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Öffnen und Schließen
sind ins Tierreich weisende Gesten unvordenklichen Alters. Sie begründen und
umschreiben die überlebensnotwendige Erfahrung eines bergenden Raumes wie
bei einer Muschel, die sich öffnet und schließt. Und sie sprechen von einer
Ambivalenz: Jedem sichernden Verschließen muss ein entsicherndes Öffnen
vorangegangen sein oder folgen, wie im Wechsel von Unterschlupf und
Nahrungssuche gefordert. Das Doppelmotiv gilt auch für das eigenleibliche
Innere, das sich entgegen aller Lebensvorsicht regelmäßig öffnen und
schließen muss: Iss nicht mit offenem Mund! Sprich nicht mit vollem Mund!
Wer weiß, welche Erfahrung hinter diesen Regeln guten Benehmens steckt. Auf
alten Bildern verließ die Seele einst ihren Leib durch den Mund, und im
Exorzismus entfuhren ihm die Teufel und Dämonen, die durch diese Pforte in
das Haus des Körpers hineingekommen sein mussten. Es war ratsam, den Mund
wie eine Tür geschlossen zu halten oder ihn zu versiegeln, damit kein
Geheimnis entschlüpfte.
Der Mund ist ein Loch, das ins Innere führt und wieder aus ihm heraus wie
das Loch, das der Zimmermann im Haus gelassen hat. Die ungehaltene
Aufforderung „Tür zu!“ bedeutet, dass es zieht oder jemand etwas nicht sehen
oder mithören soll. Sie dürfte verdeckt aber auch heißen, dass man lieber
nicht bei offenen Türen lebt, sie könnten eingerannt werden. Besser, sie dem
Eindringling vor der Nase zuzuschlagen oder gar nicht erst zu öffnen.
Öffnen und Schließen sind Basisgesten des Wohnens. Sie führen in die
Unvordenklichkeit des Anfangs aller Innenraumerfahrung, die mit Flucht,
Geborgenheit und Abwehr beginnt. Die geschlossene Tür ist eine Einladung
oder eine Falle. Wer heute eine fremde Tür unbefugt öffnet, begeht
juristisch Hausfriedensbruch, wenn nicht gar Einbruch. Das Schließen einer
Tür bedeutet von Anfang an Sicherung des Lebens, das Öffnen eine Gefährdung
oder eine Gewalttat von außen oder eine Selbst-Befreiung.
Das Betreten oder Verlassen eines Raumes geschieht in einem körperlichen
Akt, in einer Abfolge bestimmter Bewegungen, die von Wahrnehmung und
Erfahrung geleitet werden bzw. diese bestätigen oder modifizieren. Dabei
passiert man eine Grenze. Die Türzone ist Grenzgebiet, die Grenzlinie mit
mehr oder weniger Entschiedenheit gezogen. Die erste Tür mag ein Felsbrocken
gewesen sein, mit dem die Urhorde des Nachts den Eingang zu ihrer Höhle von
innen verschloss. Dieser massiven Markierung entsprechen heute
Schließanlagen mit Überwachungskamera. Aber auch ein leichter, wehender
Vorhang wie in warmen Ländern zieht die magische Trennungslinie zwischen dem
Innen und dem Außen.
Wie das Loch in der Mauer des umbauten Raumes auch beschaffen und bewehrt
sein mag, im Hinein und im Wiederhinaus wiederholen wir verinnerlichte
Bewegungserfahrungen und folgen wir unterschiedlichen Motivationen. Manchmal
zieht es uns mit Macht in die Helligkeit eines verheißungsvoll schönen
Tages, manchmal wollen wir in der Dunkelheit und Wärme des Verstecks
bleiben. Der Psychologe Michael Balint spricht in seiner Typenlehre des
personalen Bindungsverhaltens von einem Hin und Her zwischen Aufgeben und
Wiedererlangen der Sicherheit (BALINT 23). Einerseits werde die Nähe zu
einem Objekt, das heißt bei ihm zu einem Menschen, gesucht; andererseits
entstehe das Bedürfnis zum Schweifen in „freundliche Weiten“. Von dieser
Ambivalenz scheint auch das Verhalten gegenüber Räumen geprägt. Nur im
pathologischen Fall wird Enge oder Weite nicht ausgehalten, siehe
Klaustrophobie oder Agoraphobie als extreme Positionen der Raumerfahrung.
