Himmel und Erde (Heaven and Earth)
Festheft für Karsten Harries

12. Jg., Heft 1
August 2007
   

 

___Achim Hahn
Dresden
  Dimensionen der Einbildungskraft (für Karsten Harries)

 

   

„Allzulange haben wir uns bemüht, der Welt durch Begriffe habhaft zu werden, und darüber vergessen, dass die Bilder stärker, wirklicher und genauer sind. So stehen wir jetzt, da uns die Welt wieder in Bildern zu quellen beginnt, ratlos vor dem Überfluss. Wir haben keine Lehre und Ordnung der Bilder.“ (Rudolf Schwarz)



Das architekturtheoretische Werk von Karsten Harries ist beeindruckend. Wie kaum ein zweiter hat er die Debatten, in denen sich die Architekten mehr oder weniger kompetent zu Fragen ihrer Profession äußern, mit seinen Beiträgen versachlicht und stets die philosophische Vernunft in die Waagschale der notwendigen Begriffsklärungen gelegt. Sein philosophisches Interesse an unserem Tun gilt der architekturtheoretischen Bedeutsamkeit des ontologischen und kunsttheoretischen Werks insbesondere von Hegel und Heidegger. Auch Hans Blumenbergs Schriften gaben und geben immer wieder Anlass, das Werk der Architektur wie das Tun des Architekten in ihrer gesellschaftlichen ebenso wie in ihrer anthropologischen Fraglichkeit zu beleuchten. Harries prüft gewissenhaft und kompetent, was der Diskurs über Architektur von diesen Denkern erwarten und wie dieses Denken fruchtbar unsere gegenwärtigen Erörterungen bereichern kann. Auf diese Weise hat Karsten Harries sein eigenes unverwechselbares Profil zu wünschenswerter Schärfe gebracht.

Vor allem die Auseinandersetzung zu Fragen der Ästhetik und der Ethik, so haben wir von unserem Jubilar gelernt, gehört ins Zentrum der Architekturtheorie. Ein Thema, von dem ich glaube, dass es sehr gut zu der von Karsten Harries betriebenen Architekturtheorie passt, ist die Einbildungskraft des Architekten. Heute ist viel vom „Entwerfen in Bildern“ die Rede, dass es sicher einmal gut täte, sich der vielfältigen Bedeutung des Ausdrucks Einbildungskraft, im Sinne eines menschlichen Grundvermögens des Könnens und Wissens, anzunehmen. Anschließend soll am Beispiel des Architekten Rudolf Schwarz gezeigt werden, wie die Rückführung architekturtheoretischer Begriffe auf deren philosophische Herkunft unabdingbar ist, um sie in ihrer Reichhaltigkeit zu verstehen. Natürlich kann ich diese Thematik im Rahmen dieser Festschrift nur anreißen.


Zu den Grundvermögen des architektonischen Entwerfens

Grob können wir zwischen einem Behauptungs- und einem Erfahrungswissen unterscheiden. Ihre Hauptmerkmale sind, dass das Behauptungs- oder Faktenwissen aussage- und irrtumsfähig, das Erfahrungswissen dagegen gar nicht darstellbar ist. Eine Gesellschaft, die ihr Zukunftspotential in der Anhäufung von Wissen sieht, stellt die entsprechenden Informationen, von denen sie glaubt, dass jeder über sie verfügen müsse, in der Regel in Sätzen oder Aussagen bereit. Denn diese Gesellschaft geht davon aus, dass derjenige, der etwas weiß, auch sagen kann, was er weiß. Dem ist jedoch nicht so. Wissen muss nicht in jedem Fall auf einer richtigen Aussage beruhen. Es gibt auch ein Wissen, das sich in der praktischen Fertigkeit zeigt, wie etwas auf eine gekonnte Weise zu tun ist. Wenn wir jetzt allein an das begrifflich darstellbare Wissen denken, dann reicht es sicher für das von einem Architekten zu erwartende Können nicht aus, etwas aus einer allgemeinen Begrifflichkeit erklären zu können. Es bedarf darüber hinaus der praktischen Urteilskraft oder des produktiven Verstandes, um zum Beispiel den vorliegenden konkreten Fall, mit dem es der Entwerfer hier und jetzt zu tun hat, richtig einzuordnen. Erst die inhaltliche Bestimmung des Einzelfalls als Beispiel bedeutet eine effektive Ergänzung unseres Faktenwissens. Der konkrete Entwurfsfall ist immer mehr als der Fall einer allgemeinen (Entwurfs-)Regel. Ihn ästhetisch zu bestimmen, bedeutet gerade ihn als individuellen oder besonderen Fall zu sehen. Dies ist allerdings kein streng logisches Vermögen, sondern ein sinnliches bzw. analogisches.

Was ist damit gemeint? Logisch heißt ein Denken, das sch argumentativ auf der Grundlage deutlicher Unterscheidungen vollzieht, d.h. in scharf begrenzten Begriffen agiert. Analogisch soll dem gegenüber ein Denken heißen, das sich der Übergänge bedient und die begrifflichen Grenzen durchlässig und porös hält. Logisches Denken drängt auf Unterscheidung des Ähnlichen, analogisches Denken sucht Ähnlichkeiten im Verschiedenen. Logisches Denken drückt sich aus in Definitionen, analogisches Denken in Vergleichen. Der Begriff der Familienähnlichkeit unterstützt das Prinzip der Analogie. Wir erkennen dann Zusammenhänge nicht auf eine logische, sondern auf eine „intuitive“ oder „schauende“ Weise. Wie dies möglich ist, hat uns Wittgenstein gezeigt, indem er „logisch“ nicht verbundene Arten von Spielen, da ihnen kein einziges Merkmal gemeinsam ist, dennoch zu einer Einheit fügt. „Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir ‚Spiele’ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: ‚Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‚Spiele’’ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist.“[1] Wittgenstein selbst hat den Ausdruck „Schauen“ hervorgehoben. Das Ziel dieses Schauens ist das Entdecken von Ähnlichkeiten: „Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen“. Sie tauchen auf und verschwinden wieder. Ich meine, dass es kein Zufall ist, dass Wittgenstein mit der Aufforderung „Schau!“ auf eine „ästhetische“ oder sinnliche und nicht auf eine logische Erkenntnis abzielt.

