1. Jg., Heft 1
Oktober 1996 |
Der Ort der Architektur in der Medienwelt
Ich gehe davon aus, daß die Architektur, die in der Rangordnung der Künste traditionell
die unterste Stufe einnimmt, heutzutage deutlich nach oben gerückt ist. Während die
bildenden Künste stark vom Kunstbetrieb der Erlebnisgesellschaft geprägt sind und
dadurch häufig den Eindruck vermitteln, zum Zeitvertreib von Leuten geworden zu sein, die
sonst keine Sorgen haben, bewahrt die Architektur durch ihre unaufhebbare Zweckbindung den
Ernst, der erforderlich ist, damit eine Kunst in der modernen Welt ihre
Daseinsberechtigung und Bedeutsamkeit behält. Für die Umgruppierung in der Rangordnung
der Künste lassen sich vielerlei Gründe anführen. Den philosophischen Grund sehe ich im
Wandel des Wirklichkeitsbegriffs, der mit dem Stichwort Medialisierung der Welt
umschrieben ist. Durch die Medialisierung, die zugleich eine Immaterialisierung der
Wirklichkeit darstellt, verlieren die bildenden Künste, deren Wesen in der Fiktionalität
liegt, ihren Gegenpol, hinsichtlich dessen sie sich definieren. Wenn die physische
Wirklichkeit, in der wir leben, immer mehr zum Bild wird, bedarf es keiner von ihr
abgehobenen bildlichen Darstellung, um sie sichtbar zu machen. Die Bilder der medialen
Wirklichkeit sprechen für sich, so daß die Bilder der Kunst zur überflüssigen
Verdopplung der medialen Wirklichkeit werden. Die Explosion der Innenwelt, die in der
modernen Malerei ihren Höhepunkt erreicht hat, verkommt zu harmlosen Verpuffungen in den
geschützten Räumen der Galerien. Umgekehrt gewinnt die Baukunst durch ihre Materialität
in der Welt des Immateriellen an Gewicht, das über die bloße Zweckbindung hinausgeht.
Auf dem Hintergrund der medialen Erfahrung setzen Bauwerke die in der Materie aufgestauten
Kräfte frei, die auf der Leinwand keinen Raum finden. In der postmodernen Zeit macht sich
die Außenwelt wieder geltend, deren explosive Kräfte die Architektur in die Lage
versetzen, sich konstruktiv mit der Wirklichkeit der Bilder auseinanderzusetzen.
Diese Andeutungen mögen genügen, um deutlich zu machen, daß Bedarf besteht, über den
Ort der Architektur in der modernen Welt, und das heißt speziell in der Medienwelt,
nachzudenken. Die Verbindung von Architektur und Medialisierung der Welt mag überraschen,
da es sich um zwei scheinbar getrennte Bereiche handelt. Aber Bauwerke sind wie alle
menschlichen Hervorbringungen neben ihrer Zweckbestimmung immer auch Medien der
Welterschließung, und daher kann über Architektur philosophisch kompetent nur im
Zusammenhang mit dem Weltbegriff gesprochen werden. Das besagt, daß ästhetische
Kategorien, wie beispielsweise der Stilbegriff, für die Theorie der Architektur nicht
ausreichen. Das Bauwerk erfordert nämlich keine besondere ästhetische Einstellung,
sondern umgibt den Menschen als Lebensraum. Infolgedessen spricht die Architektur alle
Sinne an: Die Qualität eines Gebäudes liegt nicht nur in seinem Anblick, sondern auch
darin, welche Wirkungen seine Räume auf den menschlichen Körper ausüben. Im Unterschied
zum Bild oder zur Skulptur ist das Bauwerk als Teil der Welt ein Gesamtkunstwerk.