Ich gehe davon aus, dass es, bezogen auf gebaute Räume, einige
Verhaltensregelmäßigkeiten gibt. Raum ist, was uns momentan umfängt und dem
wir mit einem unbestimmten Spektrum nuancierter individueller Empfindungen
begegnen, indem wir zum Beispiel den Wahrnehmungsvorschlägen folgen, die
eine Architektur macht, oder indem wir uns gegen sie sträuben.
Im Raum sein, im Ruhezustand oder in einer Bewegung, heißt immer, den Raum
auf eine bestimmte Weise wahrzunehmen. Wohliges Strecken im Bett (dem
denkbar leibfreundlichsten Innenraum) oder rasches Durchqueren eines großen,
leeren Zimmers sind gewiss von unterschiedlichen Wahrnehmungen begleitet.
Letztlich lässt das Betreten eines Raumes und die Bewegung darin in der
Regel keinen Sinn unbeschäftigt. Sehen, Hören, Riechen, die
Temperaturempfindung der Haut, die Kinästhetik des Körpers mit seinem
Gleichgewichtssinn werden aktiv. Hinzukommen die Fähigkeit zu sozialer
Orientierung, falls Menschen mit im Raum sind, und ein unbewusstes
kulturelles >Wissen< zur Einordnung und Bewertung des Wahrnehmbaren. Einzig
das Schmecken eines Raumes haben wir im Laufe der Evolution verlernt,
während wir immer noch wie Tiere unseren Geruch in der benutzten Wohnung
hinterlassen. In Japan wird der Innenraum gebrauchter Autos aufwendig
desodoriert, sonst kauft sie angeblich keiner.
Die elementare Funktion der Bewegung im Raum, durch die dieser überhaupt
erst für die Wahrnehmung erschlossen wird, ist heute theoretisch hinreichend
diskutiert (vgl. dazu die Ausführungen der Arbeitsgruppe des
Sonderforschungsbereiches „Kulturen des Performativen“, in: Paragrana.
Internationale Zeitschrift für historische Anthropologie, Heft 13, Berlin
2004, S. 25 ff.)
Es ist auch so, dass wir erst durch unsere Bewegung zum wahrnehmenden
Subjekt im Raum und gegenüber dem Raum werden, dass Aneignung des Raumes und
Aneignung oder Bestätigung des Selbst in diesem Akt zusammenfallen: Ich bin
hier und nicht dort. Im Raum sein heißt Gewahrwerden der eigenen Anwesenheit
darin samt der im Ereignis der Begehung oder des Aufenthalts mitproduzierten
Gestimmtheit und Selbstaufmerksamkeit. Ich bewege mich leibhaftig im Raum,
also bin ich. Und zwar hier und nicht irgendwo. Bewegung im Raum, sei sie
noch so flüchtig ausgeführt, kann jederzeit zu einem performativen Akt
existenzieller Selbstvergewisserung im Hier und Jetzt werden. Es bedarf dazu
nur einiger Aufmerksamkeit, während man sich der Bewegung und dem Raum
überlässt.
Nun will ich nicht generell die Bewegung im Raum thematisieren, sondern auf
ein Detailgeschehen, auf den Raum vor dem Raum, auf die Schwelle aufmerksam
machen als Raum des Übergangs, in dem man verharrt, also für einen Moment
bewegungslos ist oder sich unmerklich bewegt wie bei einem Tanz auf der
Stelle. Will man in ein Haus oder einen Raum hinein oder aus ihm heraus,
muss man die Schwelle zwischen Außen und Innen passieren, die selber ein
Raum ist, ein Raum vor einem leeren oder auch schon angeeigneten, besetzten
Raum. Es gibt erkennbare Verhaltensfiguren in diesem Übergangsraum; eine ist
zum Beispiel das Vor-der-Tür-Stehen und Warten nach dem Klingeln, ob jemand
öffnen wird – klassische Einstellung in jedem Krimi, wenn der Kommissar
ungeduldig vor einer Tür steht. Spiegelverkehrt dazu hinter der Tür, wie
jemand sein Auge vorsichtig dem >Spion< nähert, um den Draußenstehenden zu
taxieren, unschlüssig, ob er ihm öffnen soll.