Thomas Rentsch hat auf ein vergleichbares „analogisches“ Schließen bei Robert Musil hingewiesen, in dessen Jahrhundertroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ die Frage nach der „Urgabel“ und nach der „Urliebe“ als sinnlos abgetan wird. Warum wird unbedenklich von Eß-, Mist-, Ast-, Gewehr-, Weg- und anderen Gabeln gesprochen, fragt Musil. Offensichtlich gibt es etwas Gemeinsames. Wir dürfen dieses Verbindende jedoch nicht in der Logik suchen: „Denn sie [die „Gabeln“] brauchen nicht einmal untereinander alle ähnlich zu sein [d. h. sie brauchen kein Merkmal gemeinsam zu haben], es genügt schon, wenn eins das andere gibt, wenn man von einem zum anderen kommt, wenn nur Nachbarglieder einander ähnlich sind; entferntere sind es dann durch ihre Vermittlung. Ja, auch das, was die Ähnlichkeit ausmacht, das die Nachbarn Verbindende, kann in seiner solchen Kette wechseln; und so kommt man ereifert von einem Ende des Wegs zum anderen und weiß kaum noch selbst, auf welche Weise man ihn zurückgelegt hat.“[2]

Der Bezug von Prinzip und Einzelfall soll ja nicht bloß vage sein. Wesentlicher ist, dass die Beziehung der Familienähnlichkeit, logisch betrachtet, eine transitive Relation ist: Wenn a und b familienähnlich sind und b und c familienähnlich sind, dann sind auch a und c familienähnlich.[3] Zur Familienähnlichkeit gehört als Hintergrund eine gemeinsame Entwicklungslinie der Fälle. Vor einem solchen Hintergrund können zwei Dinge familienähnlich sind, ohne dass sie ein einziges Merkmal gemeinsam haben. Familienähnlichkeit ist eine gebietsinterne Ähnlichkeit. Sie besteht zwischen den Mitgliedern einer Familie. Auch wenn die Familie nicht „scharf begrenzt“ ist und offen bleibt, wer von den sozusagen entfernteren Verwandten noch zur Familie zu zählen ist. Es ist aber zu beachten, dass sie nicht gebietsübergreifend ausgelegt wird. Es ist weiter darauf zu achten, das verschieden Erscheinende nicht dadurch ähnlich oder gleich zu machen, dass Unterschiede geleugnet werden, sondern dadurch, dass sie weiter verfeinert werden, so dass die scharfen Begrenzungen zwischen ihnen verwischt werden. Die Pointe ist, Zusammenhang durch Differenz zu stiften. Damit werden Unterschiede im Sinne einer größten Vielfalt der Fälle, aber nicht Unterscheidungen im Sinne fester Grenzen angestrebt.

Das kritische Urteilsvermögen, das im Entwurfsprozess zur Geltung zu kommen hat, urteilt in freier Selbstverantwortung, inwiefern und auf welche Weise das prinzipiell als gut, richtig und schön Gewusste einen weiteren Anwendungsfall gefunden hat. Die gekonnte Begutachtung des Falls wendet nicht einfach den Urteilsmaßstab des Allgemeinen an, leitet nicht das Niedere vom Höheren ab, sondern bestimmt diesen selbst mit, ergänzt oder berichtigt ihn auch notfalls. „Konstruktiver Verstand oder Bildungskraft bei der Entwicklung neuer Gestaltungen und Formen ist in gewissem Sinn noch Teil der technischen Kompetenz des Architekten […] Dabei weist der fast synonym zu ‚Einbildungskraft’ gebrauchte Ausdruck ‚Phantasie’ (per Konnotation) darauf hin, daß der produktive Verstand gerade nicht schematisch vorgehen kann, sondern eher auf einen teils ‚spielerischen’, teils diszipliniert-kontrollierenden Umgang mit ‚Einfällen’ angewiesen ist.“[4]

Das analogische Denken wie auch das „Schauen von Bildern“ gehören zum menschlichen Einbildungsvermögen und zur wesentlichen Kompetenz des Architekten. Die Geisteswissenschaften zeichnete stets ein ambivalenter Umgang mit der Phantasie aus. Vielleicht deshalb, weil die Welt der sinnlichen Erscheinungen immer quer steht zur empirischen Welt. Veränderungen in der empirischen Welt lassen sich messen und werden quantitativ festgestellt. Veränderungen in der Welt der Erscheinungen bemerken wir als Wandel von Formen und Gestalten. Die Einbildungskraft spielte in der Geschichte des Denken oftmals die Rolle eines bloß niederen Erkenntnisvermögens. Für Kant gilt sie mit Rücksicht auf die Bedingungen von Erkenntnis überhaupt als die dunkle, aber die höchste, d.h. unüberbietbare menschliche Kraft der Erfahrung. Kant hat aber Zeit seines Lebens geschwankt, ob zwei (Sinnlichkeit und Verstand) oder drei (zusätzlich Einbildungskraft) Erkenntnisquellen anzunehmen seien. Für Wilhelm Szilasi ist das Einbildungsvermögen in der Hauptsache kein Untervermögen des nach Regeln verfahrenden Verstandes, sondern das mit dem Leben identische orientiert oder eben: „im Bilde sein“.[5]