Aus diesen Vorüberlegungen ergibt sich für meine Ausführungen folgender Aufbau:
Zunächst skizziere ich eine allgemeine Theorie der Architektur, die ich über das
Ästhetische hinausweisend als Anthropologie des Bauens bezeichnen möchte (I). Sodann
kläre ich den Begriff der Medienwelt unter besonderer Berücksichtigung des Raumerlebens,
insofern es für die Architektur von Bedeutung ist (II). Schließlich stelle ich dar,
inwiefern die Architektur der Zukunft als kreative Antwort auf die Immaterialisierung der
Wirklichkeit interpretiert werden kann (III).
I: Anthropologie des Bauens
Bevor ich zur Frage nach dem Ort der Architektur in der Medienwelt komme, möchte ich den
Rahmen abstecken, in dem sich meine Überlegungen bewegen. Den Rahmen bildet eine
allgemeine Theorie der Architektur, die das Bauen anthropologisch als "symbolische
Form" (im Sinne von Ernst Cassirer) definiert. Dabei gehe ich davon aus, daß der
Mensch das Wesen ist, welches sich seine Lebenswelt selbst gestaltet. Neben dem Anfertigen
von Kleidern gehört das Bauen von Häusern zu den elementaren Tätigkeiten, auf die der
Mensch wegen seiner biologischen Schutzlosigkeit nicht verzichten kann. Daraus ergibt sich
für die Architektur der Grundsatz: Der Mensch ist das Maß aller Häuser, der
Gotteshäuser nicht weniger als der Freudenhäuser. Dieser Grundsatz findet seinen
Ausdruck in der programmatischen Forderung nach humanem Bauen, welche im Zeitalter der
technischen Großprojekte und des sozialen Wohnungsbaus immer wieder erhoben wird. Ein
unbestrittenes und unbestreitbares Programm, da man niemandem zumuten kann, `tierisch' zu
leben und zu wohnen. Wir brauchen keine Höhlen, keine Nester, keine Unterschlüpfe, aber
auch keine Wohnmaschinen und keine Wohncontainer, sondern Häuser, in denen Menschen mit
anderen Menschen menschlich zusammen wohnen können.
Die Frage lautet: Worin besteht das Humanum, welches menschliches von unmenschlichem Bauen
unterscheidet. Einer der gängigen Wege, menschliches Bauen zu definieren, führt über
den Körper oder den "Leib", wie man früher sagte. Das ist ein naheliegender
Gedanke, da die Architektur, selbst an feste und schwere Materalien gebunden, den
Bedürfnissen des menschlichen Körpers dient. Über die rein biologische Seite hinaus hat
der menschliche Körper, wie das Beispiel des aufrechten Gangs zeigt, eine symbolische
Funktion, die im Haus ihre Entsprechung findet. Von diesem Standpunkt aus richtete sich
die Kritik an der modernen Architektur gegen die Herrschaft der Geometrie, welche den
Körper auf die bloße Ausdehnung reduziert. Der gnadenlose Funktionalismus der
Wohnmaschinen gab Anlaß zur Klage über die `Abschaffung der Architektur'. Hans Sedlmayer
war in den 50er Jahren Wortführer dieser Kritik. Mit den konservativen Kulturkritikern
ist Sedlmayer der Meinung, daß der Mensch in einer mathematisch konstruierten Welt nicht
leben könne. Die Mathematik sei nicht auf die Maße des menschlichen Körpers
zugeschnitten, genauer: Gestalt und Proportionen gehen über den geometrischen Maßbegriff
hinaus. Sie verbinden den menschlichen Körper mit der Erde, auf der man liegen, sitzen,
stehen und gehen kann. Insbesondere im Verschwinden der Säule, die der Gestalt des
menschlichen Körpers nachgebildet ist, sieht Sedlmayer eine gefährliche Auflösung der
Erdverbundenheit, die dem Menschen Orientierung und Selbstvertrauen bietet. Das Abheben
der Architektur von der Erde, das sich insbesondere in der technisch bedingten
Gleichwertigkeit der Horizontalen und der Vertikalen äußert, eröffne
funktionalistischen Ideologien und Utopien Tor und Tür, bei denen der Mensch auf der
Strecke bleibt. Auf dieser Linie bewegt sich auch Martin Heidegger, der im griechischen
Tempel den Prototyp eines dinghaften Bauens sieht: "Das Tempelwerk eröffnet
dastehend eine Welt und stellt diese zugleich zurück auf die Erde, die der Gestalt selbst
erst als der heimatliche Grund herauskommt" (Der Ursprung des Kunstwerkes, Reclam S.
