Thema
3. Jg., Heft 1
Mai 1998

Dieter Hassenpflug


Atopien - Die Herausforderung des "Citytainment"

1Wenn Soziologen versuchen, die gegenwärtige gesellschaftliche Situation zu beschreiben, stoßen sie unweigerlich auf das Phänomen des Verschwindens der Orte. Orte werden zerstört, beseitigt, verlassen, ignoriert oder überformt. Orte werden als unwichtig angesehen und geraten in Vergessenheit. Was aber wird so respektlos behandelt? Was ist das: ein Ort?

Orte sind Produkte des sozialen Lebens. Es sind Räume, die von den Menschen, die sie bewohnen, besuchen und benutzen als identitätsverbürgend, als ein Teil ihres Selbst wahrgenommen werden. Es sind Räume, die die Erinnerung an die Geschichte wachhalten und damit die Gegenwart sichtbar machen und für die Zukunft öffnen. Orte sind Räume mit Atmosphäre. Sie sind anrührend, man tritt mit ihnen in eine emotionale Beziehung, identifiziert sich sogar mit ihnen. Sie können Zustimmung oder Kritik evozieren, Freude bereiten oder Schmerz zufügen. Aber niemals lassen sie gleichgültig. Mit Orten leben wir im Alltag wie mit dem eigenen Körper. Wir verspüren sie eigentlich nicht, wenn wir gesund sind und es uns gut geht. Orte können dem Großen, Erhabenen, Würdevollen, Spektakulären Raum geben, sie können sich jedoch auch als kleinräumig, überschaubar, einfach und dem Alltag zugewandt darstellen, als Räume 'mittlerer Reichweite'. Immer aber sind sie durch einen stabilen Vorrat an Zeichen und Symbolen charakterisiert. Diese verleihen den Orten ihre Einmaligkeit. Orte begleiten die Menschen, die mit ihnen zu tun haben, durch kleinere oder größere Spannen ihres Lebens und tragen dazu bei, diesen Leben Sinn zu geben. Orte sind insofern auch Räume der Nähe, der Geborgenheit und der Zugehörigkeit. In der deutschen Sprache gibt es dafür das - in der jüngeren deutschen Geschichte furchtbar mißbrauchte - Wort 'Heimat'.

2Orte sind sozial konstituiert. Sie sind mit Sinn aufgeladen.

A. Geschichte -
a) Leben in der Geschichte (mit Monumenten)
b) Erinnerungspotential: Vergangenheit öffnet die Gegenwart für die Zukunft.

B. Identität - Ort als geschlossener Raum. Stabilität und Einheit von Zeichen im Raum (Erkennbarkeit, Lesbarkeit); Unverwechselbarkeit, Bedeutung, Sinnhaftigkeit

C. Relation - Ort als offener Raum: Verhältnis zu anderen und zu anderem; Gemeinschafts- und Kontextbezogenheit, Bezug zur lokalen und regionalen Umwelt

Geschichte, Identität und Relation sind wichtige Voraussetzungen dafür, daß Menschen mit einem Raum in Beziehung treten, ihn erleben, affektiv besetzen, sich mit ihm identifizieren. Orte stiften Heimat. Sie tragen die Gemeinschaften der sie belebenden Menschen. Und sie geben der Individualität Raum.

Orte fordern Kritik oder Zustimmung heraus. Sie bereiten Freude und Leid. Mit Orten leben wir wie in unserem Leib. Wenn es uns gut geht, spüren wir ihn nicht.

Nicht-Orte sind demgegenüber Orte ohne Eigenschaften, ohne Ortsqualitäten. Sie sind ohne Erinnerungspotential, ohne Zeichenhaftigkeit, ohne lokalen oder regionalen Umweltbezug, ohne Eigenart und ohne Bedeutung. Sie vergegenständlichen die Funktionen des "Schneller, Weiter, Höher."

