen Sinn und „konzeptuellem“
bzw. „semantischem Wissen“ über „Landmarks“ und
„Orientierungspunkte“ verwiesen wird[66].
Psychologen
arbeiten i. d. R. bekanntlich mit Laborexperimenten unter stark
vereinfachten Bedingungen, um möglichst viele Variablen konstant zu halten[67].
Diese Methodik zur Erforschung von Detailfragen mentaler
Raumrepräsentationen durch die Psychologie, die zum Teil auch mit
physiologischen Problemstellungen wie der
genauen Lokalisation des
für die kognitive Verarbeitung räumlicher Zusammenhänge verantwortlichen
Gehirnbereichs verbunden ist, scheint eher wenig geeignet, die Fragen der
Architekten nach den Konsequenzen der Rezeption von Raum für die
Produktion desselbigen zu beantworten. Einen der Gründe hierfür sehe ich
auch in der in sich durchaus schlüssigen Konzentration der Psychologie auf
die Beobachtersicht. Geradezu paradigmatisch für die Disziplin scheint mir
in diesem Punkt die Position von Mark May. Obwohl er konstatiert, dass es
sich bei der Teilnehmersicht „[…] um den einzigen direkten Zugang zur
mentalen Welt […]“[68] handelt, bekennt er sich eindeutig zum
„[…] Primat der Beobachtersicht als beste Voraussetzung zur
wissenschaftlichen Theorie- und Empiriebildung über Wissen […]“[69]
und bemerkt, dass „Ansätze, die sich grundlegend mit der Teilnehmersicht
auf die mentale Welt beschäftigen, […] in der Psychologie selten
[…]“[70] seien.
Gerade hier sehe
ich nun eine Chance für einen phänomenologischen Ansatz im Sinne einer
intuitiven Wesensschau, der sich stärker an den Problemstellungen der
Architekten orientiert. Die
Teilnehmersicht entspricht
auch der Arbeitsweise des planenden Architekten, der für die
Selbstbeobachtung seiner eigenen Raumwahrnehmung sensibilisiert sein sollte,
um qualitätvolle Räume produzieren zu können.
Angesichts der Problematik der intersubjektiven Überprüfbarkeit erscheint es
mir allerdings als eine besondere Herausforderung, bei einem
phänomenologischen Vorgehen nicht in populärwissenschaftliche Gefilde
abzudriften. Dies ist streckenweise bei Lynchs „Bild der Stadt“ zu
beobachten, noch stärker jedoch bei „Maps in Minds“ von Downs und Stea, die
hinsichtlich der Lektüre ihres Buches empfehlen, „[…] zu einem Mittel zu
greifen, das von Wissenschaftlern normalerweise gemieden wird, nämlich dem
der beschaulichen Einkehr ins eigene Innenleben.“[71] Diese
soll daher nicht losgelöst von einer umfangreichen Analyse der verschiedenen
Diskurse zu mentalen Repräsentationen erfolgen.
Ich erwarte mir
von einer solchen Herangehensweise Erkenntnisse zur Klärung des
Verhältnisses zwischen zweidimensionalen mental maps, dreidimensionalen
„mental models“[72] und dreidimensional-perspektivischen Bildern
als unterschiedliche Formen mentaler Repräsentationen, wobei letztere m. E.
in perspektivische Einzelbilder und zusammenhängende „filmische“ Sequenzen
zu differenzieren sind. Ferner möchte ich Antworten auf Fragen im realen
Kontext suchen, die sowohl für Psychologen, Geistes- und
Kulturwissenschaftler als auch für Architekten von Interesse sein könnten,
so etwa, wie sich Wahrnehmungsmuster mit neuen Formen der Raumerfahrung,
neuen Lebensgewohnheiten und neuen Orientierungshilfen ändern. Ein Beispiel
dafür ist die fortschreitende Entwicklung von Navigationssystemen im Auto.
Derzeit arbeitet man hier an Systemen, die die Wegbeschreibungsinformationen
künftig auf die Windschutzscheibe projizieren oder durch Vibrationen im Sitz
an den Fahrer weitergeben[73]. Thomas Sieverts zeigt sich – hier
übrigens durchaus in der Tradition von Kevin Lynch – beunruhigt über diese
Entwicklung:
„Mit unseren Navigations- und Orientierungssystemen im Auto
können wir nahezu bewusstlos durch die Gegend fahren.