38).
Sedlmayers und Heideggers Gedanken klingen im Zeitalter der Ökologie und des
Regionalismus verlockend; aber weisen Erde und Leib den richtigen Weg zum humanen Bauen in
unserer Zeit? Daran möchte ich zweifeln, da sich hinter der Leiborientierung häufig
organizistische Ideologien verbergen. Noch die harmloseste ist die Anthroposophie, die an
Bauwerken alle Kanten durch organische Rundungen ersetzen will. Ob dadurch die Bewohner
auf den Rhythmus der kosmischen Ordnung eingestimmt werden, bleibe dahingestellt. Aber
steingewordene Weltanschauung, und sei sie noch so menschenfreundlich gemeint, macht noch
kein humanes Bauen aus. Dazu gehört mehr, nämlich die Ausrichtung auf den menschlichen
Weltbegriff, der auf die Herausforderungen der wirtschaftlichen und technischen
Entwicklung antwortet. Dazu bedarf es einer Anthropologie des Bauens, welche die
Weltoffenheit des Menschen ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt.
Meine Anthropologie des Bauens möchte ich mit der These beginnen: Das Haus ist keine
Erweiterung des menschlichen Körpers. Schneckenhäuser sind dem Körper ihres Trägers
optimal angepaßt, sie sind aber kein Vorbild für Wohnhäuser. Die Gehäuse tierischer
Körper lassen sich morphologisch beschreiben, nicht aber die Häuser der Menschen, die
aus anorganischen Materialien hergestellt, nicht den Gesetzen der Morphologie, sondern
denen der Tektonik unterliegen. Natürlich muß sich ein Haus den Bedürfnissen des
menschlichen Körpers anpassen, es muß den Bewohnern Sicherheit und Komfort bieten. Aber
die Architektur darf dabei nicht stehenbleiben. Warum nicht? Für die Loslösung vom
Leitfaden des menschenlichen Körpers oder Leibes sprechen zwei Gründe: ein pragmatischer
und ein symbolischer. Der pragmatische Grund liegt darin, daß die Tektonik einen
größeren Gestaltungsspielraum und damit größere Leistungsfähigkeit ermöglicht als
die Morphologie. Ein bekanntes Beispiel für Leistungssteigerung durch Verlassen des
organischen Vorbildes liefert die Flugtechnik. Solange die Menschen den Vogelflug
imitierten, blieben sie auf der Erde kleben. Erst durch den Propeller, eine
Rotationsbewegung, die in der Natur nicht vorkommt, wurde der Menschheitstraum vom Fliegen
wahr. Der Anthropologe Paul Alsberg hat im Unterschied zur Organverstärkung von
"Organausschaltung" als dem Prinzip der erfolgreichen Technik der Moderne
gesprochen. Dieses Prinzip läßt sich auch auf die Architektur übertragen. Das Wohnhaus
entfaltet seine Kapazitäten erst, wenn es die verschiedenen Materialien nicht nach den
Gesetzen des Organismus, sondern nach denen der Technik zusammenfügt. Erst dadurch ist
das Haus in der Lage, einer großen Anzahl von Menschen Wohnraum zu bieten und damit
Privatheit und Bewegungsfreiheit zugleich zu ermöglichen.