Ein kurzer Exkurs zur Wortgeschichte von „Bild“ zeigt eine ambivalente Bedeutung des Wortes.[6] Das althochdeutsche „bilidi“ heißt einerseits „(Wunder-)Zeichen“, „Wesen“, „Gestalt“; andererseits „Bild, Abbild, Nachbildung“; zum einen wird also betont, wodurch etwas seine Gestalt gewinnt, in sein Wesen kommt, zur vollen Entfaltung seiner Wunderkraft gelangt; zum anderen wird das herausgestellt, was ein solches Ur-Bild nachbildet, darstellt, bezeichnet. Das Wort „Einbildungskraft“ ist von Paracelsus aus „
imaginatio“ eingedeutscht worden. Der Einbildungskraft wird Schwärmerei, Vagantentum, Unverbindlichkeit, trügerische Verworrenheit und gelegentlich sogar moralische Verwerflichkeit nachgesagt, so dass ihr der Zuchtmeister „Vernunft“ zur Seite gestellt werden muss. Die ausschlaggebende Differenz betrifft die Bedeutung der Einbildungskraft als reproduktive bzw. produktive Fähigkeit im Ganzen der menschlichen Erfahrung. Zur wesentlichen Kompetenz der Einbildungskraft gehört seit Thomas v. Aquin, Dinge auch in ihrer Abwesenheit so vorzustellen, als ob sie gegenwärtig wären. „Die Vorstellung solcher Dinge, die nicht zugegen sind, pflegt man Einbildung zu nennen. Und die Kraft der Seele, dergleichen Vorstellungen hervorzubringen, nennet man Einbildungskraft,“ heißt es beim Aufklärer Chr. Wolff. Erich Rothacker weist in seinem Aufsatz zum „Kunstwerk“ darauf hin, dass Einbildungskraft immer auch schon vor- und außerkünstlerisch zur sinnlich vermittelten Situationsaufklärung von Bedeutung sein kann: „Selbst das Gewahrwerden von Situationsmodifikationen kann bereits als eine ‚Reaktion’ des Organismus interpretiert werden. Auch hier antwortet der Mensch auf eine Veränderung seiner ‚Lage’ mit dem Entwurf einer angemessenen Deutung der situativen Geschehnisse. Es ist eine Leistung der Einbildungskraft.“[7]

Erfahrung und Erkenntnis sind auf ein Gemeinsames bezogen: das Wissen. Nach Aristoteles gehört zur vollen menschlichen Erfahrung dreierlei: Anschauung, Phantasie und Gedächtnis. Phantasie (Einbildungskraft, Imagination) besagt: Sichtbarmachen, zu einer Sichtbarkeit bringen und als solches als Bild erhalten oder auch: Im Bilde sein.[8] Die menschliche Einbildungskraft ist das Vermögen, sich ein (anschauliches) Bild zu machen und zugleich die Bildwandlungsmöglichkeit zu sehen. Auf das Entwerfen bezogen, heißt dies: Die Einbildungskraft macht sich ein Bild von der Wohnsituation und bildet dieses Bild weiter, führt es fort, indem das Wohnliche neu gefügt wird. Dieses Verständnis von Wohnen zeichnet zum Beispiel das Werk von Rudolf Schwarz aus. Für ihn ist, wie ich später noch zeigen werde, das Bauen ein Dichten, dessen Ziel „bewohnbare Bilder“ sind. Das Einbildungsvermögen muss aus dem Wohn-Gebrauch einen Vor-Schein auf das Künftige gleichsam heraussehen. Es schafft (entwirft) so ein neues, verwandtes Bild. So kommt Bild zu Bild und reiht sich in die historische Folge der Bilder ein. Der Entwurf bewerkstelligt eine Metamorphose, einen Gestaltwandel. Bei Bild wie Gestalt kommt es darauf an, etwas in sich Stimmiges, Ganzes entstehen zu lassen. Gestalten werden geschaffen, ihr Ziel ist aber das „Charakterbild“. Es muss stimmig sein! Bilder sind erinnert, nicht allein vorwegnehmend, am Bild vom Menschen, seinen Haltungen, seinem Lebensstil. Gerade darin, in ihrer Stilgemäßheit, so hat es Ernst Bloch gesehen, sind Bilder öffentlich-gemeinschaftlich. „Der ‚Markt’ schafft die Bilder der öffentlichen Meinung, also des Klassengeists und Zeitgeists; die ‚Bühne’ liefert die Legenden der Geschichte. Jedoch eben: alle diese Bilder sind nicht mehr rein privat, sondern in einem Miteinander von Menschen entstanden und derart, wie sie der Erfahrung entstammen, wenn auch einer mit Ideologien, dieser nicht völlig fremd oder auf sie lediglich projiziert.“[9]