[…] Wir nehmen nicht
wahr, sondern bewegen uns in einem Kanal von Punkt A zu Punkt B, und nur die
Punkte werden ästhetisch wahrgenommen, die wir instrumentell benötigen. Und
das halte ich für verhängnisvoll, weil diese Wahrnehmung bedeutet, dass man
sich um das, was in der verstädterten Landschaft entsteht, überhaupt nicht
mehr sorgt.“[74]
Sind diese Sorgen begründet, oder findet hier nicht möglicherweise eine
Verschiebung der Wahrnehmungsabläufe hin zu Stimulus-Response-Mustern statt,
von denen sich die Forschung seit Tolmans Experimenten mit Ratten 1948
wegbewegt hat? Verliert nicht die Notwendigkeit an mental maps, von deren
Existenz ich im Gegensatz zu Gibson ausgehe, an Bedeutung? Haben wir noch
das gleiche Bedürfnis nach Überblickswissen wie zu Zeiten Kevin Lynchs oder
lernen wir damit umzugehen, dass unsere mental maps immer fragmentarischer
werden, weil sich einerseits unser Mobilitätsradius stetig erweitert
und damit die notwendigen Informationen zur zielgerichteten Bewegung im Raum
nicht mehr ohne Hilfsmittel zu bewältigen sind und weil andererseits diese Hilfsmittel, die McLuhan,
gemäß seinem breit gefassten Begriff von Medien, als „Ausweitungen des
Körpers“[75] begreifen würde, immer perfekter werden?
Auch wird die Karte als Repräsentation des Raumes nach einer These von Götz
Großklaus von einer neuen Karte verdrängt, die nicht mehr primär nach
räumlichen, sondern nach zeitlichen Kategorien codiert wird[76].
Aber wie sieht eine solche kognitive Zeitkarte aus? Dies sind m.E. Fragen,
die sowohl den geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen, aber auch den
psychologischen Forscher bewegen und die möglicherweise mit einem
phänomenologischen Ansatz geklärt werden können.
Zunächst einmal erachte ich es allerdings für notwendig, einige
terminologische Bestimmungen vorzunehmen. Zueinander zu positionieren sind
dabei sowohl die Begriffe „Wahrnehmung“, „Orientierung“ und „mentale
Repräsentationen“ als auch unterschiedliche Formen der letzteren – die
„mental maps“, „mental models“, „mental movies“[77] und die
dreidimensional-perspektivischen Einzelbilder. Mentale Repräsentationen
lassen sich aus meiner Sicht, wie folgt, zwischen Wahrnehmung und
Orientierung positionieren: Mentale Raumrepräsentationen sind einerseits
Produkt der Raumwahrnehmung, gleichzeitig aber Voraussetzung für die
Orientierung. Orientierung[78] wird dabei – im Gegensatz zu Donald
R. Griffin, der diese als eine Form von Wissen bezeichnet[79] – als
ein komplexer Prozess aufgefasst. Gleiches gilt für die Wahrnehmung. Dagegen
sind die mentalen Repräsentationen als Ausprägungen von Wissen zu
charakterisieren[80]. Eine erste Differenzierung unterschiedlicher
Formen mentaler Repräsentationen nach Abstraktionsgrad und
Integrationsleistung zeigt die folgende Grafik:
Übersicht 2: Differenzierung unterschiedlicher Formen mentaler
Repräsentationen nach Abstraktionsgrad und Integrationsleistung
Der phänomenologische Ansatz, den ich in den nächsten Jahren verfolgen
möchte und der ähnlich wie Schneiders Arbeit motiviert ist, einen Anwendungsbezug herzustellen, könnte eine fruchtbare Ergänzung zu den
zahlreichen psychologischen Forschungen darstellen und als Fernziel
vielleicht einmal in eine transdisziplinäre Grundlagenforschung münden, denn
schließlich kann und soll nicht auf die von May eingeforderte Verknüpfung
von Teilnehmer- und Beobachtersicht verzichtet werden.
Anmerkungen
In diesen Aufsatz
sind verschiedene Anregungen aus Diskussionen während der interdisziplinären
Konferenz „Gebaute Räume. Zur kulturellen Formung
von Architektur und Stadt“ vom 23.-25.06.2004 an der BTU Cottbus
eingeflossen.
