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„Allzulange haben wir uns bemüht, der Welt durch Begriffe
habhaft zu werden, und darüber vergessen, dass die Bilder stärker,
wirklicher und genauer sind. So stehen wir jetzt, da uns die Welt wieder in
Bildern zu quellen beginnt, ratlos vor dem Überfluss. Wir haben keine Lehre
und Ordnung der Bilder.“ (Rudolf Schwarz)
Das architekturtheoretische Werk von Karsten Harries ist beeindruckend. Wie
kaum ein zweiter hat er die Debatten, in denen sich die Architekten mehr
oder weniger kompetent zu Fragen ihrer Profession äußern, mit seinen
Beiträgen versachlicht und stets die philosophische Vernunft in die
Waagschale der notwendigen Begriffsklärungen gelegt. Sein philosophisches
Interesse an unserem Tun gilt der architekturtheoretischen Bedeutsamkeit des
ontologischen und kunsttheoretischen Werks insbesondere von Hegel und
Heidegger. Auch Hans Blumenbergs Schriften gaben und geben immer wieder
Anlass, das Werk der Architektur wie das Tun des Architekten in ihrer
gesellschaftlichen ebenso wie in ihrer anthropologischen Fraglichkeit zu
beleuchten. Harries prüft gewissenhaft und kompetent,
was der Diskurs über Architektur von diesen Denkern erwarten und wie dieses
Denken fruchtbar unsere gegenwärtigen Erörterungen bereichern kann. Auf
diese Weise hat Karsten Harries sein eigenes unverwechselbares Profil zu
wünschenswerter Schärfe gebracht.
Vor allem die Auseinandersetzung zu Fragen der Ästhetik und der Ethik, so
haben wir von unserem Jubilar gelernt, gehört ins Zentrum der
Architekturtheorie. Ein Thema, von dem ich glaube, dass es sehr gut zu der
von Karsten Harries betriebenen Architekturtheorie passt, ist die
Einbildungskraft des Architekten. Heute ist viel vom „Entwerfen in Bildern“
die Rede, dass es sicher einmal gut täte, sich der vielfältigen Bedeutung
des Ausdrucks Einbildungskraft, im Sinne eines menschlichen Grundvermögens
des Könnens und Wissens, anzunehmen. Anschließend soll am Beispiel des
Architekten Rudolf Schwarz gezeigt werden, wie die Rückführung
architekturtheoretischer Begriffe auf deren philosophische Herkunft
unabdingbar ist, um sie in ihrer Reichhaltigkeit zu verstehen. Natürlich
kann ich diese Thematik im Rahmen dieser Festschrift nur anreißen.
Zu den Grundvermögen des architektonischen Entwerfens
Grob können wir zwischen einem Behauptungs- und einem Erfahrungswissen
unterscheiden. Ihre Hauptmerkmale sind, dass das Behauptungs- oder
Faktenwissen aussage- und irrtumsfähig, das Erfahrungswissen dagegen gar
nicht darstellbar ist. Eine Gesellschaft, die ihr Zukunftspotential in der
Anhäufung von Wissen sieht, stellt die entsprechenden Informationen, von
denen sie glaubt, dass jeder über sie verfügen müsse, in der Regel in Sätzen
oder Aussagen bereit. Denn diese Gesellschaft geht davon aus, dass
derjenige, der etwas weiß, auch sagen kann, was er weiß. Dem ist jedoch
nicht so. Wissen muss nicht in jedem Fall auf einer richtigen Aussage
beruhen. Es gibt auch ein Wissen, das sich in der praktischen Fertigkeit
zeigt, wie etwas auf eine gekonnte Weise zu tun ist. Wenn wir jetzt allein
an das begrifflich darstellbare Wissen denken, dann reicht es sicher für das
von einem Architekten zu erwartende Können nicht aus, etwas aus einer
allgemeinen Begrifflichkeit erklären zu können. Es bedarf darüber hinaus der
praktischen Urteilskraft oder des produktiven Verstandes, um zum Beispiel
den vorliegenden konkreten Fall, mit dem es der Entwerfer hier und jetzt zu
tun hat, richtig einzuordnen. Erst die inhaltliche Bestimmung des
Einzelfalls als Beispiel bedeutet eine effektive Ergänzung unseres
Faktenwissens. Der konkrete Entwurfsfall ist immer mehr als der Fall einer
allgemeinen (Entwurfs-)Regel. Ihn ästhetisch zu bestimmen, bedeutet
gerade ihn als individuellen oder besonderen Fall zu sehen. Dies ist
allerdings kein streng logisches Vermögen, sondern ein sinnliches bzw.
analogisches.
Was ist damit gemeint? Logisch heißt ein Denken, das sch argumentativ auf
der Grundlage deutlicher Unterscheidungen vollzieht, d.h. in scharf
begrenzten Begriffen agiert. Analogisch soll dem gegenüber ein Denken
heißen, das sich der Übergänge bedient und die begrifflichen Grenzen
durchlässig und porös hält. Logisches Denken drängt auf Unterscheidung
des Ähnlichen, analogisches Denken sucht Ähnlichkeiten im Verschiedenen.
Logisches Denken drückt sich aus in Definitionen, analogisches Denken in
Vergleichen. Der Begriff der Familienähnlichkeit unterstützt das Prinzip der
Analogie. Wir erkennen dann Zusammenhänge nicht auf eine logische, sondern
auf eine „intuitive“ oder „schauende“ Weise. Wie dies möglich ist, hat uns
Wittgenstein gezeigt, indem er „logisch“ nicht verbundene Arten von Spielen,
da ihnen kein einziges Merkmal gemeinsam ist, dennoch zu einer Einheit fügt.
„Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir ‚Spiele’ nennen. Ich meine
Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele, usw. Was ist allen
diesen gemeinsam? – Sag nicht: ‚Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst
hießen sie nicht ‚Spiele’’ – sondern schau, ob ihnen allen etwas
gemeinsam ist.“[1]
Wittgenstein selbst hat den Ausdruck „Schauen“ hervorgehoben. Das Ziel
dieses Schauens ist das Entdecken von Ähnlichkeiten: „Ähnlichkeiten
im Großen und Kleinen“. Sie tauchen auf und verschwinden wieder. Ich meine,
dass es kein Zufall ist, dass Wittgenstein mit der Aufforderung „Schau!“ auf
eine „ästhetische“ oder sinnliche und nicht auf eine logische Erkenntnis
abzielt.
Thomas Rentsch hat auf ein vergleichbares „analogisches“ Schließen bei
Robert Musil hingewiesen, in dessen Jahrhundertroman „Der Mann ohne
Eigenschaften“ die Frage nach der „Urgabel“ und nach der „Urliebe“ als
sinnlos abgetan wird. Warum wird unbedenklich von Eß-, Mist-, Ast-, Gewehr-,
Weg- und anderen Gabeln gesprochen, fragt Musil. Offensichtlich gibt es
etwas Gemeinsames. Wir dürfen dieses Verbindende jedoch nicht in der Logik
suchen: „Denn sie [die „Gabeln“] brauchen nicht einmal untereinander alle
ähnlich zu sein [d. h. sie brauchen kein Merkmal gemeinsam zu haben], es
genügt schon, wenn eins das andere gibt, wenn man von einem zum anderen
kommt, wenn nur Nachbarglieder einander ähnlich sind; entferntere sind es
dann durch ihre Vermittlung. Ja, auch das, was die Ähnlichkeit ausmacht, das
die Nachbarn Verbindende, kann in seiner solchen Kette wechseln; und so
kommt man ereifert von einem Ende des Wegs zum anderen und weiß kaum noch
selbst, auf welche Weise man ihn zurückgelegt hat.“[2]
Der Bezug von Prinzip und Einzelfall soll ja nicht bloß vage sein.
Wesentlicher ist, dass die Beziehung der Familienähnlichkeit, logisch
betrachtet, eine transitive Relation ist: Wenn a und b familienähnlich sind
und b und c familienähnlich sind, dann sind auch a und c familienähnlich.[3]
Zur Familienähnlichkeit gehört als Hintergrund eine gemeinsame
Entwicklungslinie der Fälle. Vor einem solchen Hintergrund können zwei Dinge
familienähnlich sind, ohne dass sie ein einziges Merkmal gemeinsam haben.
Familienähnlichkeit ist eine gebietsinterne Ähnlichkeit. Sie besteht
zwischen den Mitgliedern einer Familie. Auch wenn die Familie nicht „scharf
begrenzt“ ist und offen bleibt, wer von den sozusagen entfernteren
Verwandten noch zur Familie zu zählen ist. Es ist aber zu beachten, dass sie
nicht gebietsübergreifend ausgelegt wird. Es ist weiter darauf zu
achten, das verschieden Erscheinende nicht dadurch ähnlich oder gleich zu
machen, dass Unterschiede geleugnet werden, sondern dadurch, dass sie weiter
verfeinert werden, so dass die scharfen Begrenzungen zwischen ihnen
verwischt werden. Die Pointe ist, Zusammenhang durch Differenz zu stiften.
Damit werden Unterschiede im Sinne einer größten Vielfalt der Fälle, aber
nicht Unterscheidungen im Sinne fester Grenzen angestrebt.
Das kritische Urteilsvermögen, das im Entwurfsprozess zur Geltung zu kommen
hat, urteilt in freier Selbstverantwortung, inwiefern und auf welche Weise
das prinzipiell als gut, richtig und schön Gewusste einen weiteren
Anwendungsfall gefunden hat. Die gekonnte Begutachtung des Falls wendet
nicht einfach den Urteilsmaßstab des Allgemeinen an, leitet nicht das
Niedere vom Höheren ab, sondern bestimmt diesen selbst mit, ergänzt oder
berichtigt ihn auch notfalls. „Konstruktiver Verstand oder Bildungskraft bei
der Entwicklung neuer Gestaltungen und Formen ist in gewissem Sinn noch Teil
der technischen Kompetenz des Architekten […] Dabei weist der fast synonym
zu ‚Einbildungskraft’ gebrauchte Ausdruck ‚Phantasie’ (per Konnotation)
darauf hin, daß der produktive Verstand gerade nicht schematisch vorgehen
kann, sondern eher auf einen teils ‚spielerischen’, teils
diszipliniert-kontrollierenden Umgang mit ‚Einfällen’ angewiesen ist.“[4]
Das analogische Denken wie auch das „Schauen von Bildern“ gehören zum
menschlichen Einbildungsvermögen und zur wesentlichen Kompetenz des
Architekten. Die Geisteswissenschaften zeichnete stets ein ambivalenter
Umgang mit der Phantasie aus. Vielleicht deshalb, weil die Welt der
sinnlichen Erscheinungen immer quer steht zur empirischen Welt.
