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Die Reinheit der Form, der
Oberfläche, der Körper, die der Geometrie folgen als dem “Mittel, das wir
uns selbst geschaffen haben, um die Umwelt zu erfassen und um uns
auszudrücken” (Le Corbusier), hat, so scheint es, von seiner Anziehungskraft
wenig eingebüßt. Für die aktuelle Diskussion um den Umgang mit Stadt und
Stadtraum ebenso wie für die Rolle von Architektur in der Stadt kann der
Begriff der Reinheit vor allem deswegen aufschlussreich sein, weil er über
eine ästhetische Komponente hinaus immer auch eine
gesellschaftlich-moralische Dimension anrührt, innerhalb derer sich die
Verwendung des Begriffs nicht im Deskriptiven erschöpft, sondern auch
darüber hinaus Wunsch und Appell impliziert.
Die Redaktion der Zeitschrift werk bauen und wohnen formuliert im
Editorial ihrer unter dem Titel “Reinheit” stehenden Ausgabe 5/2004, dass
für die Verteidiger des Reinen „das Reine, das Absolute, vielmehr die Summe
oder Synthese alles Relativen, aller Widersprüchlichkeiten und Bedingtheiten
des Lebens” sei. Ihnen bedeute die Suche nach Reinheit nicht die Ablehnung
der Komplexität, sondern deren Auflösung. Ja mehr noch: „Manche Bauten, die
wir als rein erfahren, entwickeln eine Art der Stärke und inneren Kohärenz,
die ihrerseits Freiheit erzeugt”.[1]
Der nicht unerhebliche Aufwand für die Darstellung der Reinheit in der
Architektur scheint also auch der Hoffnung geschuldet zu sein, mit ihr das
Abbild eines Zustands zu erzeugen, in dem Widersprüche aufgehoben sind; eine
Hoffnung, die der Vorstellung folgt, dass Widersprüche möglicherweise nur
die Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeiten ausdrücken, deretwegen die
wahrgenommenen Widersprüche nur scheinbare Widersprüche sind.
Was in dieser Wahrnehmungsperspektive von Reinheit ausgeblendet bleibt, ist
der Prozess, der Weg, der zu einem angestrebten Ziel führt. Reinheit stellt
sich vielmehr als finaler Endzustand dar, über den hinauszugehen oder ihn
weiterzuentwickeln sich erübrigt. Er symbolisiert damit einen vollständig
politikfreien Raum; er verspricht, die Menschen aber vor allem auch der Aufgabe
zu entledigen, sich der Auseinandersetzung mit einer immer mit dem
Unperfekten, dem Irrationalen und Abgründigen, dem potenziell
Unberechenbaren behafteten Welt zu stellen. Das Prozesshafte und der Weg ist
schon deswegen in ihm ausgeblendet, weil in ihm kein Gegenbild mehr
aufscheint.
Das war nicht immer so. So enthielt beispielsweise in der Gartenkunst des
Barock die Welt der Grotten und Höhlen noch das Moment des der Welt
entgegengesetzten Utopieraums, den apollinische wie dionysische Elemente
kennzeichnen. Im Englischen Garten der Aufklärung war der Höhlenraum der
Ort, der auf einem Initiationsweg durchschritten werden musste, um zu
Erkenntnis zu gelangen.[2]
In der heutigen Gesellschaft sind Elemente des Irrationalen und Abgründigen
in den Bereich des Tabus oder in die Welt der belanglosen Schauerromantik
von Geisterbahnen verbannt, um erst bei einer Verletzung des Tabus als
Sensationsmeldungen, dann aber umso heftiger an die Oberfläche zu stoßen.
Das Haus UR des Künstlers Gregore Schneider veranschaulicht die
Verdrängungsleistung, die unseren Alltagsraum kennzeichnet.