Das Warten vor einem verschlossenen Raum hat rituellen Charakter. Das
Zwischenraumsegment auf der Grenze von Innen und Außen ist ein Feld
performativer Verdichtung. Architektonisch wird der kleine Leerraum durch
Schwelle und Laibung dargestellt. Die existentielle, soziale, psychische und
ästhetische Performance des Wohnens beginnt hier, um sich im Innern
fortzusetzen. Umgekehrt beginnt hier die Außenwelt für den Bewohner. So
füllt sich dieser Kleine Grenzraum mit Gesten, die über ihn hinausweisen.
Auf der Schwelle verharrt der Eintretende oder auch der Heraustretende
mitten in der Bewegung für einen Moment. Ein Fremder zögert oder scharrt aus
Verlegenheit mit den Füßen auf der Matte, weil er nicht weiß, was ihn
drinnen erwartet. Ein Heraustretender bleibt witternd auf der Schwelle
stehen (prüft zum Beispiel, ob es regnet), und weil er die Höhle hinter sich
zusperren muss, dreht er sich um und hantiert mit dem Schlüssel. Man könnte
sich diesem Geschehen ohne große Umstände forschend nähern: Anstelle eigens
dafür angelegter empirischer Studien könnten Aufzeichnungen einer
Überwachungskamera (als permanent laufender Film von Körpern in Bewegung im
Raum) systematisch ausgewertet werden. Dabei entstünde vielleicht in
mikrologischer Sicht ein Atlas von Bewegungsformen, bezogen auf den kleinen
Übergangsraum. Die Videosequenzen ließen sich verlangsamen, stoppen,
zerlegen, vergleichen, ordnen usw., was auf eine verhaltenswissenschaftliche
oder auch künstlerische Analyse des Geschehens hinausliefe.
Eine solche hat der >Stadttänzer< Walter Siegfried mit seiner
Videobeobachtung von Fahrgästen der Münchner U-Bahn unternommen, wie sie
sich in das technische System der Rolltreppen einschwingen und es am Ende
immer mit einem Tanzschritt wieder verlassen. Geschnitten bezeugt Siegfrieds
Filmdokument eine eindrucksvolle unbewusste Choreographie zwischen
Stillstand und Bewegung in einem unauffälligen technischen Raum des Alltags,
dem Anfang oder Ende der Rolltreppe. (vgl. SIEGFRIED 1998)
Die Tür, baugeschichtlich älter als das Fenster, bildet die Schranke des
Zugangs, während der Schwellenraum eine Art Vorhof darstellt, in dem man
sich, von der unsichtbaren elektronischen Concierge beobachtet, nur kurz
aufhält. Über eine Schwelle treten heißt immer, einen grundlegenden
Positionswechsel zu vollziehen. Daher die Geste des Zögerns. Über eine
Schwelle oder durch ein Tor gehen sind starke sprachliche Metaphern. Es ist
immer ein kleines Abenteuer, morgens durch die Tür nach draußen in den Tag
zu gehen, und ein kleines Fest der Heimkehr, sobald die Tür abends hinter
einem wieder zufällt. Weil dieser Raum des Übergangs in seinen
synästhetischen, psychologischen und philosophischen Dimensionen und
Funktionen heute nur selten seine architekturtheoretisch und baupraktisch
angemessene Beachtung findet, haben Baumärkte die Gestaltungshoheit über die
Türzone angetreten. So hat dieser scheinbar neutrale Raum des Übergangs eine
Art Diffusion erfahren; er ist angefüllt mit vorgefertigten Insignien
eingebildeter Individualität und sozialer Distinktion.
Dabei ist dieser Ort für die Bewohner der Abschiedsraum aus der persönlichen
Wohlaufgehobenheit und zugleich der Empfangsraum bei der Wiedereinkehr in
Wärme und Sicherheit. In besseren bürgerlichen Zeiten verstanden es
Architekten, die Bühne des Abschieds und der Wiederkehr zu gestalten. Heute
ist man auf ein Design von Requisiten angewiesen, die man überall kaufen
kann. Der Narthex vor der eigenen Tür wird mit Marmorstufe,
Messingbeschlägen, Dekorbriefkasten, Kranzgebinde usw. herausgeputzt, was
aber an der ausgeprägten Choreographie des Hinein- und Herausgehens nichts
ändert. Sie bleibt stabil in den Formen körperlicher Bewegungen und
unsichtbarer Emotionen, mit denen sie vollzogen wird.
