Himmel und Erde (Heaven and Earth)
Festheft für Karsten Harries

12. Jg., Heft 1
August 2007
   

 

___Ludger Schwarte
Basel
  Architektur, das Ereignis der Repräsentation.
Zu Karsten Harries’ Architekturphilosophie.

 

   

1. Der Unterschied zwischen Architektur und einem Bild


Schon in seinem frühen Buch lobt Karsten Harries die Bayerischen Rococo-Kirchen, weil sie über den Illusionismus hinausgehen, wenn sie auch durch ihre Raumgestaltung, die Ornamentierung, die Stukkatur, die Malerei, und durch das indirekte Lichtspiel dem Ideal sehr nahe kommen, das schon seit der Rezeption des Ps. Dionysius Areopagita das Programm des Kathedralenbaus bildet, nämlich Licht und Materie verschmelzen zu lassen zu einer ätherischen Substanz, das Sinnliche so aufhebend in die Emanation des Göttlichen. Betreten wir die von Cosmas Damian Asam 1720 in Aldersbach gebaute Kirche, so findet sich der ideale Blickpunkt anders als bei Pozzo nicht im Zentrum des Freskos, sondern nahe dem Eingang der Kirche, auf die Bewegung des in die Kirche eintretenden, vom Glauben noch Entfernten bezogen. Wir sehen in der Kuppel nicht den Himmel selbst, sondern die Vision eines Heiligen. Eine gemalte Balustrade umgrenzt die illusionistisch gemalte Vision. An einer Stelle ist die Balustrade unterbrochen, eine balkonähnliche Öffnung lädt uns ein, in das Gemälde einzutreten, doch der Weg ist blockiert.
„The space through which we would have to pass is filled by the sleeping St. Bernard (...). This reference in the fresco to St. Bernard is somewhat surprising, another reminder that what we see here is not a representation of an historical event, but of a vision of that event.“[1] Viele Elemente unterstreichen, dass wir hier die Vision eines Ereignisses erleben. Die Darstellungsleistung der Architektur wird hervorgehoben und zum Gegenstand der Erfahrung: „Cosmas Damian Asam’s surreal perspective, his references to the theatre, his doubling of the familiar world by another above, all make it difficult to speak of illusionism. Just because the Aldersbach fresco cannot be seen correctly from any point of view, it cannot be said to extend that space in which we actually find ourselves illusionistically. If it is a weakness of Pozzo’s illusionism that only from one particular place is the illusion powerful enough to take hold of us, Asam presents us with an image that can never quite convince, that will always remain theatre. The Bavarian rococo calls its theatricality to our attention. But an illusion that advertises its illusory character can no longer function as such. The illusion has been unmasked.“[2] Die Realität der kunstvoll in Szene gesetzten Illusion entkräftet die realistische Allüre des Bildlichen; sie wird als die Realität eines Traumes in Szene gesetzt, die uns eine Überwirklichkeit schauen lässt, die bildlich nicht zu fassen ist. Das Kunstwerk wird durch Rahmungen in eine ästhetische Distanz gesetzt und als solches ausgestellt; doch die Distanz erweist sich als trügerisch. Es ist keine Distanz des Zweifels, vielmehr soll die Realität des Betrachtens lediglich als Vorahnung dessen durchschaut werden, was sich der sinnlichen Darstellung und dem weltlichen Erleben entzieht und es doch begründet. Die opulente Ornamentierung kann einem rein ästhetischen Urteil nicht genügen: das Ornament, so resümiert Harries, ist nur angemessen, wenn es eine Ordnung gibt, bei der ein Teil die anderen regiert, wir beim menschlichen Körper, der das Modell der Architekturtheorie seit Vitruv ist. Das Ornament artikuliert eine Hierarchie. Sobald dieses Körpermodell ebenso wie die Subordination zugunsten einer Koordination aufgegeben wird, die sich in Reihungen, Wiederholungen, dramatischen Antithesen gefällt, wirkt das Ornament überflüssig und verfälschend. The death of ornament and the demise of the traditional theory of proportions belong together (...). Rococo ornament still assumes that a successful building is a hierarchical order that assigns to each part its proper place, and it assumes that society is such an order. Ornament contributes to the articulation of that order (...). In that sense ornament can be said to possess an ethical, not merely an aesthetic significance; ethical in the sense of helping to establish the ethos of a society, which assigns to persons and things their proper places. The transformation of ornament into mere decoration denies this ethical function.“[3]