Architektonischer, städtischer, gesellschaftlicher Körper
In der Sehnsucht nach Reinheit verbirgt sich ein gesellschaftlicher Wunsch,
in ihr nimmt die Symbolik des reinen und unteilbaren Körpers Gestalt an.
„Das heißt, die Architektur selbst wird zu einem Sinnbild für die Gesetze
der Reinheit, die in einer Gesellschaft dominieren und die oft auf
unbewusste Wiese wirkungsmächtig werden. (...) Was die Architektur und
Stadtplanung somit sichtbar macht, sind die Gesetze der Reinheit einer
Gemeinschaft, durch die der Gemeinschaftskörper definiert wird.“[3]
Der Körper ist hier eine Metapher, die sich wie die des Organischen großer
Beliebtheit erfreut – mit Konsequenzen für die Vorstellung von Freiheit.
Denn in der Metapher drückt sich die Unterordnung unter die Ziele der
Gemeinschaft aus – der Organismus verlangt Ein- und Unterordnung. In ihm
muss sich der Einzelne als Teil einer Ganzheit begreifen, da in der
Vorstellung des Organismus das Interesse der Gesamtheit auch gleichzeitig
das eigene Interesse beinhaltet. Plausibel lässt sich argumentieren, dass
dabei das eine mit dem anderen zusammenhängt: Die Sehnsucht nach Reinheit
besteht gerade, weil sie nicht unserer Vorstellung von Freiheit entspricht,
sondern eine perfekte Gemeinschaft ohne Konflikte abbildet. Damit würde auch
plausibel, warum an den Orten, denen die größte gestalterische
Aufmerksamkeit in der Stadt gilt, auch der größte Aufwand an Überwachung und
Disziplinierung getrieben wird. Denn dabei geht es nicht in erster Linie
oder ausschließlich um eine Prävention von Kriminalität, bei der Aufwand und
Ergebnis in Bezug zueinander gestellt würden, sondern um das sichtbar
eingelöste Versprechen, dass sich ein Verbrechen gar nicht mehr ereignen
kann.
Diese Idee von Stadt unterstellte dann auch die Einheit von Stadtbürger und
Stadtgestalt, von Stadtbürgerschaft und gebauter Stadt. Im natürlichen,
maßvollen Wachstum, dem in der gleichen Metapherebene die Wucherungen (und
also krankhaften Bebauungen) am Stadtrand entgegengehalten werden, vollzieht
sich der Sinn des Organismus; ihm hat sich auch ein Neubau unterzuordnen. Im
Planwerk Innenstadt Berlin beispielsweise wird die Geschichte Berlins als
kontinuierlicher Entwicklungsprozess gedacht, der durch die Planungen des
Städtebaus der Nachkriegszeit empfindlich gestört wurde.[4]
Darin liegt auch der Grund für das anhaltende Unwohlsein gegenüber
Entwicklungen an der Peripherie der Städte. Hier drückt sich in einer schwer
erfassbaren Gestalt und im scheinbar beziehungslosen Nebeneinander von
verschiedenen Räumen eine Unübersichtlichkeit aus, die offensichtlich kaum
zu ertragen ist: Dankwart Guratzsch fordert etwa kurzerhand den Abriss der
Zwischenstadt,[5]
kurz nachdem in der gleichen Tageszeitung eine ganze Artikelserie über die
„Renaissance der Stadt“ – gemeint ist die Innenstadt – lanciert wurde.