Veränderungen in der empirischen Welt lassen sich messen und werden
quantitativ festgestellt. Veränderungen in der Welt der Erscheinungen
bemerken wir als Wandel von Formen und Gestalten. Die Einbildungskraft
spielte in der Geschichte des Denken oftmals die Rolle eines bloß niederen
Erkenntnisvermögens. Für Kant gilt sie mit Rücksicht auf die Bedingungen von
Erkenntnis überhaupt als die dunkle, aber die höchste, d.h. unüberbietbare
menschliche Kraft der Erfahrung. Kant hat aber Zeit seines Lebens
geschwankt, ob zwei (Sinnlichkeit und Verstand) oder drei (zusätzlich
Einbildungskraft) Erkenntnisquellen anzunehmen seien. Für Wilhelm Szilasi
ist das Einbildungsvermögen in der Hauptsache kein Untervermögen des nach
Regeln verfahrenden Verstandes, sondern das mit dem Leben identische
orientiert oder eben: „im Bilde sein“.[5]
Ein kurzer Exkurs zur Wortgeschichte von „Bild“ zeigt eine ambivalente
Bedeutung des Wortes.[6]
Das althochdeutsche „bilidi“ heißt einerseits „(Wunder-)Zeichen“, „Wesen“,
„Gestalt“; andererseits „Bild, Abbild, Nachbildung“; zum einen wird also
betont, wodurch etwas seine Gestalt gewinnt, in sein Wesen kommt, zur vollen
Entfaltung seiner Wunderkraft gelangt; zum anderen wird das herausgestellt,
was ein solches Ur-Bild nachbildet, darstellt, bezeichnet. Das Wort
„Einbildungskraft“ ist von Paracelsus aus „imaginatio“
eingedeutscht worden. Der Einbildungskraft wird Schwärmerei, Vagantentum,
Unverbindlichkeit, trügerische Verworrenheit und gelegentlich sogar
moralische Verwerflichkeit nachgesagt, so dass ihr der Zuchtmeister
„Vernunft“ zur Seite gestellt werden muss. Die ausschlaggebende Differenz
betrifft die Bedeutung der Einbildungskraft als reproduktive bzw. produktive
Fähigkeit im Ganzen der menschlichen Erfahrung. Zur wesentlichen Kompetenz
der Einbildungskraft gehört seit Thomas v. Aquin, Dinge auch in ihrer
Abwesenheit so vorzustellen, als ob sie gegenwärtig wären. „Die Vorstellung
solcher Dinge, die nicht zugegen sind, pflegt man Einbildung zu nennen. Und
die Kraft der Seele, dergleichen Vorstellungen hervorzubringen, nennet man
Einbildungskraft,“ heißt es beim Aufklärer Chr. Wolff. Erich Rothacker weist
in seinem Aufsatz zum „Kunstwerk“ darauf hin, dass Einbildungskraft immer
auch schon vor- und außerkünstlerisch zur sinnlich vermittelten
Situationsaufklärung von Bedeutung sein kann: „Selbst das Gewahrwerden von
Situationsmodifikationen kann bereits als eine ‚Reaktion’ des Organismus
interpretiert werden. Auch hier antwortet der Mensch auf eine Veränderung
seiner ‚Lage’ mit dem Entwurf einer angemessenen Deutung der situativen
Geschehnisse. Es ist eine Leistung der Einbildungskraft.“[7]
Erfahrung und Erkenntnis sind auf ein Gemeinsames bezogen: das Wissen. Nach
Aristoteles gehört zur vollen menschlichen Erfahrung dreierlei: Anschauung,
Phantasie und Gedächtnis. Phantasie (Einbildungskraft, Imagination) besagt:
Sichtbarmachen, zu einer Sichtbarkeit bringen und als solches als Bild
erhalten oder auch: Im Bilde sein.[8]
Die menschliche Einbildungskraft ist das Vermögen, sich ein (anschauliches)
Bild zu machen und zugleich die Bildwandlungsmöglichkeit zu sehen. Auf das
Entwerfen bezogen, heißt dies: Die Einbildungskraft macht sich ein Bild von
der Wohnsituation und bildet dieses Bild weiter, führt es fort, indem das
Wohnliche neu gefügt wird. Dieses Verständnis von Wohnen zeichnet zum
Beispiel das Werk von Rudolf Schwarz aus. Für ihn ist, wie ich später noch
zeigen werde, das Bauen ein Dichten, dessen Ziel „bewohnbare Bilder“ sind.
Das Einbildungsvermögen muss aus dem Wohn-Gebrauch einen Vor-Schein auf das
Künftige gleichsam heraussehen. Es schafft (entwirft) so ein neues,
verwandtes Bild. So kommt Bild zu Bild und reiht sich in die historische
Folge der Bilder ein. Der Entwurf bewerkstelligt eine Metamorphose, einen
Gestaltwandel. Bei Bild wie Gestalt kommt es darauf an, etwas in sich
Stimmiges, Ganzes entstehen zu lassen. Gestalten werden geschaffen, ihr Ziel
ist aber das „Charakterbild“. Es muss stimmig sein! Bilder sind erinnert,
nicht allein vorwegnehmend, am Bild vom Menschen, seinen Haltungen, seinem
Lebensstil. Gerade darin, in ihrer Stilgemäßheit, so hat es Ernst Bloch
gesehen, sind Bilder öffentlich-gemeinschaftlich. „Der ‚Markt’ schafft die
Bilder der öffentlichen Meinung, also des Klassengeists und Zeitgeists; die
‚Bühne’ liefert die Legenden der Geschichte. Jedoch eben: alle diese Bilder
sind nicht mehr rein privat, sondern in einem Miteinander von Menschen
entstanden und derart, wie sie der Erfahrung entstammen, wenn auch einer mit
Ideologien, dieser nicht völlig fremd oder auf sie lediglich projiziert.“[9]
Keine Frage, dass hier u. a. auch Intuition und Schöpferkraft im Spiel sind
und Anwendung finden. Diese vorlogische Kompetenz im sinnlichen Erkennen des
Gestalthaften und Bleibenden wird gelegentlich damit deutlich zu machen
versucht, dass von einem Schauen und Dichten gesprochen wird.