Beispiele für Nicht-Orte: Autobahn, Flughafen, Supermarkt, Bankhalle, Themenpark. Nicht-Orte sind Maschinen. Sie sind instrumentell und zweckrational definiert. Sie benötigen daher auch eine Gebrauchsanweisung. Wer sie nicht beachtet, ist z. B. ein Geisterfahrer, bekommt am Geldautomaten kein Geld, erhält kein Durchfahrtsrecht, findet nicht rechtzeitig den Abflugterminal.

Nicht-Orte erschließen Orte über schematische Hinweistafeln. Orte sind nicht mehr als bloße Namen. Verkehrstrassen verlaufen im Rücken der Orte, auf ihrer intimen, privaten Seite. "Indiskretion" (Augé) von Nicht-Orten.

3Vor diesem Hintergrund wird niemand bestreiten, daß zum Beispiel die Stadt Weimar (in der ich berufstätig bin und in der auch das Goethe-Institut seit kurzem seinem Hauptsitz hat) einen Raum darstellt, der über Ortsqualitäten verfügt. Diese kleine Stadt besitzt Charakter, Atmosphäre, Eigenart und Bedeutung. Man muß schon ziemlich abgestumpft sein, um sich von ihrem physisch-baulichen Charme nicht einnehmen zu lassen. Weniger sind es Zeugnisse großer Architektur, als vielmehr das Ensemble der Häuser, Gassen, Plätze, Veduten und Parks, die beeindrucken. Weimar ist unverwechselbar. Zugleich stellt diese kleine Stadt einen kohärenten, lesbaren Raum dar. Diese Lesbarkeit gründet unter anderem in dem, was als "alteuropäische Stadt" bezeichnet wird.

Dieser, das Bild der europäischen Stadtlandschaft immer noch - mal mehr, mal weniger - prägende Typus war im Idealfall charakterisiert durch Funktionsmischung und Differenz von privaten und öffentlichen Räumen, durch kleinteilig-parzellierte, dichte und einheitliche Bebauung und organische, der Topographie angepaßte Grundrisse, durch städtebauliche Pointierung von Sakral- und Profanräumen und durch eine artikulierte - einst durch markante Stadtmauern symbolisierte - Trennung von der umgebenden Landschaft. Die Textur der altbürgerlichen Stadt, ergänzt um Eintragungen und Erweiterungen aus den folgenden Epochen (von der Renaissance bis zur Gründerzeit) verleiht diesen Orten ein urbanes Flair, wie wir es sonst nirgendwo finden. Die öffentlichen Räume sind mit Leben erfüllt, bieten Bilder, Überraschungen, Begegnungsmöglichkeiten im Überfluß, geben den städtischen Tugenden der Neugier, Aufgeschlossenheit, Toleranz und Individualität jede nur denkbare Chance. Von Brügge bis Siena, von Sevilla bis Lübeck und von Dubrovnik bis Edinburgh - überall schaut die alteuropäische Stadt uns an und berichtet von der kulturellen Einheit des europäischen Subkontinents.

4Orte sind heute allerdings, wie anfangs betont, ein stark bedrohtes Gut. Mit ihrer Enge und Unübersichtlichkeit, ihrer Vielfalt und ihrem Eigensinn, ihrer Sinnlichkeit und Unverwechselbarkeit, ihrer ständischen und bürgerlichen Selbstdarstellung sind die alten Städte für die heutige "Turbo-Gesellschaft" nur Störfaktoren. Sie sind einfach zu langsam. Also werden sie beschleunigt, begradigt, standardisiert, ausgeräumt. Sie werden "aufgelockert" und "gegliedert", werden in ihre Teile zerlegt und wieder neu zusammengesetzt. Die zuvor integrierten Nutzungen - wie Wohnen, Arbeiten, Erholen und Konsumieren - werden voneinander getrennt und jeweils eigenen Territorien funktional zugewiesen. Unter dieser "fordistischen" Zurichtung (Behandlung) verwandeln sich die Straßen in Autotrassen, die Plätze in Parkplätze, die lebhaft gegliederten Häuserfronten in glatte, sterile und abweisende Fassaden. Aus Städten werden Maschinen. Die zuvor von jung und alt, von arm und reich, von bohème und bieder, von Einheimischen und Fremden vielfältig belebten öffentlichen Räume mutieren zu effizienten Funktionsräumen. Als Orte regionaler, republikanischer und weltbürgerlicher Zivilität können sie nun nicht mehr dienen. Die Stadt als Polis hört auf zu existieren.