Ich habe davon Abstand genommen, diese dreidimensional-perspektivischen
Bildeindrücke grundsätzlich als „fotorealistisch“ zu bezeichnen. Zwar ist
nicht auszuschließen, dass tatsächlich auch eine fotorealistische
Speicherung von Raumeindrücken erfolgen kann, aber davon auszugehen, dass
alle dreidimensionalen Bilder in ausreichender Schärfe und Detailgenauigkeit
repräsentiert werden, ist vermutlich eine unzulässige Verkürzung. Ich möchte
die noch ungeprüfte These in den Raum stellen, dass die mentale Erzeugung
eines fotorealistischen Bildes eine Integrationsleistung darstellt, deren
Erfolg von verschiedenen Faktoren, wie z. B. der Ökonomie der
Aufmerksamkeit, abhängig ist.
Vgl. ebd., S. 67.
Lynch 1960/1989, S. 5.
Sieverts 1997, hier: S. 56
Lynch 1960/1989, S. 17.
Ebd., S. 60.
Ebd., S.12. sowie S. 20.
Ebd., S. 60.
Ebd., S. 25ff.
Vgl. ebd., S.161ff.
Vgl. ebd.
Vgl. ebd., S. 151ff.
Vgl. May 1992, S. 67.
May 1992, S. 68. Vgl. hierzu auch Tolman, E.C.: Cognitive maps in rats and
men, in: Psychological Review, 55 (1948), S. 189-208.
Lynch 1960/1989, S. 175.
Ebd., S. 145.
Vgl. ebd., S. 161ff.
Da Lynch aber an Kriterien zur
Entwicklung von Stadtstrukturen interessiert ist, die sich natürlich durch
Karten und Pläne am besten abbilden lassen, ist die Karte für seine
Untersuchungen von größerer Bedeutung als es z.B. die Fotos einzelner Orte
sind.
Downs/Stea 1985, hier: S. 23.
Vgl. hierzu Downs/Stea 1977/1982, S. 90ff.
Ebd., S. 24.
Ebd., S. 97.
]
Ebd., S. 96.
Vgl. ebd., S. 93.
Vgl. http://dict.tu-chemnitz.de/
]
May 1992, S. 75. Vgl. hierzu auch: Downs, Roger M: Maps and mapping as
metaphors for spatial representation, in: Spatial representation and
behavior across the life span, hrsg. von L.S. Liben / A.H. Patterson / N.
Newcombe, New York 1981, S.143-166).
]
May 1992, S. 75.
Ebd., S. 10.
Ebd., S. 73.
Ebd., S. 79.
Ebd.
]
Als Randbemerkung sei erwähnt, dass es auch entschiedene Gegner der mental
maps gibt, wie z.B. James J. Gibson, dessen Theorie der Ökologischen Optik
sich eher mit Reizen als mit Wahrnehmungsmechanismen auseinander setzt.
(Vgl. hierzu
Gibson, James J.: The Ecological Approach to
Visual Perception, Boston 1979).
]
May 1992, S. 79.
Ebd., S. 177.
Ebd., S. 75.
]
Ebd., S. 84.
]
Vgl. ebd., S. 161ff.
Ebd., S. 216.
Engelkamp 1990, S. 224.
Ebd.
Vgl. ebd., S. 225ff.
]
Ebd., S. 225.
]
Vgl. ebd. Es wäre in diesem Zusammenhang interessant zu prüfen, ob sich die
Bildmarke Engelkamps nicht weitgehend mit Lynchs Terminologie des
„Vorstellungsbildes“ deckt, wobei letzteres nicht so eindeutig als
zweidimensional zu charakterisieren ist wie der Begriff des Kartenwissens.
Ebd., S. 224.
Vgl. ebd., S. 226.
]
Ebd.
Ebd., S. 225.
]
Ebd., S. 228.