Nicht nur in der Philosophie Heideggers spielt das „Dichten“ eine Rolle.[10]
Hölderlin sei, nach Heidegger, der „Dichter des Dichters“, bei ihm lasse
sich das „Wesentliche“ des Wesens der Dichtung finden. Der Aufsatz
„Hölderlin und das Wesen der Dichtung“ zeigt, warum Hölderlin und das
Dichten für die Phase der „Kehre“ in Heideggers Denken so bedeutsam wurden.
Ich will nur kurz auf die zentrale Stellung der Sprache eingehen: „Allein
das Wesen der Sprache erschöpft sich nicht darin, ein Verständigungsmittel
zu sein. Mit dieser Bestimmung ist nicht ihr eigentliches Wesen getroffen
(...) Die Sprache gewährt überhaupt erst die Möglichkeit, inmitten der
Offenheit von Seiendem zu stehen. Nur wo Sprache, da ist Welt, das heißt:
der stets sich wandelnde Umkreis von Entscheidung und Werk, von Tat und
Verantwortung, aber auch von Willkür und Lärm, Verfall und Verwirrung. (...)
Die Sprache ist nicht ein verfügbares Werkzeug, sondern dasjenige Ereignis,
das über die höchste Möglichkeit des Menschen verfügt“.[11]
Die Sprache ereignet sich für den Menschen als Gespräch. Im Gespräch, das
die Menschen miteinander führen, befinden sie über Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft. Dadurch lernen sie zwischen dem Wandelbaren und dem Bleibenden
zu unterscheiden. Wer ist es aber, so fragt Heidegger, der im Fluss der Zeit
ein Bleibendes fasst und es im Wort zum Stehen bringt?[12]
Der Dichter stiftet durch das Wort das Bleibende. Das Bleibende ist nichts
was immer schon vorhanden wäre. Vielmehr muss „gerade das Bleibende gegen
den Fortriß zum Stehen gebracht werden; das Einfache muß der Verwirrung
abgerungen, das Maß dem Maßlosen vorgesetzt werden“.[13]
An dieser Stelle begegnet uns im Zusammenhang mit dem Dichten (und Bleiben)
das Maß, welches dem Maßlosen entgegen gesetzt werden soll. Dazu müssen, so
Heidegger, die Götter ursprünglich genannt werden. Durch das Nennen der
Götter stellt sich der Mensch unter ihren Anspruch. Die Bedeutung der
Dichtung liegt im Aussprechen des wesentlichen Wortes: „Dichtung ist
worthafte Stiftung des Seins. (...) Das Einfache lässt sich nie unmittelbar
aus dem Verworrenen aufgreifen. Das Maß liegt nicht im Maßlosen“.[14]
Darauf folgt eine weitere Bestimmung der Aufgabe der Dichtung für das
Bemessen der Dinge: „Weil aber Sein und Wesen der Dinge nie errechnet und
aus dem Vorhandenen abgeleitet werden können, müssen sie frei geschaffen,
gesetzt und geschenkt werden. Solche freie Schenkung ist Stiftung“.[15]
Auch das Dasein des Menschen wird so auf einen festen Grund gestellt. In
diese feste Gründung spielt nun ebenfalls das Wesen des menschlichen Wohnens
hinein. „Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet / Der Mensch auf dieser
Erde(.)“, heißt es bei Hölderlin. Das Wohnen, oder auch das Dasein, sei in
seinem Grund „dichterisch“. Das dichterische Wohnen ist kein Verdienst des
Menschen, sondern ein Geschenk. Ich gehe jetzt nicht weiter aufs Wohnen ein[16],
sondern frage nach dem Zusammenhang von Dichten und Schauen bei Rudolf
Schwarz.
Zum Bildverständnis bei Rudolf Schwarz
Rudolf Schwarz, so wissen wir, hat sich in seinem theoretischen Werk stets
um eine Verbindung von Phänomenologie und Metaphysik bemüht. Das Entwerfen
des Architekten steht in der großen Geschichte des Schaffens von Bildern,
deren Urgestalten in der Begegnung mit dem Göttlichen oder Numinosen zu
sehen sind. Das Vermögen des Architekten wird darin angesprochen, wie es ihm
gelingt, diesen Ursituationen des Menschlichen Gestalt zu geben. – „Himmel
und Erde“ heißt dieses Buch, in dem dieser Artikel erscheint: Die
Philosophin Edith Stein hat in ihrem Beitrag für die Festschrift zu Edmund
Husserls 70. Geburtstag ein Gespräch zwischen Thomas von Aquin und Husserl
imaginiert.[17]
Am Abend seines Geburtstags, nachdem alle Gäste das Haus verlassen haben,
klopft es an Husserls Studierstube. Der unerwartete Gast ist niemand
Geringeres als der hl. Thomas. Husserl ist zunächst, wer will es ihm
verdenken, sehr überrascht, doch schon schnell finden die beiden sich in
eine philosophische Disputation verstrickt. Man unterhält sich über natürliche und
übernatürliche Vernunft, Glauben und Wissen und, selbstverständlich, über
Wahrheit. Für die Autorin Edith Stein ging es darum, eine gewisse
Verwandtschaft zwischen beiden Theorien aufzuzeigen, insbesondere
hinsichtlich der Bestimmung der menschlichen Einbildungskraft. Stein lässt
das Gespräch also um das Thema „Intuition“ kreisen.[18]
Oder wie sie es dem hl. Thomas in den Mund legt: „die Frage nach der
vielbesprochenen Intuition oder Wesensschau“.[19]
Es wird nun diskutiert, inwiefern dieses „Erschauen“ als intellektuelle
Vision des phänomenologischen Philosophen vergleichbar ist mit der auf
einem Gnadenvorzug beruhenden Erleuchtung des asketischen Gläubigen. Edith
Stein war zu jener Zeit persönliche Assistentin von Husserl und damit
bestens vertraut mit seinem Werk. Vor allem kannte sie auch viele seiner
Manuskripte, die damals nicht veröffentlicht waren. Den Disputanten ist
vertraut, dass es sich bei der Intuition um eine „Methode“ handelt, die zu
einer besonderen Erkenntnis kommt. Ich will im folgenden Edith Steins
Freilegung dieser Methode folgen, dabei Verstand und Sinnlichkeit als eine
Einheit gesehen werden. Wie kommt die Phänomenologie zu ihren Einsichten?