Das alte durch Stadt und Land, Intensität und Extensität charakterisierte Raumbild verschwindet nun ebenfalls. Die Stadt bricht auseinander und ergießt sich in die umgebende Landschaft. Gewerbeparks, Eigenheimsiedlungen, Verkehrstrassen, Einkaufsmärkte und Freizeiteinrichtungen schieben sich immer weiter in das Umland hinein. Ausgedehnte, unübersichtliche, zerrissene Ränder entstehen, entropische Raumbilder, kollageartige, zersiedelte Landschaften. Die einst urban und rural geprägten Orte büßen ihre identitätsstiftende Singularität ein. Sie verlieren ihr "Lokalkolorit", ihre regionalen Ausstattungen an Erinnerungen, Gewohnheiten und Gebräuchen, ihre Riten und Stile. Ein semiotisch abgespanntes, sozialräumlich schwer entzifferbares Stadt/Land-Kontinuum bildet sich heraus - ein Raum ohne Eigenschaften.

5Doch der Verlust von Ortsqualitäten beschreibt nur die eine Seite der fordistischen Modernisierung. Die andere betrifft die Überwindung des Raumes (und der Zeit) selbst. Hochgeschwindigkeits-Verkehrssysteme lassen heute die Entfernungen zusammenschrumpfen und steigern die Verfügbarkeit physischer Räume. Neue Medientechnologien öffnen ortlose, virtuelle Kommunikationsräume und machen die alten, gebauten Arenen des öffentlichen Lebens überflüssig. Unter dem Druck wirtschaftlicher Globalisierung und raum- und zeitüberwindender Technisierung, von wachsender Mobilität und permanenter Beschleunigung verwandeln sich die Orte - nach einem Begriff von Marc Augé - in 'Nicht-Orte'. Dabei handelt es sich um effiziente, schnelle Räume mit einem hohen Durchsatz an Menschen und Gütern, jedoch ohne Eigenart und Bedeutung. Wir begegnen diesen charakterlosen Hochleistungsräumen (spaces of power) inzwischen auf der ganzen Welt. Sie transformieren jeden Ort in einen "global place", jede Stadt in eine "global city" und jede Landschaft in eine "global landscape". In dieser globalisierten Welt werden die Orte einander immer ähnlicher - bis zur Ununterscheidbarkeit. In der Konsequenz lösen sich die Ortsbindungen der Menschen auf.

6Nun läßt sich allerdings folgendes zeigen: Das, was als "Verschwinden der Orte" diagnostiziert wird, ist in Wahrheit nur eine Form der Neuerfindung des Raumes. Wir haben es mit zwei gegenläufigen Prozessen zu tun: Die Orte verschwinden - und sie kommen wieder! Sie kehren wieder in veränderter Form und Funktion. Offenbar wird der Verlust von Ortsqualitäten als Mangel empfunden. Ein Bedürfnis nach Orten entwickelt sich. Es wird in Nachfrage übersetzt und mit einem entsprechenden Angebot beantwortet. Ein Markt für Orte - und somit eine zugehörige "Orte-Industrie" - entsteht.