Der Fortschritt in den Nutzungsmöglichkeiten durch Organausschaltung findet seine
Entsprechung im Symbolischen. Wie die Philosophische Anthropologie lehrt, ist der Mensch
das Wesen, das vom Selbstverständnis lebt. Daher wird alles, womit er in Berührung
kommt, zum Zeichen. Das gilt auch für den eigenen Körper, den wir zu gestalten
versuchen. Dem sind aber natürliche Grenzen gesetzt. Jeder ist an seinen Körper
gebunden. Wir müssen uns mit ihm identifizieren, ob wir wollen oder nicht. Entsprechend
ist die Symbolik des Körpers beschränkt. Der Körper steht für sich selbst, seine
Symbolik trägt den Stempel der Privatheit und der Vergänglichkeit.
Ganz anders steht es mit dem Haus, das zwar auch vergänglich ist, aber die Zeit des
Körpers überdauert. Das Haus steht für die Abfolge der Generationen und ermöglicht
somit eine Identifizierung, die den Bereich des Privaten sprengt. Die unterschiedliche
symbolische Valenz von Körper und Haus kommt auch darin zum Ausdruck, daß man das Haus
im Unterschied zum Körper verlassen kann. Verlassen im doppelten Sinn: temporär durch
die Türen und definitiv durch Verkauf. Das macht die Freiheit und Offenheit der
symbolischen Form des Hauses aus, das wir bewohnen können, an das wir aber nicht
gefesselt sind wie an unseren eigenen Körper. Damit soll nicht gesagt sein, daß sich das
Bauen gänzlich vom Leitfaden des Leibes lösen muß. Im Gegenteil: Gefordert sind
Gestaltungsweisen, die den Körperbezug berücksichtigen, ihn zugleich aber
transzendieren. Als "unmittelbares Objekt", wie Schopenhauer den menschlichen
Körper bezeichnet, bindet er den Menschen an die Erde. Das Haus aber eröffnet, auf der
Erde stehend, dem Menschen eine Welt, wie Heidegger sich ausdrückt. Daher scheint mir die
Welt bzw. der menschliche Weltbegriff der Leitfaden zu sein, an dem sich die Baukunst
orientieren muß. Anthropologisch formuliert: Am Leitfaden des Körpers bleibt das Haus
Umwelt oder Millieu. Der Mensch aber lebt anders als das Tier nicht in einer Umwelt,
sondern in einer Welt (fast) unbegrenzter Möglichkeiten, und eben diese Weltoffenheit
spiegelt sich in den Gesetzen der Baukunst wider.
II: Medialisierung der Welt
Ehe ich etwas über die moderne Baukunst sagen kann, muß ich zunächst zum Wandel des
Weltbegriffs Stellung nehmen, den wir durchleben. Die Lebenswelt ist dabei, immer mehr zur
Medienwelt zu werden. Was das bedeutet, ist Gegenstand einer ausgedehnten
sozialwissenschaftlichen und medientheoretischen Literatur. Ich beschränke mich hier
darauf, das Hauptmerkmal zu nennen, das die Medien selbst vom gegenständlichen
Weltbegriff der Moderne unterscheidet: die Immaterialisierung der Wirklichkeit. Natürlich
sind wir auch im postmodernen Zeitalter an materielle Gegebenheiten und Prozesse gebunden,
und sei es nur in Form der unvermeidlichen Hardware, aber es ist unübersehbar, daß die
symbolische Dimension der Zeichen und Bilder, die Software, alle Körpererfahrungen in
einer früher unvorstellbaren Weise überlagert. Das äußert sich darin, daß die
traditionelle Opposition von Sein und Schein, von der die Ontologie ebenso lebt wie die
Ästhetik, zunehmend an Bedeutung verliert. Auf den Bildschirmen bewegen wir uns in einem
Zwischenbereich, der sich selbst trägt und die Frage nach substantieller Deckung gar
nicht mehr aufkommen läßt. Im ökonomischen Bereich kann man das am Beispiel des
Geldverkehrs sehen, der sich fast ganz von den Substanzwerten abgelöst hat.