Der intuitive Charakter der Wesenserkenntnis meint nicht ein einfaches
„Hinsehen“ ohne jede Denkleistung. Entscheidender ist, dass er zu einer
Erkenntnisleistung kommt, die nicht auf einem Syllogismus beruht. Intuition
bedeutet: „im Innern der Dinge zu lesen“[20].
Sie ist eine Verstandeseinsicht und hat „den Charakter des
Empfangens“[21].
Damit hebt Stein Husserls Methode als eine durchweg „passive“ hervor, in
Abhebung zu konkurrierenden Methoden, die sich durch Konstruktionen und
Schöpfungen ihrer verstandesmäßigen Forschungsleistungen auszeichnen. Diese
Einsichten auf Grund eines passiven Empfangenen sind menschliche
Grenzphänomene: „Der Menschengeist berührt hier die Sphäre der höheren
Geister“, so der hl. Thomas im Disput mit Husserl.[22]
Die Einsichten in solche Grenzphänomene sind unmittelbar, was bedeutet, dass
das darin Erkannte irrtumsfrei und (wie jede Erfahrung auch) unverlierbar
ist, im Gegensatz zu allem Faktenwissen. Während das Ableitungswissen
fehlerhaft sein kann, ist die Intuition, weil ihre „Wahrheit“ direkt
eingesehen wird, fehler- und irrtumsfrei.
An dieser Stelle ist zu fragen, ob das intuitiv Geschaute nicht Bilder oder
gar Ur-Bilder sind (sein müssen)? Ludwig Klages und auch Gaston Bachelard[23]
haben dies behauptet. Im kosmogonischen Eros unterscheidet Klages die
Dingwahrnehmung vom Schauen von Bildern. Er spricht nicht von „Wesensschau“,
sondern von Ekstase. In ihrem Zustand ist die Seele befreit vom (denkenden)
Geist. An einer Stelle diskutiert Klages Schopenhauer und stellt fest, „daß
die sogenannten Urbilder oder Ideen, welche Schopenhauer und zwar in
voller Übereinstimmung mit Platon im Sinne hat, überhaupt gar keine Bilder
sind, sondern samt und sondern nichts als Begriffe!“[24]
Auf der Suche nach dem „Quellpunkt“ von Glaubensüberzeugungen und
Gewissheiten greift Klages zurück auf Mythos und Symbole und fragt nach
ihrem Erleben. Dieses Erleben nennt Klages Schauung. Die Nähe zum
christlichen Mystiker[25]
wie zum blinden Seher, wie ihn die Antike beschrieb, ist evident. Die
Ekstase schafft „echte Dichtung und echte Kunst“[26].
Klages greift den Begriff der „bildenden Kunst“ auf und überträgt ihn auf
das Ereignis des Schauens: Der „Ausdruck ‚bildende Kunst’ erinnert uns aber
daran, daß die gestaltende Tätigkeit der Vergegenständlichung von Bildern
diene, und lässt uns vermuten: das Ereignis, das den Geist zu bildnerischen
Bemühungen zwinge, hänge mit dem Aufleuchten innerer Bilder zusammen.“[27]
Solche Bilder, die Klages anspricht, sind weder Tatsachen noch Dinge; sie
werden auch nicht wahrgenommen. Was „Bild“ bedeutet, muss gerade gegenüber
dem Dingcharakter herausgestellt werden: „Das Bild hat Gegenwärtigkeit nur
im Augenblick seines Erlebtwerdens; das Ding ist ein für allemal
‚festgestellt’ – das Bild fließt mit dem immerfließenden Erleben; das Ding
beharrt, dauert, steht in lebensfremder Unentmischbarkeit – das Bild ist nur
im Erlebnis des Erlebenden da; das Ding im beliebigen Wahrnehmungsakte eines
jeden – an das Bild kann ich mich zwar erinnern, aber ich kann es nicht im
Urteil vergegenwärtigen; auf das Ding, weil es jetzt das nämliche wie damals
ist, kann ich mich jederzeit denkend beziehen und es durch Kundgabe meines
Urteils zum identischen Beziehungspunkt aller Vernehmenden machen – das
Bild, eingetaucht in den Strom der Zeit, verwandelt sich, wie sich alles
verwandelt, eingerechnet die erlebende Seele; das Ding, weil außerhalb der
Zeit, fällt, gemessen an ihr, der Zerstörung anheim – das Bild wird von der
Seele empfangen; das Ding aufgrund des Empfangenen durch die Urteilstat des
Geistes geleistet – das Bild hat bewußtseinsunabhängige Wirklichkeit; das
Ding ist in die Welt vom Bewußtsein hineingedacht und existiert nur für eine
Innerlichkeit persönlicher Wesen. Darum: wer die Form des Personseins in der
Ekstase zersprengt, für den geht im selben Augenblick die Welt der Tatsachen
unter, und es aufersteht ihm mit alles verdrängender Wirklichkeitsmacht die
Welt der Bilder.“[28]
Klages lehnt nicht nur jeden denkerischen, sondern auch willentlichen
Einsatz ab. Das Schauen der Bilder entspricht einer vorrationalen
Erlebniswirklichkeit. „Das erschaute Urbild wird zum Gegenbilde eines sowohl
überpersönlichen als auch überindividuellen ‚Erkennens’“.[29]
Klages wendet sich dagegen, das, was er geschaute Urbilder nennt, mit dem zu
verwechseln, was bei Platon Ideen heißt. Das urbildliche Schauen lebt in
einer vorbegrifflichen Sphäre.