Was sind das für Orte? Wie sehen sie aus? Wie sind sie ausgestattet? Im Versuch, diese Fragen zu beantworten, stößt man auf einen besonderen Typus von Orten, die den angedeuteten Widerspruch zwischen Ort und Nicht-Ort an und durch sich selbst darstellen. Es werden Orte produziert, die sich als Orte selbst dementieren, ortlose Orte.

Aber was ist das, ein ortloser Ort? Nun, das ist die Fiktion bzw. das Phantasma eines Ortes, eine Art von "fata morgana". Ortlose Orte sind Räume, die Ortsqualitäten aus beliebigen imaginären und realen Welten an jedem beliebigen Ort dieser Welt bildhaft reproduzieren. Es sind physische, gebaute, dreidimensionale Fiktionen (Simulacren).

Der wichtigste Rohstoff für die Produktion dieser ortlosen Orte ist ideeller Natur: Abgebaut wird er in jenen Lagerstätten der Phantasie, die wir als Märchen, Romane, Comics, Gemälde, Photographien, Filme und Fernsehsendungen kennen. Denken Sie nur an Disney-World. Verarbeitet werden allerdings auch - und dies ist mit Blick auf die Zukunft unserer Städte besonders wichtig - Images und Bilder von realen Orten, prominente Bauwerke, Straßen und Plätze - z.B. die Grachten von Amsterdam, S. Marco in Venedig. Sogar ganze Stadtensembles oder Landschaftsausschnitte werden für diesen Rohstoff prospektiert. Denken Sie auch hier wieder an Disney-World, etwa an das Konzept der "Main-Street". Also, eine "kulturelle Montanindustrie" bildet sich heraus, die - statt Erz und Kohle - Bilder spektakulärer Naturszenerien und attraktiver Kulturausschnitte exploitiert. Die Produkte dieser Branche sind Nicht-Orte, die sich mit Ortsgewändern drapieren. Ich bezeichne diese Gebilde als Atopien (atopias), um ihre vertrackte Nähe zu Utopien (utopias) hervorzuheben.

7Der Unterschied von Atopien zu Utopien verweist auf die Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit. Utopien sind Orte im Nirgendwo. Sie sind reine Möglichkeit und von daher eine Kraft des Veränderns der Wirklichkeit. Sie repräsentieren den Eros des Politischen. Atopien hingegen sind verwirklichte Nicht-Orte mit fiktiven Ortsqualitäten. Sie sind real und zugleich ortlos. Sie sind überall und zugleich nirgends. Wo Utopien, deren Stoff die Träume sind, Bilder eines besseren Lebens in Räumen und in Zeiten einer imaginären Welt entwerfen, breiten sich Atopien im Hier und Jetzt aus. Sie sind verfügbar, materiell präsent und zugleich ohne irgendeinen Bezug zu Ort, Lokalität und Region. Sie sind der topologische Ausdruck der Tatsache, daß heute alles zugleich überall ist. Sie sind die sozialräumlichen (sociospatial) Vorboten einer sehr verfügungsmächtigen, jedoch ebenso äußerlichen, dem Bild ergebenen "Erlebnisgesellschaft".

Mit diesem Begriff reagiert die Soziologie auf den bereits fortgeschrittenen Übergang von der "kalküldominierten" zur "gefühlsdominierten" Moderne. Die Handlungen der Menschen sind heute, so die Theorie, nicht mehr vorrangig durch Kalküle bestimmt, sondern entschiedener durch Gefühle. Der 'homo oeconomicus' hat sich in einen 'homo eventicus' verwandelt und die rationalistische ("fordistische") Bedarfdeckungsgesellschaft in eine stimmungsselige Überflußgesellschaft (affluent society). Wo bisher instrumentell-technische Gesichtspunkte wie Effizienz, Produktivität, Funktionalität, Sachlichkeit etc. dominierten, gewinnen nun emotionale Faktoren wie Atmosphäre, Ambiente, Aura, Flair und andere auf Sinne und Sinnlichkeit zielende Dimensionen an Einfluß. Eine Sache muß nicht nur funktionieren, sie muß auch sinnlich ansprechend, aufregend, ja faszinierend sein. Dem "Kopf", so raunt der postmoderne Zeitgeist, kann das Denken nicht allein überlassen werden. Der "Bauch" denkt mit.