Wohnraum ist immer ein von Erinnerungen und Sehnsüchten besetzter Raum. Er
ist als Hülle des Lebens eine >virtuelle<, selbst produzierte, imaginierte
Architektur im Kopf, beruht auf einem unbewussten Wissen um Notwendigkeiten,
die über alle funktionalen äußeren Bedürfnisse hinausgehen. Eine Wohnung
suchen, sie endlich finden und sich in ihr einrichten, ist ein existentiell
weitreichendes Ereignis, ein Stück Biographie, eine Lebensleistung,
einschließlich der reproduzierten Erinnerungen und Phantasmen, die einen
dabei leiten. Flüchtlinge und Obdachlose wissen darum.
Auch das so genannte Traumhaus, in Bausparkassenprospekten und vom Fernsehen
für die Lotterie abgebildet, spricht davon. Selbst in diesen synthetischen
Pseudoarchitekturen mit ihrem gnadenlos falschen Anspruch wird vermutlich
bedürfnisgerecht und von einem persönlichen Raumsinn der Erinnerung und
Projektion geleitet gewohnt; es gibt eben doch ein richtiges Wohnen im
falschen. Denn das Hauptmotiv bleibt die Suche nach dem Schutz des eigenen
Daches über dem Kopf. Und es bleiben die tänzerischen Bewegungen des
Hinantretens und Verharrens vor der Tür beim Heimkommen, bis beide Hände in
den Manteltaschen nach dem Schlüssel graben. Es bleibt auch die emotionale
Bewertung des heimatlichen Raumes für den, der darin zu Hause ist.
Raum, Motiv und Bewegung sind beim Öffnen und Schließen aufeinander bezogen.
In den Figurationen der beiden Gesten ist die verborgene Geschichte des
Wohnens enthalten. Gebauter Raum ist materialisierter, physisch begrenzter
Raum, also das, was man anspruchsvoll Architektur nennt. Es ist aber
zugleich ein erinnerter bzw. projizierter, imaginativ ausgelegter,
persönlich interpretierter Wahrnehmungsraum, der nicht durch sein
metrisch-reales Maß und nicht durch den architektonischen Entwurf endgültig
definiert ist. Als wie weit oder wie eng ein Innenraum, als wie
bewegungsanregend oder einschüchternd ein umbauter Platz empfunden wird, ist
einerseits in der Anmutung des Gebauten als Impuls zur Bewegung und
Wahrnehmung, andererseits in Situation und Verfasstheit der Wahrnehmenden
angelegt. Kann schon der Glaube Berge versetzen, bricht die Einbildungskraft
wenigstens Wände, und sei es durch eine Fototapete. Dann bewegt man sich im
Sitzen durch den eingebildeten Wald. Das heißt, sein Bild auf der Fläche der
Wand reicht aus, um uns zu einem virtuellen Gang zwischen Bäumen zu
animieren.
Es gibt die verdeckten funktionalen und ästhetischen Zwänge, die
strukturelle Gewalt hinter dem Gebauten, die auf den Bewohnern lastet, wie
wir seit der Funktionalismusdebatte wissen. Es gibt aber auch innere
Raumerweiterungen, die souveräne Nichtbeachtung der physischen Grenzen der
Einschalung durch den Raum, sonst müssten alle Gefängnisinsassen Selbstmord
begehen und hätte es nie ein Mönch in seiner Zelle ausgehalten. Raum ist,
was wir wahrnehmen, Raum ist aber auch, was wir projizieren und imaginieren.
Das Projizierte und Imaginierte bildet die Bewegungsräume im Kopf. Dennoch
bedarf es einer nüchternen Phänomenologie der Gesten, die zunächst das
Sichtbare notiert, um auf den Grund des Unsichtbaren zu kommen. Bezogen auf
die Türzone als Grenze und Durchgangsraum darf man diese Feststellung
treffen, weil der grundlegende Wechsel als symbolische oder als
existentielle Entscheidung ausgelegt werden kann: Will ich draußen oder will
ich drinnen sein – beides zugleich geht nicht. Es sei denn, ich zögere auf
der Schwelle sichtbar oder in Gedanken.