Klages wie Husserl und Thomas von Aquin gehörten in die Bibliothek des
Architekten Rudolf Schwarz. Die Begegnung von Scholastik und Phänomenologie
war auch für den Katholiken Rudolf Schwarz, der sich intensiv mit Max
Scheler beschäftigte, wesentlich. Zweifellos kannte er auch Heidegger. Bei
Schwarz’ Texten treffen wir vielfach auf „Bilder“: einmal auf sprachliche
oder dichterische Bilder bzw. die Tätigkeit des Bildens. So sei das
Gestalten des Architekten ein Dichten. Zweitens nennt Schwarz Urbilder und
deren Abbilder. Schließlich spricht er von bewohnten bzw. bewohnbaren
Bildern. Wir wollen dem im Folgenden ein wenig nachgehen.
Gehen wir zunächst auf die Rede von der „Dichtung“ ein. Schwarz begreift das
architektonische Gestalten und Bilden als ein Dichten im Gleichklang mit der
Natur: „alles
Geschaffene durchlebt die immer gleich gebaute Folge der Gestalten. Diese
Übereinstimmung verbürgt, daß die Schöpfung eine gemeinsame Geschichte haben
kann. [...] Der Natur gelingt die große Übereinstimmung immerfort, sie
quillt in Gestalten, die sich zu immer neuen Gestalten vereinbaren, der
Mensch muß die Übereinstimmung schaffen, und sie wird ihm zur Dichtung.
[...] Große Dichtung ist da zu tun, daß all diese vielerlei Räume zu einer
gemeinsamen Form übereinkommen. Ein äußerster Fall wäre ihre völlige
Einhelligkeit. Der Pflanze gelingt sie, im menschlichen Werk ist sie selten,
aber diese völlig ineinander geraumten Räume müssen, wenn nicht einhellig,
so doch vielstimmig ineinander gedichtet sein.“[30]
Das Ziel dieses dichterisch-architektonischen Schaffens sind „bewohnbare
Bilder“: „Ein Bau
ist gar nicht als Fest für die Augen allein gedacht, sondern als Wohnraum.
Wohnen ist aber etwas anderes als Anschauen, es wird von dem ganzen Menschen
mit Leib und Seele und allen Sinnen geleistet, ist Weitung des eigenen
Leibraumes ins Breite und Hohe, ist Kommunion mit vielen anderen Menschen in
einer gemeinsamen Gestalt, Gemeinschaft in einem höheren Leib. Bauen schien
mir die Hervorbringung solcher großen Gestalten zu sein [...]“.[31]
In seinem letzten Buch von 1960, das Schwarz nach einem schweren Herzanfall
während der Genesungszeit schrieb, ist das Thema des Bildes und Bildens
allgegenwärtig. Damit sind jedoch nicht die vielen Abbildungen gemeint, die
das Buch „Kirchenbau“ aufweist. Vielmehr entschuldigt sich Schwarz dafür:
„Dieses Buch ist meinem bedenklichen Mangel behaftet (…). Wir haben ihm
Lichtbilder beigegeben, und das Lichtbild ist ungeeignet, Architektur
darzustellen.“[32]
Dieses „fotographische“ oder optische Sehen von Architektur macht Schwarz
dem Ästhetiker zum Vorwurf. Denn dieser beurteile ein Gebäude aus der
Perspektive des Betrachters und stelle den Raum in irgendeine optische
Beziehung zum betrachtenden Einzelwesen. Schon in einem frühen Manuskript
von 1924 urteilt Schwarz: „Dem Ästethen bedeutet er [der Raum, A. H.] den in
jedem Augenblick neu erzeugten, in irgendeiner optischen Beziehung zum
betrachtenden Einzelwesen stehenden Wahrnehmungsraum, innerhalb dessen die
Erscheinungen ihre unter ganz bestimmten optischen Regeln verborgene
Bedeutung haben; der Ästetiker wird im allerungünstigsten Falle sogar nicht
abgeneigt sein, nach den Wahrnehmungen in seinem Raume das Bauwerk zu
beschreiben und mit andern zu vergleichen, mit diesen zu Systemen zu
vereinigen.“[33]
Der Raum des Architekten ist aber ein grundsätzlich anderer: „Er ist ihm die
Gestalt, die Projizierung irgendeines seelischen Kernes, nicht viel anders,
als der menschliche Körper Gestalt einer Seele ist.“[34]
In einem Vortrag von 1956 führt Schwarz aus: „Es ist Wesen und Aufgabe der
Baukunst bewohnbare Bilder zu schaffen“. Diese sind „kein schöner Anschein,
sondern machtvolle, weltenbauende Gestalten, die durch das, was sie sind und
leisten, zugleich auch bedeutend sind, nicht durch das, was man an sie
herandenkt und herantut. Nicht in den Versuchen der Maler, sondern tief in
den Gründen der Seele und draußen im Weltall, wo alles, was sich begibt, in
mächtigen Bildern geschieht, wesen sie vorab.“[35]
Hier mag man besonders an Ludwig Klages und die „Wirklichkeit der Bilder“
denken, der ähnlich wie Schwarz der Wahrnehmung das Schauen, dem Ding das
Bild gegenüberstellt. Bei Klages heißt es: „Der Kosmos lebt, und alles Leben
ist polarisiert nach Seele (Psychae) und Leib (Soma). Wo immer lebendiger
Leib, da ist auch Seele; wo immer Seele, da ist auch lebendiger Leib. Die
Seele ist der Sinn des Leibes, das Bild des Leibes die Erscheinung der
Seele“.[36]
Bauen, so Schwarz weiter in seinem Vortrag, ist seinem Wesen nach von Grund
auf symbolsetzendes Tun. Es sei zu fragen, nicht ob der Bau ein Bild werden
soll oder nicht, sondern welches Bild sich ihm wirklichen soll. Wer bauen
will, davon ist Schwarz überzeugt, dürfe die ursprüngliche Bildhaftigkeit
der Architektur nicht verlegen verschweigen.