Erlebnisorientierung ist ein weltweit wirksames Dispositiv postmaterialistischer Raumproduktion. Fragt man danach, wie die Erlebnisgesellschaft sich räumlich (spacial) verwirklicht, dann trifft man auf die bereits erwähnten Atopien. Wir bezeichnen sie auch als "Erlebniswelten". Heute wird kaum noch etwas hergestellt, das sich nicht mit einem mehr oder weniger großen Erlebniswert legitimiert. Erlebniswelten entstehen daher überall. Zunächst sind es verstreute Inseln, dann Archipel. Irgendwann wird Festland aus ihnen entstehen. Welt und Erlebniswelt werden dann nicht mehr zu unterscheiden sein...

8Was haben wir uns unter einer "Erlebniswelt" vorzustellen?

Dazu ein Beispiel aus der Freizeitbranche, ein typisch europäisches, wie ich meine:

Bis in die jüngste Zeit hinein waren die Verwaltungen deutscher Gemeinden stolz, wenn sie ihren Bürgern ein öffentliches Freibad oder Hallenbad anbieten konnten; galt dieses Angebot doch als Ausdruck eines um das Wohl seiner Bürger besorgten Sozialstaates. Betrachtet man diese Einrichtungen aufmerksam unter gestalterischen bzw. ästhetischen Gesichtspunkten, dann fällt das "kalte", klinisch anmutende rationalistische Design auf: Die Wasserbassins sind rechteckig und rufen zu sportlicher Ertüchtigung - wenn nicht sogar zu Hochleistungssport - auf. Einen kaum weniger technizistischen Eindruck machen die sonstigen Einrichtungen: Umkleidekabinen sind in kafkaesken Fluren aneinandergereiht, spartanische Sitzbänke flankieren den Beckenrand und die Rasenanlagen erinnern irgendwie an einen Fußballplatz. Da Vergnügen offenbar auch abhängig ist von der Beziehung zwischen Vorhandenem und Machbarem, hatten wir als Kinder unseren Spaß in diesen schlichten und preiswerten Bädern der 1. Generation.

Seit einigen Jahren schießen in Europa Spaßbäder der 3. Generation (die 2. haben wir überschlagen) wie Pilze aus dem Boden. Man findet sie vorzugsweise in der Nähe von Autobahnzubringern, verkehrsgünstig zwischen mehreren Großstädten oder Ballungsgebieten gelegen. Kern dieser weiträumigen Anlagen sind große Kuppeln aus Stahl und Glas, unter denen Ausschnitte tropischer Strandlandschaften fiktionalisiert werden. Wasser kräuselt sich über blauen Kacheln, Palmen wiegen sich im Luftstrom von Windgeneratoren, Vogelgezwitscher und Urwaldlaute tönen aus verborgenen Lautsprechern und zitieren den Äquator herbei. Wohltemperierte Luft (29 Celsius) und artifizielles Klima befreien von den Launen der Natur und von den Ausdünstungen der agrarischen und industriellen Hochleistungslandschaften außerhalb. Um diese nachgebauten Südseeinseln herum gruppieren sich Dienstleistungseinrichtungen aller Art, z.B. Coiffeure, Ambulanzen, Saunen und Solarien, Fitnesscenter, Spiel- und Sportanlagen. Hinzu kommen Ferienbungalows, Hotels, Einkaufspassagen mit allem, was so dazugehört, von der Apotheke bis zum Supermarkt und natürlich jede Menge Boutiquen und Gaststätten - und manchmal gibt es sogar eine Kirche am Ort.