Das Misstrauen gegenüber der Stadtplanung der Moderne drückt unverhohlen
einer der geistigen Väter des Planwerks, Dieter Hoffmann-Axthelm aus: „Die
stadtplanerische Moderne ist ein Urenkel des Absolutismus“.[6]
Sie steht der Stadt der Bürgerschaft gegenüber, wie sie das Planwerk
reklamiert. Und sie ist daher als eine der Verletzungen des Stadtorganismus zu
heilen – das ist der Anspruch, den das Planwerk erhebt. Allerdings wurde
der Maßstab, den es setzt, nicht als Ergebnis einer entscheidungsoffenen,
demokratischen Diskussion erarbeitet, die sich auch als revidierbar erweisen
könnte. Das Fazit von Stefanie Hennecke in ihrer ausführlichen Untersuchung
zu diesem Thema lautet: Den Maßstab der europäischen, historisch
abgeleiteten Stadt habe man ganz im Gegenteil als quasi naturgegeben und
damit immer gültige Tatsache gesetzt. Der Stadtbürger sei als Teil des
Stadtorganismus den Zielen der organischen Stadtentwicklung unterworfen. Er
sei damit in seiner Lebensgestaltung nicht mehr frei, sondern verhalte sich
nach moralischen Maßstäben richtig oder falsch gegenüber seiner Stadt.[7]
Gleiches gilt demnach auch für die Architektur der Stadt, für das Haus. Und
die Vorstellung von der enormen Bedeutung, die das Haus für die Stadt hat,
ist umgekehrt wieder eine, die man, so paradox das klingen mag, gerade in
Berlin mit der klassischen Moderne teilt. Hans Frei beschreibt sie am
Begriff der ‘starken Form’: „Der kritische Punkt der ‘starken Form’ liegt
nicht in der Form selbst als vielmehr in ihrer Funktion als Architektur der
Stadt. Wie Fixpunkte befestigen die starken architektonischen Formen die
materielle Grundstruktur einer Stadt von innen her und werden deshalb auch
als städtebauliche Mittel par excellence betrachtet. Doch darin steckt der
von Grund auf falsche Gedanke, eine befestigte materielle Grundstruktur sei
Voraussetzung für ein intensives städtisches Leben. Einen ähnlichen Irrtum
leistet man sich im 18. und 19. Jahrhundert mit dem Bau gigantischer
Festungsanlagen, die letztlich den Feind geradezu einluden, die befestigte
Stadt zu umgehen und das umliegende Territorium ungehindert zu besetzen.“[8]
Sucht man heute nach Kräften, die in der Lage sind, das intensive städtische
Leben zu bedrohen, die im Sinne Freis im Schutz der Illusion von Sicherheit
operiert, den die starke Form erzeugt, dann mag man an die Realität der
Kapitalströme, die Konzentrationstendenzen der Wirtschaft denken, die
Entstehung von Monopolen und – gerade in Berlin – die Inszenierung von Stadt
auf Arealen, die von Weltkonzernen allein entwickelt werden und die in der
Lage sind, der Stadt Bedingungen für ihr Engagement zu diktieren. Dann wäre
die reine Form ein Instrument, die eine von zahlungskräftigen Interessen
bestimmte Stadtpolitik um den Preis ihrer Verschleierung ermöglicht, in dem
sie die Reibungen zwischen privatem und öffentlichem Interesse glättet – und
genau dies ist der Vorwurf, der gegen sie erhoben wird.[9]
Man kann aber bereits konstatieren, dass diese Ebene der Auseinandersetzung
nicht mehr die einzige ist. So hat Friedrich von Borries beschrieben, wie
sich der Konzern Nike die Methoden der subkulturellen Stadtaneignung zunutze
macht, um die Orte der Stadt zu besetzen, die abseits der
Repräsentationsräume normalerweise den Raum für eine alternative
Stadtaneignung derer lässt, die sich im auch symbolisch wertvollen Raum der
Zentren nicht behaupten können.[10]
Die Tatsache, dass sich der Konzern nicht mehr auf die konventionellen
Mittel der architektonischen Besetzung von Raum durch repräsentative Bauten
beschränken möchte, zeigt, dass sich nicht nur die gegen die reine Form