Nicht allein von Urbildern, gelegentlich auch von Archetypen spricht
Schwarz. Er nennt diese auch „oberste Anweisungen“ oder „Pläne“. Diese
werden entfaltet im Buch Vom Bau der Kirche (1938/1947). Rückblickend
schreibt Schwarz über die „großen Archetypen“: „Ich versuchte, die Urbilder
zu wecken und zu benennen, die in der Gegend wesen, wo die Welt noch im
vorwirklichen Stande der Hoffnung ist, Vorentwurf ihrer selbst. Urbilder
sind keine Ideen. Eine Idee ist nach Meinung der Griechen eigentlicheres
Sein hinter den Dingen. Diese meine ‚Pläne’ sind aber nicht hinter den
Dingen, sondern vor ihnen und wirklichen sich in sie hinein. Der Baumeister
muß immer wieder in den tiefen und dunklen Urstrom der Bilder hinabtauchen,
aus ihm seine neue Erfindung ins Licht heben, in den ewigen Keimstrom der
Dinge, die sich oben im Lichte begeben wollen“.[37]
Jeder Student der Architektur kenne zumindest zwei solcher Urbilder, nämlich
als Weg (Längsbau) und als Kuppel (Zentralbau). Schließlich werden es sechs
„Pläne“ (heiliger Ring, offener Ring, heiliger Kelch, heiliger Weg, heiliger
Wurf, goldene Rose). Urbilder haben für Schwarz die Art von „Plänen“
angenommen, die jedoch stets neu ausgelegt werden müssen, und zwar, wie er
sagt: wiederum durch Bilder. Urbilder sind also der Ausgang, sie müssen
immer wieder vom Architekten durch neue Bilder lebendig gedeutet und
interpretiert werden. Wesentlicher Bezugspunkt ist aber der Mensch als
offene Gestalt und sind die Menschen in ihren gemeinschaftlichen
Verhaltensweisen, die „aus sich selbst eine neue, ganz in den Menschen
verhaltene Bildhaftigkeit der Urgestalten hervorbringen“.[38]
In diese Urgestalten/Archetypen/Pläne „wie in große Behälter ergießt sich
der Bildstrom der Schöpfung. Diese lebendige Auslegung hat der Baumeister zu
leisten, und er darf durchaus den unzähligen leistenden Gestalten der Welt
in seinem Bau eine neue hinzufügen, die es noch nicht gab.“[39]
Dieses Schauen der Urtypen verdankt der Mensch der Güte Gottes, so Schwarz,
„aus dem Zustrom und Einstrom der Gnade“. Wir haben es hier in der Tat mit
Grenzphänomenen zu tun, insofern das Wirken eines passiven Moments
ein Geheimnis ist.
In „Kirchenbau“ spricht Schwarz von einer Urbaukunst. Diese „Kunst“ leistet
der Mensch, indem er seinen Bedürfnissen, wie zum Beispiel dem Beten, eine
bestimmte Gestalt gibt. Das Volk „muß ja auf einer bestimmten Stelle der
Erde den Altar seines Opfers errichten und muß davor Platz nehmen und muß
eine Gegend jenseits des Altars und seiner Versammlung für Gott freihalten.
Das heißt, es muß die Erde einteilen, ihr den Grundriß der Gebete
einzeichnen.“[40]
Diese Urbaukunst bringt Urgestalten mit, die man als Archetypen beschreiben
könnte. Sie haben vielleicht einen ähnlichen ontologischen Status wie
Heideggers „Geviert“. Und wenn Heidegger das Wohnen als „Anwesenheit“ bei
den Dingen umschreibt, dann meint er, der Mensch, einmal auf oder in der
Welt, muss irgendwo bleiben; er kann sich schließlich nicht in Luft
auflösen. Bei Schwarz ist es aber auch eine Anthropologie des Bauens, die
sich aus dem Versammeln des Menschen als Gemeinde ergibt. Er weiß, dass es
stets um etwas Konkretes, Geformtes, Gestaltetes geht: „[…] in irgendeiner
Weise muß es sich ordnen“, was heißt: die sogenannte Urbaukunst ist nichts
Abstraktes, sondern etwas Konkretes. Dieses Finden zu einer Gemeinde, die
die Erde auf besondere Weise gestaltet, ist schon ein Entwerfen, ein
Entwurf: „Es [das Volk, A. H.] entwirft die Erde als gottesdienstliche Form“
und bringt so erst eine vor-architektonische Urgestalt hervor. Gemeinde und
Gestalt sind gleich ursprünglich. Das ist durchaus im Sinne der Schwarz nicht
unbekannt gebliebenen „Philosophischen Anthropologie“ gemeint. Gestalten
haben Sinn und Bedeutung. Urgestalt und Urbild sind also, im Sinne Klages,
keine platonischen Ideen, sondern stets konkrete Anschauungen und
Erscheinungen. In welcher Beziehung steht der architektonische Entwurf zu
den anthropologischen Grundmustern der Versammlung? Schwarz sagt, dass die
Grundgestalt „zu einer architektonischen Gestalt ausgelegt werden“[41]
müsse. Dieses Auslegen bedarf aber des Griffes zur „reinen Poesie“. Dies ist
der Bereich der Gestalten und Bilder. Die Urgestalten sind Weisungen
(Heidegger würde „Winke“ sagen), bar jeder konkreteren Angabe für den
architektonischen Entwurf.