Karsten Harries ist in seinen späteren Schriften immer wieder zu diesem Punkt zurückgekommen: Ästhetische Präsenz rein genießen und beurteilen zu wollen, erscheint als Resultat einer Säkularisierung; doch auch wenn man die traditionellen (griechischen oder christlichen) Interpretationen fallen lässt, denen zufolge das Schöne eine Figur des Heiligen ist, macht doch der ästhetische Zugang keinen Sinn ohne ihre ethische, ontologische Rahmung.[4] Die Rococo Kirche bietet uns noch die bildliche Ruine einer vergangenen Gemeinschaft; wie kann Architektur heute das Bild einer kommenden Gemeinschaft in die Welt setzen? Man kann Harries’ Architekturphilosophie verstehen als eine grundlegende Kritik der Ästhetik. Die ästhetische Erfahrung des autonomen Kunstwerkes begleitet die Desintegration der Gemeinschaft in atomisierte Individuen. Harries bringt die performative und gemeinschaftsbildende Kraft Architektur gegen Kunst in Anschlag.

 

2. Repräsentation: Die Bergung des Geheimnisses


Um zu erklären, was Repräsentation in der Architektur bedeutet, führt Karsten Harries das Bei­spiel neugotischer Kirchen des 19. Jahrhunderts an, die sich Ornamente wie Bilder an ihre Oberflächen heften, um höhere Bedeutung zu evozieren.[5] Aus dieser Argumentation folgt, dass das Gebäude nicht nur aufgrund der an ihm angebrachten Zeichen, sondern auch aufgrund seiner Größe und Form die Bedeutung einer Funktion sichtbar macht.[6] Für Harries ist die Größe nur ein Bild der Versammlungsfunktion, und spezifischer: der öffentlichen Funktion der Versammlung. Was kann also Harries zufolge unter der „öffentlichen Funktion“ der Kirche verstanden werden?
“The church building signifies a specific ideal of communal dwelling.”[7] Wenn es die öffentliche Funktion eines Gebäudes ist, ein bestimmtes Gemein­schaftsideal ab­zubilden, dann soll die Größe der Kirche die Universalität der Gemeinschaft repräsentieren.

Der Wandel von der früh­christlichen Basilika, die noch die römischen Städte mit ihrer „Eingangstoren und Straßenarkaden“ als von Außen nach Innen gestülpte Stadt zu imitieren suchte, hin zu den gotischen Kathedralen ist hauptsächlich der Entwicklung eines neuen Paradigmas geschuldet das stark genug war, eine gemeinsame architektonische Sprache zu entwickeln und nach Außen zu tragen. Harries sieht in den gestalterischen Bestrebungen des Bauhauses den völlig gleichartigen Versuch, ein solches Paradigma für die Moderne zu entwickeln. Um die neue Struktur der Zukunft zu erschaffen, bedarf es auch nach Überzeugung von Feininger und Gropius nicht nur der Zusammenarbeit, sondern auch der Kristallisation des Glaubens in einem Symbol, das Architektur, Skulptur und Malerei umfasst. Repräsentation spielt sich nicht nur auf der Ebene der Dekoration oder auch nicht erst auf der Ebene der Größe und der Form ab, sondern bereits bei der Auswahl der Materialien. Harries illustriert diese Repräsentationsfunktion mit dem Gebrauch von wertvollen Materialien wie Gold sowie von transparenten und metaphorischen Bauelementen in gotischer Architektur als Mittel, eine spirituelle Per­spektive zu eröffnen.[8] Der vorausgesetzte Sinn, seine Einheit, wird als dem Zugriff des Individuums entzogen präsentiert und als Geheimnis geborgen.

Eine derartig formierte Perspektive versteht Harries nicht im starken Sinne als Ursprung, wohl aber als Leitlinie, als kommunal gültige Interpretation einer Le­bensweise. Diese Interpretation als Performanz im Sinne einer musikalischen Aufführung stützt sich auf die Gültigkeit eines Codes und setzt einen Sinn voraus, z. B. das Ideal einer Gemeinschaft. Dieses Ideal impliziert ein archaisches Verständnis menschlichen Wohnens und Bauens:

“I use 'archaic' here not so much to mean 'primitive,' suggesting temporal priority; rather by 'arché' I mean an ori­gin that does not lose its power with the passage of time, because it has its foundation in the very nature of human dwelling. To make their home in the world, that is, to build, human beings must gain more than physical control: they must establish spiritual control. To do so they must wrest order from what at first seems contingent, fleeting, and confusing, transforming chaos into cosmos. That is to say, to really build is to accomplish something very much like what god is thought to have done when creating the world.”[9]