An dieser Stelle liegt der Einwand nahe, daß gerade die Architektur etwas schafft, was
der Zirkulation der Bilder und Zeichen widersteht: die Immobilie. Das ist gewiß richtig,
und die Flucht in die Sachwerte oder Immobilien ist eine verständliche Reaktion in Zeiten
des ökonomischen und monetären Umbruchs. Aber, so lautet die Gegenfrage, kann die
Unbeweglichkeit der Immobilien das Prinzip für die Regeln der Baukunst sein? Abgesehen
davon, daß mit den Fertighäusern die Architektur mobil wird, muß auch die Gestaltung
der Immobilie etwas von der Mobilität der Medienwelt aufnehmen, um dem Raumerleben
unserer Zeit gerecht zu werden.
Ehe ich auf das Raumerleben näher eingehe, möchte ich eine historische Bemerkung zur
Medialisierung einfügen. Die Verwandlung unserer Welt in Medienwelten ist zweifellos von
der technischen Entwicklung abhängig, läßt sich aber durch diese allein nicht
hinreichend erklären. Die geistigen Wurzeln dieser Entwicklung liegen in der Philosophie
des 19. Jahrhunderts, genauer im Programm der "ästhetischen Rechtfertigung der
Welt", wie es Friedrich Nietzsche am eindringlichsten formuliert hat. Der Sache nach
läßt sich das Programm bis in die Poetik von Charles Baudelaire zurückverfolgen, der in
seiner Paris-Lyrik die Transzendenz im Vergänglichen des großstädtischen Lebens
entdeckt hat. Die flüchtige Schönheit der anonymen Passantin im Strom der Menschen und
Zeichen
wird für Baudelaire zur Chiffre der Ewigkeit, die im Vorübergehen aufscheint. In dieser
Welt wird alles zum Schein, zur "Allegorie", wie Baudelaire sagt, die auf sich
selbst verweist. Baudelaires Poetik hat, vermittelt durch Walter Benjamin, ihre
eindrucksvolle Fortsetzung in der Theorie des Films von Siegfried Kracauer gefunden.
Kracauers Filmtheorie stellt einen epochalen, meines Erachtens bis heute nicht angemessen
gewürdigten, Versuch dar, aus der Gesetzlichkeit des fotografischen Mediums den Film als
Kunstform der Moderne zu interpretieren. Kracauer formuliert als "ästhetisches
Grundprinzip", daß eine Kunstgattung umso überzeugender ist, je mehr sie den
spezifischen Eigenschaften des Mediums entspricht. Für den Film als fotografisches
Medium, welches Sichtbarkeit und Bewegung zu einer das normale Auge übertreffenden
Synthese bringt, ergibt sich die Regel, daß nur die Streifen überzeugen, welche die
Dynamik der Sichtbarkeit einfangen. Kracauer spricht von "Errettung der äußeren
Wirklichkeit" - eine theologische Kategorie, die zusammen mit Nietzsches Formel von
der "ästhetischen Rechtfertigung der Welt" anzeigt, aus welchen geistigen
Tiefen die scheinbar nur technisch bedingte Medialisierung der Welt gespeist wird. Wo kein
Gott mehr als Retter zur Verfügung steht, müssen die Bilder sich selbst rechtfertigen.
Die Bilder der Wirklichkeit werden zur Wirklichkeit der Bilder, in der Sinn und
Sinnlichkeit miteinander verwoben sind. Soviel zur Genealogie der Immaterialisierung der
Welt, die in elektronischen Medien heute zur Alltagswirklichkeit geworden ist.