wehren, die durch die entsprechenden Mechanismen von dieser Art der
Repräsentanz sowieso ausgeschlossen werden. Der Konzern wäre in der Lage,
sich ihrer zu bedienen. Er aber folgt denen, die es nicht sind, und setzt so
neue Maßstäbe des Wertes von Räumen, deren Qualität nicht in erster Linie
über eine gestaltete Form bestimmt wird. Das urbane Leben findet nicht nur
woanders statt, es wird auch mit den entsprechenden Mitteln von Marketing
durchsetzt und unterwandert. Diese doppelte Ausweichstrategie gegenüber
herkömmlichen Strategien lässt von Borries nach einem zeitgemäßen
Architekturverständnis fragen, da das traditionelle einem neuen Spiel der
Repräsentanzen nicht mehr gewachsen zu sein scheint. Denn: „Die Marke wird
in der Stadt der Zukunft ein Partner für alle Formen der Planung sein.” Sie
wird „das Primat des Politischen in der Gestaltung von Stadt ersetzen”.[11]
Zyklen und Überlagerungen
Angesichts solcher städtischer Wirklichkeit scheint das Versprechen der
Befreiung von Widersprüchen durch eine Architektur der Reinheit weit davon
entfernt zu sein, eingelöst zu werden. Reinheit erscheint vor diesem
Hintergrund noch als eine naive, wirklichkeitsfremde Verklärung eines
konfliktfreien Lebens – als Idylle. Im überraschenden Gegensatz dazu erklärt
aber die Zeitschrift Kunstforum, dass die Idylle aktuell sei – meint aber
vor allem die der gebrochenen Idylle.[12]
Das bringt uns auf eine weitere Spur. Möglicherweise unterscheidet das
Gebrochene die Idylle von einer Stadt und einer Architektur, deren
Versprechen wir noch glauben wollen. Denn dass Arkadien als ungebrochener
Idealzustand eine Illusion ist, wissen wir. Wir wissen, dass man auch in
Arkadien vor dem Tod nicht sicher ist, mehr noch, spiegelt doch gerade die
Idylle die Ambivalenz zwischen unschuldiger Natur und ihrer Morbidität
wider. In ihr kehren Elemente der vormodernen Gartenkunst wieder, die so
lange verdrängt wurden. Gerade die Idylle ist daher ein geeigneter Ort, um
die Illusion, die sie verspricht, zu zerstören, da sich nirgends so
drastisch wie in ihr der Kontrast zwischen Glücksvisionen und ihrem
Gegenteil deutlich machen ließe. Sie wäre demnach nicht Ausdruck einer
Sehnsucht nach dem unbeeinträchtigten Glück, sondern Ausdruck der Tatsache,
dass genau das nicht zu erreichen ist – allen Versprechungen zum Trotz. Denn
Zerstörung und Verfall ist immer auch ein Element der Natur, wie es das
Wachsen und Erblühen ist.
Dabei erstreckt sich die Vorstellung des Idyllischen aber nicht mehr auf den
der Naturlandschaft. Im Gegenteil stellt Julian Stallabras fest, dass die
ländliche Idylle zu sehr korrumpiert ist, als dass sie sich als Folie der
Idylle eignete, auf der die Kunst deren mehrdeutige Qualität darstellen
könnte.[13]
Die Aufmerksamkeit wendet sich daher der städtischen Idylle zu. Sie kann
doppelt wirken: Zum einen als Kritik einer Stadtpolitik, die die Innenstädte
als heile Welten inszeniert, in der die Geschichtlichkeit der Stadt durch
die Verwendung von geschichtlichen Referenzen aufgehoben wird, in der ein
Zustand der Vergangenheit als reduziertes Klischee zu einem Idealzustand
städtischer Gesellschaft stilisiert wird. Zum anderen lassen sich aber auch
in Teilen der Stadt, die nicht nach diesem, sondern einem anderen Ideal
gestaltet sind, die schon etwas vernachlässigt und heruntergekommen sind,
die aber noch nicht übermäßig gefährlich sind, ästhetische Erfahrungen
machen, die die Grenzen jedes Versuchs deutlich machen, Stadt auf Dauer nach
einem Bild in einen Endzustand zu versetzen, der nicht mehr verändert werden
muss. Auch hier ist in der Idylle eine Ambivalenz enthalten, die das Gegenteil
ihrer Glücksversprechung verdeutlicht.