Dasjenige, was ein „genuines Werk der Architektur über ein bloßes Gebäude“ erhebt, ist folglich in seinem Vermögen zu suchen, ein ideales Gebäude zu repräsentieren.[10]

In dieser Rückbindung an die „arché“ des Sich-Einrichtens in der Welt sei die Architek­tur weniger subjektiven Einfällen und Launen ausgesetzt, hofft Harries. Nur so könne die Architektur „die Bedeutung unseres täglichen Lebens re-präsentieren und interpretie­ren.“[11] Harries zufolge kann auch das Theater nur deshalb den „Kult des schönen Lebens“ evozieren, weil es von den rituellen Funktionen des Tempels und der Kirche herrühre. Die ethische Funktion besteht für Harries nun genau in diesem Feiern der vorausgesetzten Gemeinschaft als das, was Ewigkeit widerspiegelt und damit zugleich manifestiert. Obgleich seine Äquivokation von Gott, Natur und täglichem Leben überraschen mag, so sieht Harries doch in allen drei Begriffen im Grunde nur Namen für das Unsichtbare, für das Zeitlose, das der Möglichkeit, dass etwas sich durch Manifestation offenbart, immer schon voraus liegt. An diesem Unsicht­baren misst Harries auch den Unterschied von Architektur und bloßem Bauen, so dass “Werke der Architektur als öffentliche Figuren auf dem Grund vergleichsweise privater Gebäude verstanden werden können.”[12] Architektur kann aber als öffentliche Figur nur gelesen werden, wenn man die Einheit des Sinns schon voraussetzt, der alle Gebäude miteinander verbindet und von diesen im Grunde nur verstellt werden kann. Warum aber kommt das Gemeinschaftliche als dieser verborgene Sinn gerade durch Bauten in die Welt? Zunächst, so könnten wir architektonisch argumentieren, weil gerade Bauten die anarchische Ankunft von Gesetzen, von Macht, von Erleichterung zeigen.

 

3. Häuser schweben auf gemeinsamem Boden


Genauso wenig, wie Kirchen erst den gemeinsamen Boden stiften, auf dem Menschen zusammenkommen können, sondern bereits daraus erwachsen, ist das Haus die Voraussetzung für Gemeinschaftlichkeit: vielmehr manifestiert es die architektonische Kraft kollektiver Interaktion. Die architektonischen Vektoren, auf die sich die Akteure dabei einlassen und denen sie partiell folgen, sind keine Grundgesetze, aber doch zugleich Kräfte, Strukturen und Symbole. Denn die manifeste Architektur dient einer doppelten Funktion: sie versammelt und gliedert eine Gesellschaft. Aber sie gibt zugleich auch eine Interpretation dessen, was die Gesellschaft zusammenbindet. Sie ist sowohl eine Versammlung wie auch das Bild dieser Versammlung, das auf den gemeinsamen Boden projiziert ist. Harries verdeutlicht diesen Ansatz in seinem Anspruch, dass die Architektur eine öffentliche Figur auf gemeinsamem, aber privat segregiertem Grund sein solle.

Es ist dabei beachtenswert, dass Harries mit seiner Forderung davon auszugehen scheint, es könne überhaupt ein unethisches Gebäude geben, das ohne die architektonischen Qualitäten der Figuration und der Repräsentation auftritt. Die Extremform eines privaten Gebäudes ohne alle architektonische Qualität in Harries' Sinne wäre nichts anderes als die explizite Negation einer Figuration von Öffentlichkeit – oder eben, ähnlich wie ein unsinniger oder unvollständiger Satz, kein Gebäude. Es sind nicht einzelne Architekturen, die gewissermaßen aus der Mitte einer Ansammlung von Gebäuden diese überstrahlen und den gemeinsamen Bo­den allen Einwohnern in Erinnerung rufen, denn diese Funktion können sie in besonderer Weise nur ausüben, wenn jedes einzelne Gebäude, wenn jeder einzelne Weg, wenn jedes einzelne Element sich in sinnvoller Weise auf das materielle und syntaktische Gefüge möglicher Gemeinsamkeit bezieht und zu dessen Erhaltung und Differenzierung beiträgt, ähnlich wie jeder geäußerte Satz, und nicht nur das Grammatikbuch, die Öffentlichkeit und Verbreitung einer Sprache unterstützt.