Räume sind reale und virtuelle Wahrnehmungskonstrukte. Räume kann man real
betreten oder imaginieren. Wenn man drin ist, kann man sich in andere Räume
träumen oder nach draußen. Wenn man draußen ist, kann man sich nach drinnen
träumen. Man sollte daher von einer Gleichwertigkeit realer und
vorgestellter Räume sprechen und von der Fähigkeit, beide zu nutzen in einer
doppelten Aneignungsbewegung des Wahrnehmbaren und des Nicht-Wahrnehmbaren.
Vielleicht schleppen wir in unsere Raumerfahrung in Form von Bildern im Kopf
– solchen, die kulturell geprägt sind, und solchen, die biographisch
spezifiziert sind – mit uns herum und aktivieren sie im Betreten beider
Räume, des realen und des vorgestellten.
Von dem britischen Plastiker Antony Gormley, der diese großen, schweren
Bleifiguren in der Landschaft aufstellt, gibt es eine Arbeit mit dem Titel „home“.
Da liegt ein Körper im Freien auf dem Boden, während sein Kopf in einem
winzigen Haus steckt. Ist es ein Haus der Weite oder der Enge? Es könnte das
Gefangensein im Raum der Erinnerung und Erfahrung gemeint sein oder das
Eintauchen in den Projektionsraum der Imagination, die alle Enge vergessen
macht.
Es gibt Innenraumzonen, die bevorzugt dazu dienen, vorhandenen Raum
imaginativ zu erweitern. Da ist zunächst der Winkel oder die Ecke, von
Gaston Bachelard als „Kastenhälfte, halb Wand, halb Tür“ beschrieben (BACHELARD
166). Wer sich in einem engen Winkel aufhält, kann durch rasche
Körperdrehung momentan seine Position, die er im Raum und zum Raum einnimmt,
grundlegend verändern. Er kann den Winkelraum öffnen und wieder schließen.
Es gibt auch hier die Positionen des Draußen bzw. Davor und des Drinnen.
Es ist ein Rest- oder Randraum, der aufgrund vorherrschender Orthogonalität
gebräuchlicher Grundrisse von selbst entsteht, aber zum unentbehrlichen Raum
für Absonderungswünsche geworden ist, als wäre er dafür vorgesehen. Für die
Geschichte der Privatheit ist er von großer Bedeutung. Denn im Winkel oder
in der Ecke gelingen Ansätze zu Individualisierung am ehesten. Die Ecke ist
der Platz im Abseits, an den man als Kind gewiesen wurde, um einsam zu
leiden, aber auch, um sich selbst im Trotz zu behaupten. Als Spielecke
nähert sie sich deutlich jenem gern aufgesuchten Rückzugsort, der positiv
belegt ist, und zwar gleich doppelt: Weil man allein in der Ecke spielend
ungestört ist, und weil bei diesem Spiel aus dem engen Realraum ein weiter
Phantasieraum werden kann. Bei der Nutzung von Winkeln und Ecken geht es nie
nur um reale Tätigkeiten, sondern immer auch um Phantasmen, um Be- oder
Entgrenzung der Wahrnehmung. Auch der Herrgottswinkel ist ein Ort der
Imagination, indem er sich zum Raum der Transzendenz öffnen lässt. Beim
Spiel und bei der Andacht entstehen auf kleinstem Realraum weite innere
Vorstellungsräume. Auch solche, in denen man still ist und sich nicht bewegt
wie im Raum des Gebets.
Die Geschichte der Individualität ist auf solche Orte im Raum angewiesen.
Nicht immer ergeben sie sich so deutlich zu erkennen wie Spielecke oder
Herrgottswinkel. Man könnte meinen, das Bett sei früh ein solcher Ort des
Rückzugs zu sich selbst gewesen, doch dabei würde außer Acht gelassen, dass
die mitten im Raum platzierte kastenumbaute Schlafstatt mit Dach und Vorhang
einst mehrere Personen gleichzeitig wie ein Haus im Haus zusammen mit Gästen
beherbergte. Alleinsein war eher bei kleinen, niedrigeren Betten in der
engen Kammer möglich. Dort ergab sich ein schmaler Restraum zwischen Wand
und Bett, das Gässchen oder die ruelle (vgl. RANUM 224) auf der
Seite, die einer allein zum Niederlegen und Aufstehen benutzte. Das Bett ist
heute ein abgeschlossener warmer, dunkler Privatraum, Etui des Körpers, Ort
der Träume oder sorgenvoller Schlaflosigkeit. Es ist immer noch der
intimste, privateste Innenraum. Die ruelle aber war und ist ein
unbeabsichtigt freier Reproduktionsraum des Ich – schon ein Draußen als
Schwelle zur Öffentlichkeit der Tageswelt und noch ein Drinnen, ein Raum zum
einsamen Sinnieren, Phantasieren, oder um, auf der Bettkante sitzend, über
den vergangenen oder den kommenden Tag nachzudenken.