Man wird dieser Sichtweise aber nicht gerecht, wenn man eine solche Sicht
auf die Stadt als eskapistische Verweigerungshaltung versteht. Gerade in
dieser Ambivalenz liegt nämlich der Ausdruck einer aktiven Neuorientierung.
In ihrem gebrochenen Zitat weist die Idylle genau darauf hin, dass sie nicht
an eine Rückkehr an einen wie auch immer gearteten Urzustand glaubt. Die
Idylle ist aktuell, weil sie eine Komplexität abbildet, mit der umzugehen
wir verlernt zu haben scheinen, und die sich in den Zyklen der Natur
abbildet. Diese Vorstellung der Komplexität bricht auch mit unserem am
Fortschritt orientierten Geschichtsverständnis, das impliziert, dass die
Geschichte ein Ziel habe. Auch darin drückt sie das Misstrauen gegenüber
allen Versprechungen aus, an die der Fortschritts uns glauben machen möchte
– und je weniger wir dies tun, desto furioser werden die Bemühungen, doch
noch zu überzeugen. Der Historiker Gerd Kuhn konstatiert, dass das gesamte
System der hegemonialen Zeithegemonie grundsätzlich in Frage gestellt ist.[14]
Die Idylle impliziert eine andere Vorstellung von Zeit, die sich als
zyklische und flexible beschreiben ließe, im Unterschied zu jener
unerbittlichen Regelmäßigkeit, mit der unser Leben geordnet und oft genug
eben auch tyrannisiert wird.
Diesem Verständnis von Wiederkehr und Abfolge kann man auch architektonisch
und städtebaulich nicht in der Form entsprechen, in der es derzeit getan
wird. Weder ist es architektonisch sinnvoll, mit geometrischen Grundformen
zu operieren, die als ein Abbild des Absoluten verstanden werden. Daher
überrascht dann umso mehr, dass gerade aktuelle Architektur in den meisten
Fällen in der Struktur ihrer Begründung und in der Erwartung ihrer Rezeption
zutiefst Schemata der Moderne verhaftet bleibt. Da sie die
Fortschrittsgläubigkeit der Moderne weiterführt, muss sie sich als das Neue
und damit als das Richtige sehen. Ebenso übernommen hat sie das Prinzip der
Abstraktion, und zwar nicht nur das der formalen, sondern vor allem das der
abstrahierten Darstellung und Vermittlung von Architektur. So wie man bei
der Betrachtung von Gebäuden der klassischen Moderne die Patina als ein Teil
der Realität ignorieren muss, um ihre Qualität zu erkennen, und man im
Gebäude nur noch die reine Geometrie oder die abstrakte Idee des Gebäudes
wahrnehmen soll, steht in den realisierten Fällen aktueller Architektur der
Entwurf im unrealisierten Stadium und mit ihm das Rendering im Zentrum
dessen, was als Qualität erkannt werden soll. Das reale Gebäude soll so
lange wie möglich dem Rendering ähneln, anstatt dass das Rendering sich
darum bemühte, Ausschnitte einer möglichen Wirklichkeit zu simulieren. Der
reale Gebrauch eines Gebäudes wird ausgeblendet, dessen scheinbar banale
Spuren offensichtlich stören: Damit man das Gebäude schätzen kann, muss man
nicht nur Pflanzen, das Graffiti und Schmutz von der Bewertung ausschließen,
es müssen auch die Probleme der Ausführung für die Bewertung ebenso
unerheblich sein wie die ihres Gebrauchs. Indem sich Architektur auf die