So gelten für Privaträume dieselben beiden Funktionen, die Harries nur den großartigen kommunalen Gebäuden zuschreibt. Häuser versammeln Eigenes, sie adressieren zugleich das Fremde, sie sprechen ihre Umgegend an, artikulieren Grundlagen und Grenzen des Gemeinsamen. Sie laden ein oder schließen aus, doch sowohl die Einladung wie der Ausschluss sind gleichsam öffentliche Akte. In diesem Sinne ist Wittgensteins Villa der architektonische Ausdruck des Privatsprachenargumentes: Jeder Raum ist eine Sicht auf eine Lebensform, jeder Raum ist definiert durch seine Ein- und Ausgänge, durch seine Kommunikationseinrichtungen als Stellungnahmen zum Gewebe der Stadt. Das Haus steht auf einem Territorium, das in erster Linie durch Sprachspiele (der Aneignung, des Aus­schlusses) markiert worden ist. Privatheit entsteht in einem Akt der Absonderung. Die Negation (das Verborgene, das Abwesende, das Unsinnige) ist ein Gliederungselement des sozialen Gefüges, in dem dieser Akt auftritt.

Das Haus ist ein sozialer Ort, der ein Innen und ein Außen und die Bewegungen verschiedener Personen von hier nach dort koordiniert. Architektonisch legt es fest, wann diese Bewegungen sich begegnen werden. Das Haus ist auch der Ort, an dem man schläft, in dem man träumt, das man teilt; es ist Schutzhülle und Auftrittsort des Lebendigen, Umkleidekabine und Bühnenbild. Es ist ein Ort des Essens, der Konversation, es stellt eine Lebensform aus und dient zugleich als Bollwerk der Ignoranz. Es lässt auch Platz für den Disput, und zwar dort, wo die Bewegungen zusammengeheftet und deshalb undefiniert sind: Die Schwelle, der Flur, die Küche, das Wohnzimmer sind minimale Interpretationen von Begegnung und Kommunalität und als künstliche, symbolische Welt zugleich deren Verhinderung. Das Privateigentum, das durch das Haus umhegt und gehütet wird, sammelt sich darin als Überrest von Geselligkeit, es wird subvertiert und transformiert vom Gebrauch. Die Kommune, die sich das Haus teilt, ist notwendigerweise sowohl definiert als auch offen. Obschon einige Häuser wie Bunker ausse­hen, verspricht noch das abweisendste Haus ein Wohnen. Dieser utopische Aspekt der Archi­tektur trotzt jedem nur den Bedürfnissen des Alltags dienenden Bauen.[13] Richtig an Harries’ Argument ist, dass es eine öffentliche Architektur geben kann, die Menschen außerhalb bereits bestehender Gemeinschaftsstrukturen auf neue Weise assoziiert.

Mit diesem Assoziationsvermögen ist die Architektur keine Imagination von Luftschlössern, sondern eine Manifestation. Durch die Architektur treten Dinge zusammen, werden handgreiflich und offenbar. Architekturen sind Kundgebungen, öffentliche Erklärungen, Darlegungen von Programmen; sie bilden eine offenbare Gegenwart, in der sich etwas zu einem Ding verdichtet. Jedes Bauwerk erhebt sich auf dieser architektonische Grundlage.

 

4. Architektur als Vorbereitung zum Fest


Für Harries, wie für Sylviane Agacinski[14], geht eine Gemeinschaft ebenso wie einzelne Gebäude erst aus der Architektur hervor. Die Architektur sollte daher nicht als Planen und Bauen begriffen werden, sondern als Projektion des Gemeinsamen. Diese Projektion geht der Möglichkeit der Repräsentation schon zuvor, sie ist ein Ausgriff ins Ungewisse, ins Zukünftige.

Daher ist Architektur für Harries auch nicht nur Ausdruck, denn jedes Medium jedes kulturelle Produkt bringt etwas zum Ausdruck. Für die Architektur ist die Ausstellung der Absicht dieses Ausdrucks ist entscheidend.[15] Die Architektur hebt sich als solcher Ausdruck vom bloßen Bauen ab. Den Bauten des Alltags gegenüber nimmt sich Architektur in diesem emphatischen Sinne aus wie dasjenige, was das Gemeinsame, die Beziehungsgefüge und Orientierungsmaßstäbe überhaupt erst greifbar und gestaltbar werden lässt (wie die Figur auf einem Grund). Architektur besteht daher weniger in Gebautem, als vielmehr in realen oder imaginären Strukturen[16], die das Bauen “re-präsentieren”. Das Bindestrichwort “Re-Präsentieren” heißt hier: Architekturen, stellen das Ideal gemeinschaftlichen Wohnens vor Augen, vergegenwärtigen es, machen es wirklich. Damit ist nicht gesagt, dass sie dieses Ideal erfinden und tyrannisch durchsetzen sollen: Harries’ Argumentation zielt vielmehr darauf, dass sie die latent vorhandenen, Sozialität ermöglichenden Strukturen manifest werden lassen und verstärken sollen.