]
Vgl. hierzu
http://isgwww.cs.uni-magdeburg.de/~josch/Diss/Kurzfassung.html
Schneider geht davon aus, dass verbale Routenbeschreibungen mit dieser
sequentiellen Routen- bzw. Netzwerkkarte korrespondieren. „Netzwerkkarten
bestehen aus Strecken, die durch Kreuzungen verbunden sind. Orte werden als
Knoten auf den Strecken abgespeichert. In Netzwerkkarten aus der Theorie von
Byrne und Salter [von 1983; J.S.] fehlen Streckenlängen und Winkel
zwischen Strecken.“ (Ebd.)
Vgl. ebd.
]
Ebd.
Vgl. ebd.
]
.
]
Wender 1999, hier S. 71f.
Vgl. May 1992, S. 6ff.
Vgl. ebd.
Downs/Stea 1977/1982, S. 41.
Vgl. May 1992, S. 8ff.
]
Vgl. Lynch 1960/1989, S. 166.
]
Vgl. hierzu Lynch, Kevin: A theory of good city
form,
Cambridge, Mass.
1981.
]
Für einen verstärkten Bedarf an landschaftsarchitektonischen Lösungen
sprechen sowohl praktische Interventionen wie die IBA Fürst-Pückler-Land
(vgl. hierzu
www.iba-fuerst-pueckler-land.de)
oder die IBA Stadtumbau (vgl. hierzu http://www.iba-stadtumbau.de), die mit
dem Schrumpfen der Städte konfrontiert sind, als auch neuere theoretische
Stadtmodelle wie das von Franz Oswald und Peter Baccini an der ETH Zürich
entwickelte Netzstadtmodell, bei dem bebaute Gebiete ebenso integrierte
Komponenten eines urbanen Systems darstellen, wie die Territorien für
Wasser, Wald und Nahrungsmittelproduktion – die „kolonialisierten
Ökosysteme der Land- und Forstwirtschaft“
(vgl. Oswald/Baccini 2003, S. 46).
] Die Diskussion hierzu wurde u. a. belebt durch einen Beitrag
von Alain Guiheux – bis 2002 Kurator für Architektur am Centre Pompidou. Bei
einem Vergleich der Ansätze von Rem Koolhaas und MVRDV geht Guiheux davon
aus, dass das architektonische Objekt heute seine Relevanz verloren habe und
konstatiert einen Paradigmenwechsel der Architektur, ähnlich fundamental wie
die Differenzierung der Kunst in Prä- und Post-Duchamp (vgl. Guiheux 2003,
hier: S. 117).
Vgl. Engelkamp 1990, S. 227f. sowie .
]
Ein klassisches Beispiel für die Arbeitsweise von Psychologen ist das
Experiment zur mentalen Rotation. Hier werden den Versuchspersonen
Buchstaben in Normal- und Spiegelschrift vorgelegt, die noch zusätzlich in
unterschiedlichen Winkeln gedreht sind. Die Versuchspersonen müssen bei den
verdrehten Buchstaben jeweils entscheiden, ob diese spiegelverkehrt sind
oder nicht. Hierbei wird die Zeit gemessen. Es zeigt sich bei diesem
Experiment, dass die Zeit, die die Versuchspersonen benötigen, abhängig vom
Rotationswinkel ist (vgl. Becker-Carus/Herbring 1997, S. 155ff.). Zur
Erforschung des „semantischen Wissens“ würde sich ein Heranziehen der
Theorien des kulturellen Gedächtnisses empfehlen (vgl. hierzu: Assmann,
Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen
Gedächtnisses, München 1999). Eine transdisziplinäre Forschung, wie bereits
1977 durch Downs und Stea praktiziert, wäre auch hier wünschenswert.
May 1992, S. 6.
]
Ebd., S. 8.
Ebd., S. 31.
Downs/Stea 1977/1982, S. 52.
Mentale Modelle möchte ich dabei in einem direkteren Wortsinn verstehen als
Mark May, der sehr abstrakt von primärer und sekundärer Modellierung spricht
und den mentalen Bereich zwischen realweltlichem und semiotischem Bereich
sowie zwischen empirischen und spekulativen Modellen verortet (vgl. May
1992, S.18ff.). Wenn ich dagegen von mentalen Modellen spreche, dann meine
ich dreidimensionale mentale Konstrukte, die – wie die mental
maps mit den physischen Karten – mit physischen Modellen oder virtuellen
Computermodellen korrespondieren.