Produktion von Ideen konzentriert, vernachlässigt sie die Komplexität des
Gebrauchs und der Entwicklung in der Zeit. Damit übernimmt sie die
eigentlichen Probleme der Moderne. Die Überzeugung wächst, dass das
Scheitern der Moderne nicht im Glauben an Determinierbarkeit und damit
Planbarkeit der Welt liegt, sondern in der Genauigkeit der Determination und
der Planung. Ein gutes Beispiel dafür ist MvRdV, deren Simulationen von
Szenarien scheinbar einen Blick in die Zukunft erlauben, der zur weiteren
Entwicklung von Strategien hilfreich sein soll.[15]
In dieser Orientierung sind die Strategien von den scheinbaren
Antagonisten gegenwärtiger Architekturdiskussionen, verstehen sie sich nun
als Modernisten oder als konservative Vertreter beispielsweise des New Urbanism, kaum voneinander zu unterscheiden – paradox, dass ausgerechnet die
nach außen die Moderne ablehnenden konservativen Vertreter des Historismus
sich in dieser Hinsicht genau der Schemata der Moderne bedienen.[16]
Eher müsste man sowohl Architektur als auch Stadtplanung als Überlagerung
von Schichten verstehen, die auf ein Bild vom Bauen rekurriert, das den
Verfall und die Überschreibung der Architektur und der Stadt durch die
zeitlichen Prozesse mit vorsieht und daher den Verfall weder als
vorübergehendes Stadium noch als endgültige Tatsache ausschließt. Aber auch
nach ihrem Verfall wäre Architektur in der Stadt als eine Form der Spur noch
präsent, auch als das Vergangene, das wie im Bild des Palimpsests (das nicht
ohne Zufall in seiner Aktualität der Idylle vorausging[17]
und sie beileibe nicht verloren hat) immer mitprägt, was kommen wird. Dies
ist die eigentliche Ebene, die Aldo Rossi als ein Bild der Stadt formuliert
hat, als er sie als eine Form des kollektiven Gedächtnisses beschrieben hat;
die Reduktion auf die Produktion von vermeintlich geschichtlichen Formen ist
etwas grundsätzlich anderes.
Damit wird die Dimension der Zeitordnung, in die das Bauen eingefügt
ist, relativiert und dem Entwurf gegenüber eine andere Gelassenheit möglich;
es wird auch möglich, dass aus den Schichten immer wieder andere und
unvorhergesehene Elemente an die Oberfläche dringen oder entblößt werden.
Die Aufgabe des Architekten wie des Stadtplaners bestünde dann darin,
kreativ auf die sich stets neu einstellenden Situationen zu reagieren und
permanente Veränderung wie letztlich auch den Verfall als ein Element der
Architektur und der Stadt nicht mehr auszuschließen. Die Stadt muss als eine
Form des Zusammenlebens verstanden werden, die nicht nach einem endgültigen
und vermeintlich richtigen Bild strebt, sondern sich in einer Parallelität
von unterschiedlichen Zeitordnungen und Raumqualitäten begreift, die eine
Offenheit der Gestaltung und Aneignung für ihre Bewohner beinhaltet und
daher auch Räume sichert, die dem Zugriff von Wirtschaftsinteressen gerade
auch dann verwehrt bleiben, wenn sie üblichen Vorstellungen von gestalteten
Räumen nicht entsprechen. Gemessen am Bild der Reinheit der Form und der
Oberfläche hieße dies, dass eine grundlegende Neuorientierung nötig ist.