Diese Gemeinschaft artikulierende und das Gemeinsame zu Bewusstsein bringende Funktion der Architektur kann daher am besten von der Kirche her verstanden werden. Die Kirche ist die Gemeinde, die sich zum Feiern der Gemeinschaft, zur Feier des Sakramentes versammelt. Die Kirche ist das, was das Kirchengebäude immer nur repräsentieren kann. Nur abhängig von dieser Ausstellung des Gemeinsamen gibt es die Möglichkeit für den Einzelnen, (räumlich und zeitlich) Sinn zu erfahren: “The ethical function of architecture is inevitably also a public function.
Sacred and public architecture provides the community with a center or centers. Individuals gain their sense of place in a history, in a community, by relating their dwelling to the center.”[17] Um nicht verloren einen “sense of nonplace” zu vermitteln, muss die Architektur Bezug nehmen auf die Erde, an der sie steht.

Sie muss, wie die Kirche, sich als Figur auf dem Grund räumlicher und zeitlicher Gemeinschaft präsentieren: Sequenz und Simultanität, Ausdehnung und Nebeneinander werden dadurch zwar nicht geschaffen, wohl aber begreifbar und wirksam. Diese architektonischen Präsentationen sind zugleich “Wiederholungen paradigmatischer Ereignisse”.[18] Harries vollzieht an dieser Stelle gleichsam eine Kehre im Denken der Architektur: sie soll nicht mehr nur als räumliche Repräsentation einer höheren Ordnung gedacht werden, sondern als Vorbereitung des Ereignisses. Die Ausdrucksfunktion, die Hegel in seiner Ästhetik mit der Architektur beginnen lässt, läuft auf die Repräsentation ökonomischer Hierarchien und leerer Funktionalität heraus, die einst den poetischen Überschuss moderner Wohnmaschinen ausmachen sollte. Vielleicht lässt sich also Harries’ Architekturphilosophie interpretieren als eine ethische Transformation des Ereignisdenkens.

In den Zeiten seit der Aufklärung, da die Autorität einer Herrschenden Erzählung keine ganze Gesellschaft mehr binden kann, muss die Architektur einerseits der Freiheit, den Erfahrungen und Bedeutungszuschreibungen jedes Einzelnen vorläufig sein.
If perhaps not a center, at least some authority must be recognized, if there is to be responsible decision.”[19] Ohne einen überzeitlichen Maßstab sind wir, so fürchtet Harries mit Platon, den Wechselfällen der leidenschaftlichen Stimmungen ausgeliefert. Dieser höhere Maßstab muss eine ideale Existenz vorstellen, sie muss uns ein höheres Bewusstsein dessen vermitteln, worauf es ankommt. Diese Vorstellung muss sich hüten, als Beschwörung einer Vergangenheit oder als Kompaktheit totalitärer Gegenwart[20] aufzutreten. Sie kann nun auch nicht mehr die Symbolisierung der jungfräulichen Braut sein, von der das Lied der Lieder spricht und deren figürliche Dimensionen in der Rococo-Kirche ästhetisch erfahren werden können.[21] Sie nimmt auf die zeitliche und räumliche Ordnung, die eine Gemeinschaft etabliert, ebenso wohl Bezug, wie sie diese ereignishaft brechen muss: Der gemeinsame Grund, die Gründung ist vorläufig, er kommt als die Disparatheit oder Gegensätzlichkeit des Individuellen, Separierten zur Erscheinung. Wenn die Architektur die Werte vermitteln und nicht oktroyieren soll, die das soziale Leben jedes Einzelnen prägen könnten, so darf sie selbst nur prekär und exemplarisch sein. Wenn Harries schreibt: “One task of architecture is to preserve at least a piece of utopia”[22], so könnte man das auch wie folgt reformulieren: Architektur muss dem Möglichen Geltung verschaffen.