Keine Frage, dass hier u. a. auch Intuition und Schöpferkraft im Spiel sind und Anwendung finden. Diese vorlogische Kompetenz im sinnlichen Erkennen des Gestalthaften und Bleibenden wird gelegentlich damit deutlich zu machen versucht, dass von einem Schauen und Dichten gesprochen wird. Nicht nur in der Philosophie Heideggers spielt das „Dichten“ eine Rolle.[10] Hölderlin sei, nach Heidegger, der „Dichter des Dichters“, bei ihm lasse sich das „Wesentliche“ des Wesens der Dichtung finden. Der Aufsatz „Hölderlin und das Wesen der Dichtung“ zeigt, warum Hölderlin und das Dichten für die Phase der „Kehre“ in Heideggers Denken so bedeutsam wurden. Ich will nur kurz auf die zentrale Stellung der Sprache eingehen: „Allein das Wesen der Sprache erschöpft sich nicht darin, ein Verständigungsmittel zu sein. Mit dieser Bestimmung ist nicht ihr eigentliches Wesen getroffen (...) Die Sprache gewährt überhaupt erst die Möglichkeit, inmitten der Offenheit von Seiendem zu stehen. Nur wo Sprache, da ist Welt, das heißt: der stets sich wandelnde Umkreis von Entscheidung und Werk, von Tat und Verantwortung, aber auch von Willkür und Lärm, Verfall und Verwirrung. (...) Die Sprache ist nicht ein verfügbares Werkzeug, sondern dasjenige Ereignis, das über die höchste Möglichkeit des Menschen verfügt“.[11] Die Sprache ereignet sich für den Menschen als Gespräch. Im Gespräch, das die Menschen miteinander führen, befinden sie über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dadurch lernen sie zwischen dem Wandelbaren und dem Bleibenden zu unterscheiden. Wer ist es aber, so fragt Heidegger, der im Fluss der Zeit ein Bleibendes fasst und es im Wort zum Stehen bringt?[12] Der Dichter stiftet durch das Wort das Bleibende. Das Bleibende ist nichts was immer schon vorhanden wäre. Vielmehr muss „gerade das Bleibende gegen den Fortriß zum Stehen gebracht werden; das Einfache muß der Verwirrung abgerungen, das Maß dem Maßlosen vorgesetzt werden“.[13] An dieser Stelle begegnet uns im Zusammenhang mit dem Dichten (und Bleiben) das Maß, welches dem Maßlosen entgegen gesetzt werden soll. Dazu müssen, so Heidegger, die Götter ursprünglich genannt werden. Durch das Nennen der Götter stellt sich der Mensch unter ihren Anspruch. Die Bedeutung der Dichtung liegt im Aussprechen des wesentlichen Wortes: „Dichtung ist worthafte Stiftung des Seins. (...) Das Einfache lässt sich nie unmittelbar aus dem Verworrenen aufgreifen. Das Maß liegt nicht im Maßlosen“.[14] Darauf folgt eine weitere Bestimmung der Aufgabe der Dichtung für das Bemessen der Dinge: „Weil aber Sein und Wesen der Dinge nie errechnet und aus dem Vorhandenen abgeleitet werden können, müssen sie frei geschaffen, gesetzt und geschenkt werden. Solche freie Schenkung ist Stiftung“.[15] Auch das Dasein des Menschen wird so auf einen festen Grund gestellt. In diese feste Gründung spielt nun ebenfalls das Wesen des menschlichen Wohnens hinein. „Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet / Der Mensch auf dieser Erde(.)“, heißt es bei Hölderlin. Das Wohnen, oder auch das Dasein, sei in seinem Grund „dichterisch“. Das dichterische Wohnen ist kein Verdienst des Menschen, sondern ein Geschenk. Ich gehe jetzt nicht weiter aufs Wohnen ein[16], sondern frage nach dem Zusammenhang von Dichten und Schauen bei Rudolf Schwarz.