Die Immaterialisierung äußert sich für uns zwar kaum merklich, aber darum nicht weniger
tiefgreifend in der Veränderung unseres Raumerlebens. Der Bildschirm, der die
Wirklichkeit auf zwei Dimensionen reduziert, gibt von dem physiologischen Raum, in dem wir
uns normalerweise bewegen, lediglich einen Teil wieder, nämlich den Sehraum. Der Tastraum
hingegen, sowie die mit dem Gehör und Geruch verbundenen Raumqualitäten, entfallen. Aber
auch der auf den Sehraum reduzierte physiologische Raum bleibt insofern künstlich, als
der Zuschauer sich in diesem Raum nicht bewegt, sondern der Raum bewegt sich selbst vor
den Augen des Zuschauers. Die Bewegungen des Raumes hängen von der Kamera ab, die als
künstliches Auge zwischen den Augen der dargestellten Personen und den Augen des
Zuschauers vermittelt. Durch diese Vermittlung gewinnt der Raum gleichsam eine neue
Dimension, die sich geometrisch nicht darstellen läßt, nämlich die Dynamik der
Bewegung, die unser Raumempfinden verändert. Die medialen Räume, die wir tagtäglich im
Fernsehen sehen, verlieren die traditionellen Qualitäten des physiologischen Raums,
nämlich das Oben und Unten, das Vorn und Hinten, die Enge und Weite. In den
Fernsehbildern verdampft der Raum zu reinen Schauplätzen, die eine fast unbegrenzte
Beweglichkeit suggerieren. Dadurch wird die dargestellte Wirklichkeit zur Flächenwelt,
auf der die Räume unbeschränkter Mobilität sinnfällige Gestalt annehmen.
Die Transformation des Raumes in der Medienwelt, seine Verwandlung in rasant wechselnde
Schauplätze ist der tiefere Grund für die zunehmende Referenzlosigkeit der
Fernsehbilder. Selbst dokumentarische Bilder von aktuellen Ereignissen bilden nicht mehr
die Wirklichkeit ab, sondern tendieren dazu, zur reinen Sichtbarkeit zu werden, die sich
selbst genügt. Das Fernsehbild vermittelt dem Zuschauer das Gefühl, dabeizusein, aber es
handelt sich um eine neue Form der Teilhabe, für die in der traditionellen Ontologie
keine Kategorien zur Verfügung stehen. Denn es handelt sich zwar nicht um ein
substantielles Dabeisein, aber auch nicht nur um bloße Täuschung. Wer am Fernsehschirm
ein Fußballspiel erlebt hat, kann zwar nicht sagen, daß er dabeigewesen ist, er kann
aber für sich doch eine Art von Wirklichkeit beanspruchen, nämlich die des medialen
Erlebens, die er mit Millionen von Zuschauern teilt und für die das `reale' Fußballspiel
nicht mehr Wirklichkeit hat als die eines Anlasses oder einer Gelegenheitsursache.
Für das Raumerleben ergibt sich aus dem Gesagten folgendes Fazit: Der mediale Raum hat
einen eigenen ontologischen Status zwischen Wirklichkeit und Schein. Man kann von
`bewegtem Raum' sprechen, der sich vom Bewegungsraum durch seine Dynamik unterscheidet.
Diese sprengt den geschlossenen Behälterraum der Antike, erreicht aber noch nicht die
Offenheit des geometrischen Raumes, der homogen, unendlich und unbegrenzt ist. Man kann
den medialen Raum auch als semantischen Raum bezeichnen, um damit zum Ausdruck zu bringen,
daß der Raum für Situationen und Zustände steht, die nach dem Gesetz der Serie
miteinander verbunden sind. Der mediale Raum bedeutet somit nicht nur den Verlust einer
Dimension, sondern ist zugleich der Gewinn einer neuen, der Sinn- oder
Bedeutungsdimension, welche die Wirklichkeit der medialen Welt ausmacht.
III: Die architektonische Rematerialisierung der Medienwelt
Im Anschluß an die Erörterung des medialen Raumes erhebt sich die Frage, welchen Ort die
Architektur als Raumkunst in der Flächenwelt der Bildmedien noch haben kann. Wie müssen
Bauwerke beschaffen sein, um der medialen Raumerfahrung gerecht zu werden? Die Architektur
kann auf den physiologischen Raum in Form des umbauten Raums nicht verzichten, aber sie
kann durch die Bauweise den Raum so strukturieren, so durchgestalten, daß der durch die
Medien geprägte Mensch sich in ihm selbst begegnet. Insofern ist unter dem Stichwort
architektonische Rematerialisierung des Immateriellen keine Rückkehr zum vormodernen
Monumentalismus intendiert, sondern ein Programm zur Umgestaltung des Raumes im Sinne der
medialen Raumerfahrung formuliert.