Mein Thema war die Einbildungskraft, Imagination oder Phantasie. Sie gehört
zu den menschlichen Grundvermögen. Wie sie innerhalb der Architekturtheorie
fruchtbar gemacht werden kann, dies habe ich eher als eine Aufgabe zu
formulieren versucht, als es schon zeigen können. Bei der uns heute
geläufigen Rede vom „Entwerfen in Bildern“ scheint es mir angebracht, diese
Frage zunächst hinsichtlich ihrer angemessenen Tiefe und Fruchtbarkeit zu
stellen, um sie gleich richtig in den Blick zu nehmen. Karsten Harries ist
diesen Weg gegangen. Die Architekturtheorie ist seit den Tagen des Vitruv
weiterhin angewiesen auf die großen und bleibenden Erkenntnisse der
Philosophie, der Ethik, Ästhetik und der Metaphysik.
Anmerkungen:
[1]
Wittgenstein PU § 66.
[2]
Thomas Rentsch: Wie ist ein Mann ohne Eigenschaften überhaupt
möglich? Philosophische Bemerkungen zu Musil, in Th. R.:
Negativität und praktische Vernunft. Frankfurt/M. 2000.
[3]
Vgl. Gottfried Gabriel, Logik und Rhetorik der Erkenntnis
1997.
[4]
Pirmin Stekeler-Weithofer, Schema, Form und Urteilskraft,
in: C. Demmerling, G. Gabriel und Th. Rentsch (Hg.): Vernunft und
Lebenspraxis, 1995, S. 69.
[5]
Vgl. Wilhelm Szlilasi, Phantasie und Erkenntnis, Bern 1969.
[6]
Vgl. zum folgenden: Dieter Kamper, Zur Geschichte der
Einbildungskraft, München 1981 sowie die Artikel „Bild” bzw.
„Einbildung, Einbildungskraft“ in: Historisches Wörterbuch der
Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Band 1 (1971) und Band 2 (1972).
[7]
Erich Rothacker, Die Wirkung des Kunstwerks, in: E. R.: Die
Genealogie des Bewusstseins, Bonn 1966, S. 308.
[8]
Vgl. Wilhelm Szlilasi 1969.
[9]
Ernst Bloch, Imago an Menschen und Dingen (1927), GA 10, S.
136.
[10]
Vgl. zum folgenden Martin Heidegger: Erläuterungen zu Hölderlins
Dichtung. Frankfurt/Main 2. Aufl. 1951.
[16]
Vgl. A. Hahn: [Artikel] Wohnen, in: Historisches Wörterbuch
der Philosophie, Bd. 12, 2005.
[17]
Edith Stein: Was ist Philosophie? Ein Gespräch zwischen Edmund
Husserl und Thomas von Aquino, in: Erkenntnis und Glaube.
Werke, Band XV, Freiburg, Basel, Wien 1993. Eine gekürzte, nicht in
Dialogform geschriebene Fassung ist damals erschienen unter dem
Titel „Husserls Phänomenologie und die Philosophie des hl. Thomas v.
Aquino“, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische
Forschung, Ergänzungsband, Halle a.d. Saale 1929, S. 315-338. Edith
Stein hat sich seit 1925 intensiv mit der Philosophie des Thomas von
Aquin auseinandergesetzt. Dabei ging es ihr darum, „die Thomistische
Lehre auf die Phänomenologie zu beziehen“, so H. R. Sepp in seiner
Einführung zu Edith Stein: Potenz und Akt, Werke Band XVIIII,
Freiburg, Basel, Wien 1998, S. XI f.
[18]
Vgl. auch Josef König: Der Begriff der Intuition (1926).
Nachdruck Hildesheim, New York 1981.
[19]
Stein, S. 37 (kursiv im Original).
[23]
Bachelard freilich bewegt sich bewusst im Bereich des logos,
also der Sprache: „Wir vermögen nicht in einer Region zu meditieren,
die vor der Sprache wäre“, heißt es in: „Poetik des Raumes“ im
Hinblick auf das dichterische Bild. An dieser Stelle kann ich nicht
auf die komplizierte Frage eingehen, inwiefern „Bilder“ in einem
vor-sprachlichen Bereich anzusiedeln sind, wie es offensichtlich
Klages annimmt.
[24]
Klages 1930, S. 113.
[25]
Auch zu Schwarz’ Lektüre gehörten Mystiker wie Meister Eckhart und
Heinrich Seuse.
[30]
Schwarz:
Kirchenbau, 1960,
S. 9.
[33]
Schwarz zitiert bei Hasler: Architektur als Ausdruck
–
Rudolf Schwarz (2000), S. 274. Die Orthographie entspricht
dem Original.
[34]
zitiert bei Hasler, S. 274.
[36]
Vom kosmogonischen Eros, S. 63.
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