Das moderne Ich im Werden hat seine Genese vielleicht vor allem an diesem
Ort erlebt. Denn die ruelle darf kulturgeschichtlich als einer der
ersten identifizierbaren Privaträume im Raum gelten. Auch die damals noch
geringe persönliche Habe wurde an dieser Stelle aufbewahrt.
Die ruelle ist ein individuelles Territorium im Innenraum, zugleich
Schwellenraum ohne Tür wie die Ecke. Zubettgehen oder Aufstehen sind an
diesem Ort Vorbereitungen für Übertritte in die Räume der Nacht oder des
Tages. Die Türen zu dem einen wie dem anderen Raum bleiben unsichtbar.
Der physische Schwellenraum der ruelle, von Wand, Ecke und Bettkante
begrenzt, führt körperlich in die Enge der Kammer, weitet sich aber geistig
ins Unbegrenzte des Traumes, der Imagination und des Denkens, sobald die
Schwelle zu diesen Räumen überschritten ist. Offenbar bedarf es eines
unauffälligen physischen Raumes im Raum, damit dies geschieht. Dann entsteht
die Erfahrung des Alleinseins, indem ein neutrales Raumsegment radikal
privatisiert wird. Kaum ein Architekt wird jemals daran gedacht haben, dass
ein zufällig entstehender Raum wie das Gässchen an der Seite des Bettes
momentan zum wichtigsten Ereignisraum der ganzen Wohnung werden kann.
Ein Mann oder eine Frau auf der Bettkante, den Blick gegen die Wand (das
heißt nach innen auf sich selbst) gerichtet, seitlich die Begrenzung der
Ecke, nach der anderen Seite der schmale offene Gang in den Raum – so hätte
Edward Hopper den auf sich gestellten, vereinsamten Menschen in der Fremde
der späteren Moderne malen können. Das Gässchen zwischen Wand und Bett, auch
im Hotelzimmer zum Hinein- und Herausgehen bestimmt, war einst der Raum, der
es dem werdenden Individuum erlaubte, sich wenigstens zweimal am Tag selbst
zu Bewusstsein zu bringen.
Wie dieser mit der Geschichte des Wohnens gekoppelte Prozess der Öffnung
individueller Seelen- und Bewusstseinsräume weitergegangen ist, muss hier
nicht dargelegt werden. Aber sobald heute Situationen entstehen, in denen
moderne Wohnstandards nicht mehr greifen, wird deutlich, dass die Entfernung
zum Anfang noch nicht groß ist. Wer im Flüchtlingslager oder im
Asylanten-Container ein Bett an der Wand mit einer ruelle ergattert,
in die ein Koffer passt, hat Glück gehabt und kann in Ruhe nachdenken,
trauern und hoffen.
Öffnen und Schließen sind Gesten, die sich auf reale Räume und imaginäre
Sinn-Räume richten. Sie beziehen sich nicht nur auf gebaute Architekturen.
Eine Schublade ließe sich noch dazu rechnen, das Auf- und Zuknöpfen eines
Kleidungsstückes schon weniger, der Eintritt in den Raum des Selbst bedarf
der Architektur vielleicht noch in Gestalt einer Zelle oder eben der
ruelle.
Den Schubladen, Truhen, Schränken hat Bachelard ein eigenes Kapitel seiner
Poetik des Raumes gewidmet. Sie gewinnen mit ihrer Wahrnehmung von
Geheimnissen eine fast metaphysische Dimension. Das Motiv des Vergrabens,
dem die Geste der Ausgrabung entspricht, gibt jedem in der Wohnung
befindlichen Schatzhaus sein Gewicht. Man erinnert die Schrankwand, die die
kleinen Wohnungen kleiner Leute noch kleiner machte oder das Buffet im
Gelsenkirchener Barock. Das waren, mit allem, was sie bargen,
Identitätsschreine. Wer sie öffnete und durchsuchte, fand gegenständliche,
bildliche und schriftliche Zeugnisse ganzer Lebensgeschichten, wir können
auch sagen, deren Architekturfragmente.