Die architektonische Gestaltung des bewegten Raumes äußert sich in den schwebenden und
gleitenden Formen, die den Übergang von einem Raum zum anderen wichtiger erscheinen
lassen als den geschlossenen Behälter. Das besagt nicht, daß Raumeinteilungen aufgegeben
werden, im Gegenteil: Die postmoderne Architektur lebt von der Vielfalt der Räume. Aber
die Räume sind nicht voneinander durch tragende Wände abgetrennt, es gibt keine
Durchbrüche mehr, sondern die Räume fügen sich als Segmente von Strecken aneinander,
die in jeder Richtung mühelos durchlaufen werden können. Inwieweit das Durchlaufen der
Räume als Gestaltungselement vor der fertigen Raumgestalt rangiert, zeigt die
Computersimulation von Bauwerken, die nichts mehr mit den traditionellen Modellen zu tun
hat, die dazu dienten, das fertige Bauwerk zu veranschaulichen. In der Computersimulation
verschmilzt der Architekt mit dem Benutzer im künstlichen Auge, das im Durchlaufen der
Räume diese buchstäblich entstehen läßt. So ermöglicht es die mediale Raumerfahrung,
das Bauwerk als work in progress zu erfahren, gleichsam der Genese einer Lebenswelt
beizuwohnen, deren Wirklichkeit sich kaum noch von der Simulation unterscheidet.
Ich möchte das Prinzip des medialen Raumes auch auf die postmoderne Architektur anwenden,
die meines Erachtens durch die Stilkategorie kaum angemessen erfaßt wird. Die prominenten
Architekturtheoretiker interpretieren die postmoderne Bauweise in der Regel als eine Art
poetischen Gegenentwurf zum Funktionalismus und zur Abstraktion der Moderne. Demnach
gewinnt Architektur die Qualität einer Sprache, einer Erzählung oder eines Mythos -
symbolische Formen, die einen eklektischen Stilpluralismus nach sich ziehen. Ein
derartiges Verständnis der Postmoderne läuft Gefahr, in die Prämoderne
zurückzuführen. Denn Stilpluralismus bis hin zur Stilmaskerade gehören zu den
Signaturen des 19. Jahrhunderts. Sicherlich kann man mit dem Stilbegriff auch etwas von
der postmodernen Architektur erfassen, aber das Spezifische liegt auf einer anderen Ebene.
Es ist die ontologische Ebene des medialen Weltbegriffs, der in der Erfahrung des bewegten
Raums seinen Ausdruck findet. Die durch die Techniken der Leichtbauweise begünstigte
Enträumlichung der Raumgestaltung, ihre Immaterialisierung und nicht das bloß
stilistisch beschreibbare Ornamentale macht den Sprachcharakter der postmodernen
Architektur aus. Das Semantische der bewegten Räume liegt in ihrer Diskursivität, die
den Bewohner von einem Raum in den anderen führt und ihm zugleich das Gefühl vermittelt,
im Durchgang zu Hause zu sein.
Als Fazit ist festzuhalten, daß die Architektur in der Medienwelt ihren Ort als
Rematerialisierung des Immateriellen behauptet. Sie kann das allerdings nur, wenn sie den
umbauten Raum in semantische Räume verwandelt, deren Qualität darin liegt, auf andere
Räume zu verweisen. Wie die Gestaltung des bewegten Raumes im einzelnen aussieht, ist
Sache der Architekten. Der Philosoph kann nur das Prinzip benennen, welches lautet: den
umbauten Raum als ein Netz von Beziehungen zu gestalten, welche wichtiger sind als die
Orte selbst, die miteinander verbunden sind. In diesem Sinn plädiere ich für ein Bauen
am Leitfaden des medialen Weltbegriffs.
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