Zum Bildverständnis bei Rudolf Schwarz

Rudolf Schwarz, so wissen wir, hat sich in seinem theoretischen Werk stets um eine Verbindung von Phänomenologie und Metaphysik bemüht. Das Entwerfen des Architekten steht in der großen Geschichte des Schaffens von Bildern, deren Urgestalten in der Begegnung mit dem Göttlichen oder Numinosen zu sehen sind. Das Vermögen des Architekten wird darin angesprochen, wie es ihm gelingt, diesen Ursituationen des Menschlichen Gestalt zu geben. – „Himmel und Erde“ heißt dieses Buch, in dem dieser Artikel erscheint: Die Philosophin Edith Stein hat in ihrem Beitrag für die Festschrift zu Edmund Husserls 70. Geburtstag ein Gespräch zwischen Thomas von Aquin und Husserl imaginiert.[17] Am Abend seines Geburtstags, nachdem alle Gäste das Haus verlassen haben, klopft es an Husserls Studierstube. Der unerwartete Gast ist niemand Geringeres als der hl. Thomas. Husserl ist zunächst, wer will es ihm verdenken, sehr überrascht, doch schon schnell finden die beiden sich in eine philosophische Disputation verstrickt. Man unterhält sich über natürliche und übernatürliche Vernunft, Glauben und Wissen und, selbstverständlich, über Wahrheit. Für die Autorin Edith Stein ging es darum, eine gewisse Verwandtschaft zwischen beiden Theorien aufzuzeigen, insbesondere hinsichtlich der Bestimmung der menschlichen Einbildungskraft. Stein lässt das Gespräch also um das Thema „Intuition“ kreisen.[18] Oder wie sie es dem hl. Thomas in den Mund legt: „die Frage nach der vielbesprochenen Intuition oder Wesensschau“.[19] Es wird nun diskutiert, inwiefern dieses „Erschauen“ als intellektuelle Vision des phänomenologischen  Philosophen vergleichbar ist mit der auf einem Gnadenvorzug beruhenden Erleuchtung des asketischen Gläubigen. Edith Stein war zu jener Zeit persönliche Assistentin von Husserl und damit bestens vertraut mit seinem Werk. Vor allem kannte sie auch viele seiner Manuskripte, die damals nicht veröffentlicht waren. Den Disputanten ist vertraut, dass es sich bei der Intuition um eine „Methode“ handelt, die zu einer besonderen Erkenntnis kommt. Ich will im folgenden Edith Steins Freilegung dieser Methode folgen, dabei Verstand und Sinnlichkeit als eine Einheit gesehen werden. Wie kommt die Phänomenologie zu ihren Einsichten? Der intuitive Charakter der Wesenserkenntnis meint nicht ein einfaches „Hinsehen“ ohne jede Denkleistung. Entscheidender ist, dass er zu einer Erkenntnisleistung kommt, die nicht auf einem Syllogismus beruht. Intuition bedeutet: „im Innern der Dinge zu lesen“[20]. Sie ist eine Verstandeseinsicht und hat „den Charakter des Empfangens“[21]. Damit hebt Stein Husserls Methode als eine durchweg „passive“ hervor, in Abhebung zu konkurrierenden Methoden, die sich durch Konstruktionen und Schöpfungen ihrer verstandesmäßigen Forschungsleistungen auszeichnen. Diese Einsichten auf Grund eines passiven Empfangenen sind menschliche Grenzphänomene: „Der Menschengeist berührt hier die Sphäre der höheren Geister“, so der hl. Thomas im Disput mit Husserl.[22] Die Einsichten in solche Grenzphänomene sind unmittelbar, was bedeutet, dass das darin Erkannte irrtumsfrei und (wie jede Erfahrung auch) unverlierbar ist, im Gegensatz zu allem Faktenwissen. Während das Ableitungswissen fehlerhaft sein kann, ist die Intuition, weil ihre „Wahrheit“ direkt eingesehen wird, fehler- und irrtumsfrei.

An dieser Stelle ist zu fragen, ob das intuitiv Geschaute nicht Bilder oder gar Ur-Bilder sind (sein müssen)? Ludwig Klages und auch Gaston Bachelard[23] haben dies behauptet. Im kosmogonischen Eros unterscheidet Klages die Dingwahrnehmung vom Schauen von Bildern. Er spricht nicht von „Wesensschau“, sondern von Ekstase. In ihrem Zustand ist die Seele befreit vom (denkenden) Geist. An einer Stelle diskutiert Klages Schopenhauer und stellt fest, „daß die sogenannten Urbilder oder Ideen, welche Schopenhauer und zwar in voller Übereinstimmung mit Platon im Sinne hat, überhaupt gar keine Bilder sind, sondern samt und sondern nichts als Begriffe!“[24] Auf der Suche nach dem „Quellpunkt“ von Glaubensüberzeugungen und Gewissheiten greift Klages zurück auf Mythos und Symbole und fragt nach ihrem Erleben. Dieses Erleben nennt Klages Schauung. Die Nähe zum christlichen Mystiker[25] wie zum blinden Seher, wie ihn die Antike beschrieb, ist evident. Die Ekstase schafft „echte Dichtung und echte Kunst“[26]. Klages greift den Begriff der „bildenden Kunst“ auf und überträgt ihn auf das Ereignis des Schauens: Der „Ausdruck ‚bildende Kunst’ erinnert uns aber daran, daß die gestaltende Tätigkeit der Vergegenständlichung von Bildern diene, und lässt uns vermuten: das Ereignis, das den Geist zu bildnerischen Bemühungen zwinge, hänge mit dem Aufleuchten innerer Bilder zusammen.“[27] Solche Bilder, die Klages anspricht, sind weder Tatsachen noch Dinge; sie werden auch nicht wahrgenommen. Was „Bild“ bedeutet, muss gerade gegenüber dem Dingcharakter herausgestellt werden: „Das Bild hat Gegenwärtigkeit nur im Augenblick seines Erlebtwerdens; das Ding ist ein für allemal ‚festgestellt’ – das Bild fließt mit dem immerfließenden Erleben; das Ding beharrt, dauert, steht in lebensfremder Unentmischbarkeit – das Bild ist nur im Erlebnis des Erlebenden da; das Ding im beliebigen Wahrnehmungsakte eines jeden – an das Bild kann ich mich zwar erinnern, aber ich kann es nicht im Urteil vergegenwärtigen; auf das Ding, weil es jetzt das nämliche wie damals ist, kann ich mich jederzeit denkend beziehen und es durch Kundgabe meines Urteils zum identischen Beziehungspunkt aller Vernehmenden machen – das Bild, eingetaucht in den Strom der Zeit, verwandelt sich, wie sich alles verwandelt, eingerechnet die erlebende Seele; das Ding, weil außerhalb der Zeit, fällt, gemessen an ihr, der Zerstörung anheim – das Bild wird von der Seele empfangen; das Ding aufgrund des Empfangenen durch die Urteilstat des Geistes geleistet – das Bild hat bewußtseinsunabhängige Wirklichkeit; das Ding ist in die Welt vom Bewußtsein hineingedacht und existiert nur für eine Innerlichkeit persönlicher Wesen. Darum: wer die Form des Personseins in der Ekstase zersprengt, für den geht im selben Augenblick die Welt der Tatsachen unter, und es aufersteht ihm mit alles verdrängender Wirklichkeitsmacht die Welt der Bilder.“[28] Klages lehnt nicht nur jeden denkerischen, sondern auch willentlichen Einsatz ab. Das Schauen der Bilder entspricht einer vorrationalen Erlebniswirklichkeit. „Das erschaute Urbild wird zum Gegenbilde eines sowohl überpersönlichen als auch überindividuellen ‚Erkennens’“.[29] Klages wendet sich dagegen, das, was er geschaute Urbilder nennt, mit dem zu verwechseln, was bei Platon Ideen heißt. Das urbildliche Schauen lebt in einer vorbegrifflichen Sphäre.