Es mag charakteristisch für eine Neuorientierung sein, dass man beginnt, sie
mit der Referenz auf Vergangenes oder auf die Natur als nicht mehr zu
hinterfragende Instanz zu bewältigen und trotzdem versucht, Neues zu
vermitteln. Wenn man auf diese Weise die beschriebenen Beobachtungen deuten
will, dann lautet die Frage, was denn dieses Neue ist, welches das
Palimpsest, das Idyllische und die Ambivalenz des natürlichen Rhythmus der
Natur auf den Plan ruft? An diesem Punkt können wir uns auf Vilém Flusser
beziehen, der schon in den 1970er Jahren eine „Krise der Linearität”
ausgemacht hatte. Wenn der Zyklus und das Überschreiben neue Attraktivität
gewinnt, scheint es plausibel, dass jene Krise sie hervorgerufen hat. Sie
sei eine Krise des alphanumerischen Codes, der die Basis für unser
historisches Bewusstsein bilde. Wir stehen, so Flusser, nicht mehr in einem
Bündel linearer Prozesse, sondern in einem „Feld von intersubjektiven
Beziehungen”, „in einem wogenden Netz, das sich immer neu verknüpft und
entknotet.” Und weiter: „Politisches Engagement kann nicht mehr der Versuch
sein, die Gesellschaft oder die Menschen zu ändern, sondern das soziale
Relationsfeld zu programmieren (Technokratie) oder zu deprogrammieren
(Terrorismus).”[18]
Das bedeutet aber, dass Bilder eine neue Rolle einnähmen und nicht mehr wie
bisher einer Kritik unterzogen werden könnten – Kritik verstanden als einen
Vorgang, der sie beurteilbar macht – in dem sie in eine Form der Linearität
(durch das Schreiben) übertragen werden. Einer solchen Kritik am Bild war
man ja nur entkommen, wenn man das Bild namenlos machte, es jeden Verdachts
bereinigte, eine in die Linearität dekodierbare Botschaft zu enthalten und
es zur reinen Struktur werden ließ. Das mag einem weiteren Aspekt der
Faszination von Reinheit offenlegen. Die reine Oberfläche, die reine
Struktur, die reine Form sollte nicht mehr Träger einer Botschaft, sondern
der wahre Kern der Dinge, oder zumindest sein Ausdruck sein. Der Preis
dieser Strategie war freilich der, dass man damit den Verdacht erzeugte,
erst recht eine Botschaft zu haben, die verborgen werden sollte.[19]
Doch diese Form der Reinheit ist sowohl auf architektonischer wie auf
städtebaulicher Ebene je nach Perspektive der Betrachtung auf das Element
eines Distinktionscodes herabgesunken oder zu einem Instrument der
Machtausübung hegemonialer Gesellschaftsschichten geworden.
Doch wenn wir die neue Lage ernst nähmen, die Flusser beschreibt, erforderte
das eine andere Form auch der Architektur und des Verständnisses ihrer
Oberfläche – eines Verständnisses, das sich ja zumindest in der
Aufmerksamkeit für die Oberfläche bereits in aktuellen
Architekturentwicklungen in Ansätzen erkennen lässt. Reinheit erübrigte sich
dann als eine bereinigte Form der Oberfläche, deren Illusion einer
botschaftslosen Struktur dann doch wieder nur den Verdacht erzeugt, eine
Botschaft zu verbergen, wenn sie nicht selbst Botschaft ist, die die
Reinheit als anzustrebendes Ziel verkündet und einfordert. Im neuen Raum der
permanent neu entstehenden Möglichkeiten (wie er nicht nur durch den
Computer bereits Wirklichkeit geworden ist, denn er hat darüber hinaus schon
lange einen neuen Imperativ der Lebensgestaltung geschaffen, in dem das
unmittelbare Erleben im Mittelpunkt steht[20])
muss Architektur sich nicht mehr ihres Bildcharakters entleeren, um der
Kritik durch die Linearität der Sprache zu entkommen. Es ginge dann nicht
mehr darum, einem soliden Kern der Wahrheit zum Ausdruck zu verhelfen, der
durch Oberflächen verdeckt wäre. Die Oberfläche ist hier immer auch Teil der
Tiefe: auch dort stößt man immer wieder auf Oberflächen. Es ginge vielmehr
darum, sich der Welt der ständig neu auftauchenden Bilder und Botschaften zu
stellen und sie zu gestalten. Und es ginge darum, in der Architektur wie in
der Stadtplanung das diesem Prozess inhärente Moment der Destabilisierung
nicht nur zu akzeptieren, sondern zu fördern. Was Baudrillard über das
gelungene Architekturobjekt geschrieben hat, kann ebenso gut für den Umgang
mit Stadt, für die Stadtplanung und den Städtebau als gestalterische
Disziplinen gelten: „Ein gelungenes Objekt ist eines, das jenseits seiner
eigenen Realität existiert, das auch mit den Benützern eine duale (nicht nur
eine interaktive) Beziehung aus Missbrauch, Widerspruch und Destabilisierung
erzeugt.”[21]
Anmerkungen:
[1]
Die Redaktion: Editorial. In: werk, bauen + wohnen, 5/2004, Zürich
[2]
Emslander, Fritz: Grottenräume: Passagen durch europäische
Gartengrotten. In: Bilstein, Johannes / Winzen, Matthias (Hg.): Park.