“Wer einen Schatz eingräbt, gräbt sich mit ihm ein.“ (BACHELARD 118).
Dieser Geste des Verschließens entsprechen Gesten des Öffnens, wenn andere
die Schränke und Schubladen öffnen, um den Nachlass zu sichten, und
plötzlich das Leben einer Person sich vor einem ausbreitet.
Die metaphorischen und metaphysischen Dimensionen des Öffnens und Schließens
von Räumen sind im Haus der Sprache wohl aufgehoben: Jemand schlägt die Tür
hinter sich zu. Für immer? Man steht vor verschlossener Tür. Es geht nicht
weiter! Ein Tor tut sich auf. Wird man jenseits der Schwelle frei sein?
Kehren wir zu den beobachtbaren realen Phänomenen des Öffnens und Schließens
zurück. Wie nehmen wir sie im Moment der Gegenwart wahr? Haben die alten
Gesten eine Modernisierung erfahren? Deutet, wer seinen Laptop auf- oder
zuklappt, etwas grundlegend Neues oder Altes an? Oder wer in Schubladen
kramt, die wiederum Unterschubladen (links) haben, die immer tiefer
und verzweigter in den >Datenraum< führen – tut er nicht etwas sehr Altes?
Wo sind heute die Geheimfächer untergebracht, die sich einst in jedem
Schreibmöbel befanden? Welche Bilder des Verhaltens nehmen wir heute als
alltagsbeherrschend wahr?
Menschen sitzen allein in einem Raum vor ihrem PC, regungslos, den Blick
starr auf den Bildschirm gerichtet. Nur die Hand mit der Maus bewegt sich
leicht, oder ein Finger berührt zart die Tastatur. Selbst im ICE, an dessen
Fenstern die Landschaft vorüberzieht, schaut keiner von seinem Laptop auf
ins Freie. Der Blick bleibt auf das kleine leuchtende Fenster geheftet, das
in den Raum der Daten führt, wie in eine Transzendenz. Der reale Umraum, in
dem das geschieht, wird nicht wahrgenommen, nur dieser virtuelle Raum.
Dennoch gibt es für den, der am Computer arbeitet, drei Räume: den realen
Raum, in dem er sitzt, der ihn aber nicht interessiert. Den virtuellen Raum,
den er sich mit dem Schlüssel des Passwortes öffnet und der seine
Aufmerksamkeit einsaugt. Und vielleicht noch einen kleinen persönlichen Raum
abseitiger Phantasien, in den er sich verirrt, wenn die Konzentration
nachlässt und der Blick aus dem Zugabteil in die wirkliche Landschaft
draußen abschweift.
Der Beobachter nimmt nur zwei Räume wahr; den realen mit dem/den real darin
Sitzenden. Den Raum der Datenwelt, in den sie schauen, sieht er nicht. Auch
nicht den, den sie phantasieren. Dafür taucht vor seinem inneren Auge eine
alte Raumabbildung auf, die ihn an die beobachtete Situation erinnert. Es
ist das Idealportrait des Heiligen Hieronymus, der zu Beginn der Neuzeit oft
dargestellt wurde, wie er allein in einem Kastengestühl, einem Raum im Raum
sitzt, in der Klausur konzentriert auf die Offenbarung des Göttlichen, auf
dem Pult ein aufgeschlagenes Buch, den Blick in ein Jenseits entrückt. Zu
allem Überfluss trägt er einen Heiligenschein, damit jeder Betrachter merkt,
was da läuft.
Um die Köpfe der am Computer Arbeitenden schwebt kein Heiligenschein. Aber
sonst entspricht das setting der Situation geistiger Anstrengung im
historischen studiolo, dessen karge, aber anheimelnde Einrichtung
(heute Tisch, Drehstuhl, PC und Drucker) die Emigration in immaterielle bzw.
transzendente Räume begünstigt.