Klages wie Husserl und Thomas von Aquin gehörten in die Bibliothek des Architekten Rudolf Schwarz. Die Begegnung von Scholastik und Phänomenologie war auch für den Katholiken Rudolf Schwarz, der sich intensiv mit Max Scheler beschäftigte, wesentlich. Zweifellos kannte er auch Heidegger. Bei Schwarz’ Texten treffen wir vielfach auf „Bilder“: einmal auf sprachliche oder dichterische Bilder bzw. die Tätigkeit des Bildens. So sei das Gestalten des Architekten ein Dichten. Zweitens nennt Schwarz Urbilder und deren Abbilder. Schließlich spricht er von bewohnten bzw. bewohnbaren Bildern. Wir wollen dem im Folgenden ein wenig nachgehen.

Gehen wir zunächst auf die Rede von der „Dichtung“ ein. Schwarz begreift das architektonische Gestalten und Bilden als ein Dichten im Gleichklang mit der Natur:
„alles Geschaffene durchlebt die immer gleich gebaute Folge der Gestalten. Diese Übereinstimmung verbürgt, daß die Schöpfung eine gemeinsame Geschichte haben kann. [...] Der Natur gelingt die große Übereinstimmung immerfort, sie quillt in Gestalten, die sich zu immer neuen Gestalten vereinbaren, der Mensch muß die Übereinstimmung schaffen, und sie wird ihm zur Dichtung. [...] Große Dichtung ist da zu tun, daß all diese vielerlei Räume zu einer gemeinsamen Form übereinkommen. Ein äußerster Fall wäre ihre völlige Einhelligkeit. Der Pflanze gelingt sie, im menschlichen Werk ist sie selten, aber diese völlig ineinander geraumten Räume müssen, wenn nicht einhellig, so doch vielstimmig ineinander gedichtet sein.“[30] Das Ziel dieses dichterisch-architektonischen Schaffens sind „bewohnbare Bilder“: „Ein Bau ist gar nicht als Fest für die Augen allein gedacht, sondern als Wohnraum. Wohnen ist aber etwas anderes als Anschauen, es wird von dem ganzen Menschen mit Leib und Seele und allen Sinnen geleistet, ist Weitung des eigenen Leibraumes ins Breite und Hohe, ist Kommunion mit vielen anderen Menschen in einer gemeinsamen Gestalt, Gemeinschaft in einem höheren Leib. Bauen schien mir die Hervorbringung solcher großen Gestalten zu sein [...]“.[31]

In seinem letzten Buch von 1960, das Schwarz nach einem schweren Herzanfall während der Genesungszeit schrieb, ist das Thema des Bildes und Bildens allgegenwärtig. Damit sind jedoch nicht die vielen Abbildungen gemeint, die das Buch „Kirchenbau“ aufweist. Vielmehr entschuldigt sich Schwarz dafür: „Dieses Buch ist meinem bedenklichen Mangel behaftet (…). Wir haben ihm Lichtbilder beigegeben, und das Lichtbild ist ungeeignet, Architektur darzustellen.“[32] Dieses „fotographische“ oder optische Sehen von Architektur macht Schwarz dem Ästhetiker zum Vorwurf. Denn dieser beurteile ein Gebäude aus der Perspektive des Betrachters und stelle den Raum in irgendeine optische Beziehung zum betrachtenden Einzelwesen. Schon in einem frühen Manuskript von 1924 urteilt Schwarz: „Dem Ästethen bedeutet er [der Raum, A. H.] den in jedem Augenblick neu erzeugten, in irgendeiner optischen Beziehung zum betrachtenden Einzelwesen stehenden Wahrnehmungsraum, innerhalb dessen die Erscheinungen ihre unter ganz bestimmten optischen Regeln verborgene Bedeutung haben; der Ästetiker wird im allerungünstigsten Falle sogar nicht abgeneigt sein, nach den Wahrnehmungen in seinem Raume das Bauwerk zu beschreiben und mit andern zu vergleichen, mit diesen zu Systemen zu vereinigen.“[33] Der Raum des Architekten ist aber ein grundsätzlich anderer: „Er ist ihm die Gestalt, die Projizierung irgendeines seelischen Kernes, nicht viel anders, als der menschliche Körper Gestalt einer Seele ist.“[34]

In einem Vortrag von 1956 führt Schwarz aus: „Es ist Wesen und Aufgabe der Baukunst bewohnbare Bilder zu schaffen“. Diese sind „kein schöner Anschein, sondern machtvolle, weltenbauende Gestalten, die durch das, was sie sind und leisten, zugleich auch bedeutend sind, nicht durch das, was man an sie herandenkt und herantut. Nicht in den Versuchen der Maler, sondern tief in den Gründen der Seele und draußen im Weltall, wo alles, was sich begibt, in mächtigen Bildern geschieht, wesen sie vorab.“[35]

Hier mag man besonders an Ludwig Klages und die „Wirklichkeit der Bilder“ denken, der ähnlich wie Schwarz der Wahrnehmung das Schauen, dem Ding das Bild gegenüberstellt. Bei Klages heißt es: „Der Kosmos lebt, und alles Leben ist polarisiert nach Seele (Psychae) und Leib (Soma). Wo immer lebendiger Leib, da ist auch Seele; wo immer Seele, da ist auch lebendiger Leib. Die Seele ist der Sinn des Leibes, das Bild des Leibes die Erscheinung der Seele“.[36] Bauen, so Schwarz weiter in seinem Vortrag, ist seinem Wesen nach von Grund auf symbolsetzendes Tun. Es sei zu fragen, nicht ob der Bau ein Bild werden soll oder nicht, sondern welches Bild sich ihm wirklichen soll. Wer bauen will, davon ist Schwarz überzeugt, dürfe die ursprüngliche Bildhaftigkeit der Architektur nicht verlegen verschweigen.