9Folgt man den Werbeprospekten der Anbieter, dann sind paradiesische Zustände zu erwarten. Gewalt, aufdringliche Armut, Loser müssen draußen bleiben. Dafür sorgen die Eintrittspreise, die Hausordnungen, das auf Familien zugeschnittene Angebotsprofil (das z.B. keine Gruppenunterkünfte vorsieht) und nicht zuletzt private Ordnungsdienste. Das Wasser, die Wege und Plätze sind zu jeder Zeit absolut sauber und für Umweltprobleme scheint es gleichfalls keinen Zutritt zu geben. Kommentar eines nicht genannten Spaßbadegastes: "Man geht hier hin, weil es wie in den Tropen ist, nur kein Ungeziefer, keine Ausländer, kein Schmutz". Alles ist durchgestaltet, fertig, glatt, perfekt, reibungslos funktionierend, ohne Zumutungen, ohne Risiko - aber angereichert mit wohldosierten Sensationen. Das Original war der Traum von einer Südseeinsel. Nun ist es ein begehbares, bespielbares, dreidimensionales Bild, eine hergestellte Fiktion, ein Fake. In dieser Designerwelt scheinen Traum und Wirklichkeit ebenso ununterscheidbar, wie Öffentlichkeit und Privatheit. Und Begriffe wie Demokratie, Subsidiarität, Partizipation etc. wirken an solchen Nichtorten deplaziert. Individuelle Selbstverwirklichung durch kreative Aneignung findet hier nicht statt. Wozu auch! Es ist alles vorhanden! Das Spaßbad ist eine Fast-Food-Landschaft, die nur darauf wartet, in Erlebnisportionen verschlungen zu werden.

Dem Vorbild Hollands und Belgiens folgend, werden gegenwärtig zahlreiche Spaßreservate an der deutschen Nordseeküste geplant, gebaut und betrieben. Dies kann kaum verwundern - vergeht einem doch die Freude im Angesicht des schmutzigen Wassers und der Ölklumpen am Strand. Nicht einmal mehr die Sonne läßt sich heute schadlos genießen: Zu wenig Ozon in der oberen, zu viel in der unteren Atmosphäre! Da freut man sich über ein synthetisches Erlebnisbad vor der Nordseekulisse mit Sonnenuntergang.

10Betrachten wir noch ein Beispiel aus dem Bereich des Handels. Die Kaufhäuser der alten Industriegesellschaft beziehen ihre Anziehungskraft aus der Übersichtlichkeit, Vollständigkeit, Zweckmäßigkeit und dem überzeugenden Preis/Leistungs-Verhältnis ihres Angebots. Das Dekor ist nüchtern und zurückhaltend, um Platz für Hinweistafeln, Werbeflächen und sonstige informative Beschilderungen zu lassen. Die Räume sind klar gegliedert und vorzugsweise mit orthogonal verlaufenden Gängen durchzogen. Es dominiert die nüchterne Ästhetik des Rationellen. Diese wird insbesondere durch die sog. Discounter-Geschäfte dokumentiert. Angefangen bei der Lagerhallen-Architektur, ist hier alles auf Nützlichkeit, Effizienz und Kostenminimierung orientiert. Die spartanisch ausgestatteten Regale mit den geöffneten Warenkartons, die primitive Neonbeleuchtung und die kalkweißen Wände, die Abwesenheit von Personal und ein reduziertes, gleichbleibendes, überschaubares, preiswertes Angebot addieren sich zu einem asketischen Ambiente, das dem Massenkonsum dient. Der unerbittliche Charme des Fließbandes, der Serie und der wissenschaftlichen Betriebsführung hat hier auf den Handel Anwendung gefunden. Cash&Carry-Märkte sind gut geölte, reibungslos arbeitende fordistische Bedarfsdeckungsmaschinen. Dementsprechend arbeitsteilig bedienen sie auch die Nachfrage: fein säuberlich getrennt nach Lebensmitteln, Gebrauchs- und Verbrauchsgütern - Elektromärkte, Stoffmärkte, Buchmärkte, Musikmärkte, Fast-Food-Restaurants usw. Eine Show findet nicht statt. Sie könnte als Versuch gewertet werden, irgend etwas zu vertuschen.