Vgl. hierzu einen Bericht in DIE WELT:
http://www.wams.de/data/2004/05/30/284312.html
Sieverts 2003, hier: S. 148.
] Vgl. McLuhan 1964/1992, S. 11.
Vgl. Großklaus 1995, S. 106.
Diesen Begriff werde ich für Sequenzen dreidimensional-perspektivischer mentaler
Bilder verwenden.
]
Die Psychophysik differenziert Orientierung in „motorische
Raumorientierung“, die man auch als „orientiertes Verhalten“ bezeichnen
kann, und „perzeptive Orientierung“, ein „orientiertes Erleben“ (vgl. Schöne
1983, S. 5).
Griffin 1973, hier: S. 296.
]
Hier gehe ich mit den Auffassungen von Engelkamp und May konform (vgl.
Engelkamp 1990, S. 225ff. sowie May 1992, S. 5).
Literaturverzeichnis
Becker-Carus, Christian / Herbring, Heike: Allgemeine Psychologie. Das
psychologische Experimentalpraktikum I, Münster 1997.
Downs, Roger M. / Stea David: Kognitive Karten
und Verhalten im Raum, in: Sprache und Raum, hrsg. von H. Schweizer,
Stuttgart 1985, S. 18-43.
Downs, Roger M. / Stea, David (1977): Kognitive Karten. Die Welt in
unseren Köpfen, New York 1982.
Engelkamp, Johannes: Das menschliche Gedächtnis, Göttingen 1990.
Griffin, Donald R.: Topographical Orientation, in:
Image and environment. Cognitive mapping and spatial behavior, hrsg. von
Roger M. Downs / Davis Stea, Chicago 1973, S. 296-299.
Großklaus Götz: Medien-Zeit, Medien-Raum. Zum Wandel der
raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt a. M. 1995.
Guiheux, Alain: Systems, in: Reading MVRDV, hrsg. von Véronique Patteeuw,
Rotterdam 2003, S. 104-121.
Lynch, Kevin: Das Bild der Stadt, 2. Aufl. (1960), Braunschweig/Wiesbaden
1989, S. 5.
May, Mark: Mentale Modelle von Städten. Wissenspsychologische Untersuchungen
am Beispiel der Stadt Münster, Münster/New York 1992.
McLuhan, Marshall (1964): Die magischen Kanäle. „understanding media",
Düsseldorf/Wien/New York/Moskau 1992.
Oswald, Franz / Baccini, Peter: Netzstadt. Einführung in das Stadtentwerfen,
Basel/Boston/Berlin 2003.
Schöne, Hermann: Orientierung im Raum. Formen und Mechanismen der Lenkung
des Verhaltens im Raum bei Tier und Mensch, Stuttgart 1983.
Schumann-Hengsteler, Ruth: Die Entwicklung des visuell-räumlichen
Gedächtnisses, Göttingen 1995.
Sieverts, Thomas: Urbanität und Zwischenstadt, in: Vision Bodenseestadt.
Städtebauforschung zwischen Utopie und Machbarkeitsstudie, hrsg. von
Forschungsgruppe Bodenseestadt, Weimar 2003, S. 138-149.
Sieverts, Thomas: Wiedergelesen. Kevin Lynch und Christopher Alexander. Das
Aufbrechen und Wiedererfinden der Konvention – auf der Spur des Geheimnisses
lebendiger Räume und Städte, in: DISP 129 –
2/1997, hrsg. vom Institut für Orts-, Regional- und Landesplanung ETH
Zürich, S. 52-59.
Wender, Karl Friedrich: Kognitive Karten und Routenwissen, in:
Richtungen im Raum. Interdisziplinäre Perspektiven, hrsg. von Gert Rickheit,
Wiesbaden 1999, S. 71- 83.
Internetquellen
Schneider, Jochen: Konstruktive Exploration
räumlicher Daten (Dissertation), unter:
http://isgwww.cs.uni-magdeburg.de/~josch/Diss/Kurzfassung.html
Wörterbuch der TU Chemnitz:
http://dict.tu-chemnitz.de/
Quellennachweis der grafischen Übersichten
Übersicht 1: Schumann-Hengsteler, Ruth: Die Entwicklung des
visuell-räumlichen Gedächtnisses, Göttingen 1995, S. 137.
Übersicht 2: eigene Grafik.
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