Nicht allein von Urbildern, gelegentlich auch von Archetypen spricht Schwarz. Er nennt diese auch „oberste Anweisungen“ oder „Pläne“. Diese werden entfaltet im Buch Vom Bau der Kirche (1938/1947). Rückblickend schreibt Schwarz über die „großen Archetypen“: „Ich versuchte, die Urbilder zu wecken und zu benennen, die in der Gegend wesen, wo die Welt noch im vorwirklichen Stande der Hoffnung ist, Vorentwurf ihrer selbst. Urbilder sind keine Ideen. Eine Idee ist nach Meinung der Griechen eigentlicheres Sein hinter den Dingen. Diese meine ‚Pläne’ sind aber nicht hinter den Dingen, sondern vor ihnen und wirklichen sich in sie hinein. Der Baumeister muß immer wieder in den tiefen und dunklen Urstrom der Bilder hinabtauchen, aus ihm seine neue Erfindung ins Licht heben, in den ewigen Keimstrom der Dinge, die sich oben im Lichte begeben wollen“.[37]

Jeder Student der Architektur kenne zumindest zwei solcher Urbilder, nämlich als Weg (Längsbau) und als Kuppel (Zentralbau). Schließlich werden es sechs „Pläne“ (heiliger Ring, offener Ring, heiliger Kelch, heiliger Weg, heiliger Wurf, goldene Rose). Urbilder haben für Schwarz die Art von „Plänen“ angenommen, die jedoch stets neu ausgelegt werden müssen, und zwar, wie er sagt: wiederum durch Bilder. Urbilder sind also der Ausgang, sie müssen immer wieder vom Architekten durch neue Bilder lebendig gedeutet und interpretiert werden. Wesentlicher Bezugspunkt ist aber der Mensch als offene Gestalt und sind die Menschen in ihren gemeinschaftlichen Verhaltensweisen, die „aus sich selbst eine neue, ganz in den Menschen verhaltene Bildhaftigkeit der Urgestalten hervorbringen“.[38] In diese Urgestalten/Archetypen/Pläne „wie in große Behälter ergießt sich der Bildstrom der Schöpfung. Diese lebendige Auslegung hat der Baumeister zu leisten, und er darf durchaus den unzähligen leistenden Gestalten der Welt in seinem Bau eine neue hinzufügen, die es noch nicht gab.“[39] Dieses Schauen der Urtypen verdankt der Mensch der Güte Gottes, so Schwarz, „aus dem Zustrom und Einstrom der Gnade“. Wir haben es hier in der Tat mit Grenzphänomenen zu tun, insofern das Wirken eines passiven Moments ein Geheimnis ist.

In „Kirchenbau“ spricht Schwarz von einer Urbaukunst. Diese „Kunst“ leistet der Mensch, indem er seinen Bedürfnissen, wie zum Beispiel dem Beten, eine bestimmte Gestalt gibt. Das Volk „muß ja auf einer bestimmten Stelle der Erde den Altar seines Opfers errichten und muß davor Platz nehmen und muß eine Gegend jenseits des Altars und seiner Versammlung für Gott freihalten. Das heißt, es muß die Erde einteilen, ihr den Grundriß der Gebete einzeichnen.“[40] Diese Urbaukunst bringt Urgestalten mit, die man als Archetypen beschreiben könnte. Sie haben vielleicht einen ähnlichen ontologischen Status wie Heideggers „Geviert“.  Und wenn Heidegger das Wohnen als „Anwesenheit“ bei den Dingen umschreibt, dann meint er, der Mensch, einmal auf oder in der Welt, muss irgendwo bleiben; er kann sich schließlich nicht in Luft auflösen. Bei Schwarz ist es aber auch eine Anthropologie des Bauens, die sich aus dem Versammeln des Menschen als Gemeinde ergibt. Er weiß, dass es stets um etwas Konkretes, Geformtes, Gestaltetes geht: „[…] in irgendeiner Weise muß es sich ordnen“, was heißt: die sogenannte Urbaukunst ist nichts Abstraktes, sondern etwas Konkretes. Dieses Finden zu einer Gemeinde, die die Erde auf besondere Weise gestaltet, ist schon ein Entwerfen, ein Entwurf: „Es [das Volk, A. H.] entwirft die Erde als gottesdienstliche Form“ und bringt so erst eine vor-architektonische Urgestalt hervor. Gemeinde und Gestalt sind gleich ursprünglich. Das ist durchaus im Sinne der Schwarz nicht unbekannt gebliebenen „Philosophischen Anthropologie“ gemeint. Gestalten haben Sinn und Bedeutung. Urgestalt und Urbild sind also, im Sinne Klages, keine platonischen Ideen, sondern stets konkrete Anschauungen und Erscheinungen. In welcher Beziehung steht der architektonische Entwurf zu den anthropologischen Grundmustern der Versammlung? Schwarz sagt, dass die Grundgestalt „zu einer architektonischen Gestalt ausgelegt werden“[41] müsse. Dieses Auslegen bedarf aber des Griffes zur „reinen Poesie“. Dies ist der Bereich der Gestalten und Bilder. Die Urgestalten sind Weisungen (Heidegger würde „Winke“ sagen), bar jeder konkreteren Angabe für den architektonischen Entwurf.