Dieses Mögliche ist die freie Entfaltung des ganzen Menschen. Diese Entfaltung ist ein Prozess und darf daher nicht im Sinne eines Geschichtsendes petrifiziert werden. Vielmehr sollte die Architektur eine dynamische Form aufstellen, die das Irdische, Tierische ebenso wie das Himmlische, Geistige vor Augen führt und so den ganzen Menschen anspricht.
“Architecture is needed to recall the human being to the whole self: to the animal and to the ratio, to nature and spirit.”[23] So kann Architektur nie mehr sein als ein wiederholtes Ereignis, Antizipation des Utopischen als “precarious conjectures about an ideal dwelling.”[24]

Dieses Ziel eines idealen Festes, einer Vereinigung des Sinnlichen und des Geistigen darf die Architektur nicht aufgeben, denn: “There is a continuing need for the creation of festal places on the ground of everyday dwellings, places where individuals come together and affirm themselves as members of the community, as they join in public reenactments of the essential: celebrations of those central aspects of our life that maintain and give meaning to existence. The highest function of architecture remains what it has always been: to invite such festivals.”[25]

Harries fordert eine Architektur, die nicht selbst Fest ist: sondern Einladung zum Fest, Gelegenheit zur sinnlichen Vereinigung der Gegensätze, Schauplatz der Vergegenwärtigung einer idealen Gemeinschaft. Damit hat er zur Vorbereitung architektonischer Ereignisse selbst einen visionären Beitrag geleistet.[26]

 


Anmerkungen:

[1] Karsten Harries, The Bavarian Rococo Church, Between Faith and Aestheticism. New Haven: Yale 1983, S. 62.

[2] Karsten Harries, The Bavarian Rococo Church, ibd., S. 63.

[3] Karsten Harries, The Bavarian Rococo Church, ibd., S. 246.

[4] Siehe Karsten Harries, The Bavarian Rococo Church, ibd., S. 256.

[5] Siehe Karsten Harries, The Ethical Function of Architecture, Cambridge/Mass: 1997, S. 102f.

[6] Auch für Hegel ist die Kirche zwar in diesem Sinne nur ein Haus als Bedeutungsträger einer Gemeinschaftsversammlung, aber darüber hinaus hat das Gebaute in seiner Materialität die Funktion, das Invididuelle über das Endliche zu heben. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Aesthetik (Glockner Ausg), Werke Bd. 13, Stuttgart 1951, S. 335.

[7] Harries, ibd., S. 103.

[8] Siehe Karsten Harries, The Ethical Function of Architecture, Cambridge/Mass.: 1997, S. 107f.
Vgl. Karsten Harries, The Bavarian Rococo Church, Between Faith and Aestheticism. Yale 1983, S. 246.

[9] Siehe Karsten Harries, The Ethical Function of Architecture, Cambridge/Mass: 1997, S. 110f.

[10] Siehe Karsten Harries, The Ethical Function of Architecture, Cambridge/Mass: 1997, S. 113.

[11] Harries, ibd., S. 132.

[12] “Works of architecture can be understood as public figures on the ground of comparatively private buildings” [Harries, ibd., S. 365].

[13] Vgl. Ernst Bloch, "Bauten, die eine bessere Welt abbilden. Architektonische Utopien", Das Prinzip Hoffnung, Band 2. Frankfurt am Main 1980, S. 809-872

[14] Vgl. Sylviane Agacinski, Volume, Philosophies et politiques del'architecure, Paris: 1992, S. 11f; S. 95ff.

[15] “Architecture (…) is intended to communicate.” Karsten Harries, The Ethical Function of Architecture, Cambridge: MIT 1998, S. 285.

[16] Harries, The ethical function, ibd., S. 286.

[17] Harries, The ethical function, ibd., S. 287.

[18] Harries, The ethical function, ibd., S. 288.

[19] Harries, The ethical function, ibd., S. 291.

[20] Vgl. Hierzu: Miguel Abensour, De la Compacité. Architectures et Régimes Totalitaires, Paris 1997, S. 61ff.

[21] Vgl. Harries, The Bavarian Rococo Church, ibd., S. 256.

[22] Harries, The ethical function, ibd., S. 291.

[23] Harries, The ethical function, ibd., S. 362.

[24] Harries, The ethical function, ibd., S. 264.

[25] Harries, The ethical function, ibd., S. 365.

[26] Auch wenn er sich nicht in meinem kleinen Porträt wiedererkennen mag.


 


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August 2007