Zucht und Wildwuchs in der Kunst. Nürnberg 2005
[3]
Braun, Christina von: Die Macht des Reinen. In: werk, bauen +
wohnen, 5/2004, Zürich
[4]
siehe hierzu: Hennecke, Stefanie: Berlin soll »wachsen« – Kritik am
organischen Stadtmodell. In: Geiger, Annette / Hennecke, Stefanie /
Kempf, Christin (Hg.): Spielarten des Organischen in Architektur,
Design und Kunst. Berlin 2005
[5]
Guratzsch, Dankwart: Heimat Autobahnkreuz. In: Die Welt, 9. 12. 2005
[6]
Hoffmann-Axthelm, Dieter: Berliner Ungleichzeitigkeiten. In:
Berliner Zeitung vom 15. April 2000
[8]
Frei, Hans: Bunker Hill. In: werk, bauen + wohnen, 5/2004, Zürich
[9]
Siehe hierzu den Beitrag von Mollenkopf, John und Strom, Elizabeth
in: Siebel, Walter (Hg.): Die europäische Stadt. Frankfurt am Main
2004
[10]
Borries, Friedrich von: Wer hat Angst vor Niketown, Rotterdam 2004
[11]
Borries, Friedrich von: Berlin auf dem Weg nach Niketown. In:
Stadtbauwelt 24/05, Berlin
[12]
Kunstforum, Bd. 180: Zur Aktualität des Idyllischen II,
Ruppichteroth 2006
[13]
Stallabras, Julian: High art lite. London
1999
[14]
Kuhn, Gerd: Stadt bis 130 – oder das akzelerierte Tempo und die
Wiederkehr der zyklischen Zeit. In: Schmidt, Alexander J. / Zammers,
Reinhard: Stadt bis 130. Essen 2007
[15]
Siehe dazu etwa den Beitrag von MvRdV in: Eisinger,
Angelus/Schneider, Michel (Hg.): Stadtland Schweiz: Untersuchungen
und Fallstudien zur räumlichen Struktur und Entwicklung in der
Schweiz. Basel 2003, oder zur Ausstellung RheinRuhrCity im
NRW-Forum, Düsseldorf 2003.
[16]
Siehe hierzu: Eisinger, Angelus: Die Stadt der Architekten. Anatomie
einer Selbstdemontage. Basel 2005
[17]
Siehe beispielsweise: Angelil, Marc: Dynamische Kartografie. In: db
deutsche bauzeitung 7/2003, Stuttgart
[18]
Flusser, Vilém: Die Krise der Linearität. In: Röller, Nils und
Wagnermeier, Silvia, Absolute Vilém Flusser, Freiburg 2003
[19]
Groys, Boris: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien.
München 2000
[20]
Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der
Gegenwart. Frankfurt am Main 1992
[21]
Baudrillard, Jean: Architektur: Wahrheit oder Radikalität? Graz/Wien
1999
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