Und noch etwas Gemeinsames kommt hinzu: Um jeden Einzelnen entsteht ein
unsichtbarer Raum der Absonderung und Eingeschlossenheit. Ersatzweise für
den Schein der Heiligkeit nehmen wir eine Aura von Abgeschiedenheit und
Unansprechbarkeit wahr. Selbst im Großraumbüro ist diese Aura um jeden
Einzelnen zu spüren. Die Leute sitzen wie Hieronymi an ihrem Platz, während
sie mit dem geheimnisvollen Raum der Daten kommunizieren. Um jeden von ihnen
bildet sich eine Zone des Respekts, die vor Störung schützt. Schließlich
galt geistige Arbeit im Gegensatz zur körperlichen einmal als etwas
Besonderes, was man daran erkannte, dass sie im Sitzen ausgeübt wurde. Die
am PC Sitzenden wirken >vergeistigt<, weil sie sich nur körperlich wie im
Raum Sitzende verhalten, mental aber ganz woanders sind. Sie sind
Anwesend-Abwesende, sobald sie die Schwelle zum virtuellen Raum
überschritten haben und nur ihr Körper im Realraum zurückbleibt.
Die Aura ist natürlich vor allem ein Produkt der Einbildungskraft des
Beobachters; aber er imaginiert sie zu Recht. Man könnte Aura einen
atmosphärischen Raum im Raum um etwas Körperhaftes nennen. Die modernen
Hieronymi im neuen Bild rühren sich sowenig von der Stelle wie der Heilige
im alten Bild. Dem Raum der Unendlichkeit, in den er bewegungslos schaut,
entspricht die Weite des Internet, in der seine späten Kollegen surfen,
während sie unbeweglich und unansprechbar sitzen.
Die Gesten der Aneignung des Raumes werden vollends zu Metaphern – das ist
neu –, aber sie gelten noch in allen Räumen, in den alten wie in den neuen.
Im physikalisch fest umgrenzten Raum, den man früher den wirklichen genannt
hätte; in den digital generierten Räumen einer anderen Realität und in den
halluzinierten Räumen einer Beobachter-Wahrnehmung, die irritiert die
Wiederauferstehung alter symbolischer Figurationen zur Kenntnis nimmt.
Mindestens metaphorisch behalten die Grundgesten des Öffnens und Schließens
ihre Gültigkeit. Man öffnet oder schließt heute Datensammlungen wie früher
Schubladen oder Schränke. Der Beobachter öffnet das Buch der Kultur- und
Kunstgeschichte, weil er meint, geklonte heilige Hieronymi im Raum sitzen zu
sehen. Er klappt die Tür zur komparativen Phantasie aber gleich wieder zu,
weil ihn das Phänomen der Ähnlichkeit samt Aura irritiert: Da sitzen doch in
Wirklichkeit nur Sachbearbeiter oder irgendwelche Computerfreaks an ihrem
Gerät!
Gleichwohl stellt sich der historische Bezug leicht her. Begriff und
Erfahrung des Raumes reichen weit zurück in einen Raum der menschlichen
Wahrnehmungsgeschichte. Das kulturelle Vokabular der Gesten steht noch zur
Verfügung. Es bleibt die Grundlage zur Beschreibung sichtbarer und
unsichtbarer, realer und virtueller, physisch-leiblicher und
geistig-seelischer Räume.
Gewiss sind die räumlichen Erfahrungen gegenwärtig im Begriff, sich zu
verändern und den neuen kulturellen Gegebenheiten anzupassen. Aber der alte
Bestand der Bewegungsfigurationen ist noch nicht angegriffen und auch noch
nicht vom Stillsitzen widerlegt. Das Betreten und Verlassen eines Raumes
wird wie zu allen Zeiten von der Doppelgeste des Öffnens und Schließens
gerahmt.
Mit dieser Verhaltenskonstante können wir offenbar rechnen, solange sich
Raum durch eine wahrnehmbare oder nicht wahrnehmbare Begrenzung definieren
lässt.
Literatur
Bachelard, Gaston: Poetik des Raumes. Übersetzt von Kurt Leonhard. München
1975
Balint, Michael: Angstlust und Regression: Beitrag zur psychologischen
Typenlehre. Stuttgart 1959
Ranum, Orest: Refugien der Intimität. In: Georges Duby (Hg.): Geschichte des
privaten Lebens, Bd. 2: Vom Feudalzeitalter zur Renaissance. Frankfurt am
Main 1990
Selle, Gert: Die eigenen vier Wände. Zur verborgenen Geschichte des Wohnens.
Frankfurt/New York 1999 (3)
Siegfried, Walter: Wahrnehmungsirritationen als Impulse für Aufmerksamkeit.
In: Flamboyant, Hg.: Studio 7, International Theatre Ensemble e.V.
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