Mein Thema war die Einbildungskraft, Imagination oder Phantasie. Sie gehört zu den menschlichen Grundvermögen. Wie sie innerhalb der Architekturtheorie fruchtbar gemacht werden kann, dies habe ich eher als eine Aufgabe zu formulieren versucht, als es schon zeigen können. Bei der uns heute geläufigen Rede vom „Entwerfen in Bildern“ scheint es mir angebracht, diese Frage zunächst hinsichtlich ihrer angemessenen Tiefe und Fruchtbarkeit zu stellen, um sie gleich richtig in den Blick zu nehmen. Karsten Harries ist diesen Weg gegangen. Die Architekturtheorie ist seit den Tagen des Vitruv weiterhin angewiesen auf die großen und bleibenden Erkenntnisse der Philosophie, der Ethik, Ästhetik und der Metaphysik.


 



Anmerkungen:

 

[1] Wittgenstein PU § 66.

[2] Thomas Rentsch: Wie ist ein Mann ohne Eigenschaften überhaupt möglich? Philosophische Bemerkungen zu Musil, in Th. R.: Negativität und praktische Vernunft. Frankfurt/M. 2000.

[3] Vgl. Gottfried Gabriel, Logik und Rhetorik der Erkenntnis 1997.

[4] Pirmin Stekeler-Weithofer, Schema, Form und Urteilskraft, in: C. Demmerling, G. Gabriel und Th. Rentsch (Hg.): Vernunft und Lebenspraxis, 1995, S. 69.

[5] Vgl. Wilhelm Szlilasi, Phantasie und Erkenntnis, Bern 1969.

[6] Vgl. zum folgenden: Dieter Kamper, Zur Geschichte der Einbildungskraft, München 1981 sowie die Artikel „Bild” bzw. „Einbildung, Einbildungskraft“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Band 1 (1971) und Band 2 (1972).

[7] Erich Rothacker, Die Wirkung des Kunstwerks, in: E. R.: Die Genealogie des Bewusstseins, Bonn 1966, S. 308.

[8] Vgl. Wilhelm Szlilasi 1969.

[9] Ernst Bloch, Imago an Menschen und Dingen (1927), GA 10, S. 136.

[10] Vgl. zum folgenden Martin Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Frankfurt/Main 2. Aufl. 1951.

[11] 1951, S. 35.

[12] Vgl. S. 38.

[13] S. 38.

[14] S. 38.

[15] S. 38.

[16] Vgl. A. Hahn: [Artikel] Wohnen, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, 2005.

[17] Edith Stein: Was ist Philosophie? Ein Gespräch zwischen Edmund Husserl und Thomas von Aquino, in: Erkenntnis und Glaube. Werke, Band XV, Freiburg, Basel, Wien 1993. Eine gekürzte, nicht in Dialogform geschriebene Fassung ist damals erschienen unter dem Titel „Husserls Phänomenologie und die Philosophie des hl. Thomas v. Aquino“, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Ergänzungsband, Halle a.d. Saale 1929, S. 315-338. Edith Stein hat sich seit 1925 intensiv mit der Philosophie des Thomas von Aquin auseinandergesetzt. Dabei ging es ihr darum, „die Thomistische Lehre auf die Phänomenologie zu beziehen“, so H. R. Sepp in seiner Einführung zu Edith Stein: Potenz und Akt, Werke Band XVIIII, Freiburg, Basel, Wien 1998, S. XI f.

[18] Vgl. auch Josef König: Der Begriff der Intuition (1926). Nachdruck Hildesheim, New York 1981.

[19] Stein, S. 37 (kursiv im Original).

[20] A.a.O., S. 39.

[21] S. 40.

[22] A.a.O.

[23] Bachelard freilich bewegt sich bewusst im Bereich des logos, also der Sprache: „Wir vermögen nicht in einer Region zu meditieren, die vor der Sprache wäre“, heißt es in: „Poetik des Raumes“ im Hinblick auf das dichterische Bild. An dieser Stelle kann ich nicht auf die komplizierte Frage eingehen, inwiefern „Bilder“ in einem vor-sprachlichen Bereich anzusiedeln sind, wie es offensichtlich Klages annimmt.

[24] Klages 1930, S. 113.

[25] Auch zu Schwarz’ Lektüre gehörten Mystiker wie Meister Eckhart und Heinrich Seuse.

[26] Klages, S. 106.

[27] S. 106.

[28] S. 108.

[29] S. 109.

[30] Schwarz: Kirchenbau, 1960, S. 9.

[31] A.a.O., S. 7 f.

[32] A.a.O., S. 6.

[33] Schwarz zitiert bei Hasler: Architektur als Ausdruck Rudolf Schwarz (2000), S. 274. Die Orthographie entspricht dem Original.

[34] zitiert bei Hasler, S. 274.

[35] Kirchenbau, S. 248.

[36] Vom kosmogonischen Eros, S. 63.

[37] Kirchenbau, S. 76.

[38] S. 77.

[39] S. 252.

[40] S. 325.

[41] S. 325.


 


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12. Jg., Heft 1
August 2007