11Wie anders sind dagegen die Kaufhäuser der dritten Generation! Die Meag-Malls, wie sie auch genannt werden, appellieren nicht mehr an den Verstand, sondern an die Gefühle. Sie richten sich an die Eitelkeiten und Empfindsamkeiten ihrer Kunden, an deren Wünsche nach Spaß und Unterhaltung. Die Deckung des Bedarfs ist hier nur eine Begleiterscheinung des Erlebens. Dementsprechend präsentieren sich die Mega-Malls als hochintegrierte Arrangements, die Kunst, Theater, Musik, Essen und Trinken, Fitneß und Spiel, Zerstreuung und ein überbordendes Waren- und Dienstleistungsangebot zu einem hyperrealen Ereigniskosmos mischen. Die 'kalten', wirtschaftlichen Motive der Veranstaltung verschwinden hinter einer aus Vielfalt und Spektakel, aus Unübersichtlichkeiten und Extemporationen, aus Stimmungen und Bildern gewebten Kulisse. Form follows sensation!

Die Veranstalter haben ihre Klientel studiert, wissen beispielsweise um die Gefahren der Reizüberflutung. Also werden die Räume rhythmisiert, indem auf Areale der Beschleunigung und des Spektakels Zonen der Ruhe und Besinnlichkeit folgen, die geschickt an verschüttete oder verdrängte psychische Dispositionen der Besucher andocken. In der Unübersichtlichkeit des Hyperraumes werden Sphären der Übersichtlichkeit geschaffen, die durch ihr Design Wünsche nach Nähe und Wärme bedienen. Imitierte Dörflichkeit, inszenierte Nachbarschaft, simulierte Pastorale und mediterranes Flair nehmen die latenten Sehnsüchte der Besucher aus Suburbia auf und befriedigen sie für den Moment. Bewußt werden Bilder und Erinnerungen eines längst verlorengegangenen ruralen Lebens oder einer verdrängten Kindheit als Medium von Stimmungen eingesetzt. Form follows emotion!

12Nachgebaute Ferienträume, Filmvisionen, Comicszenen etc. findet man heute überall. Alpine Wildwasserfahrten oder Klettertouren sind im norddeutschen Flachland ebenso möglich, wie ein Besuch im tropischen Regenwald bei New York oder ein Abstecher in die Karibik am Polarkreis. Den schiefen Turm von Pisa und das Münchner Hofbräuhaus kann man in Japan besichtigen, das neoromantische Schloß Schwanstein in Californien oder Florida. Die Vorstellung fällt nicht schwer, daß der Eiffelturm sich für Imitationen ebenso anbietet wie der Frankfurter Römer oder der Campo in Siena. Dabei ist das Märchenschloß Ludwigs II von Bayern selbst nur die Fiktion eines Schlosses des französischen Herzogs von Berry, dargestellt in einer Miniatur seines Stundenbuchs durch die Brüder von Limburg, und der Frankfurter Römer ist eine durchaus umstrittene postmoderne Fiktion seiner selbst. Nachdem der eiserne Vorhang gefallen ist, dürften bald auch die Wartburg, die barocke Elbe-Silhouette Dresdens, die Krämerbrücke von Erfurt bzw. das Goethehaus am Frauenplan in Fernost oder in Amerika als Fakes zu besichtigen sein. Michael Sorkin zitiert aus einem Werbeprospekt für einen amerikanischen Motivpark: "If you want to see Europe, take a vacation in Virginia... It's all the fun an color of old Europe... but a lot closer!"

Und wenn mann die Frage stellt, wo Hollywood liegt, dann lautet die richtige Antwort: Hollywood ist überall! In Deutschland kann man inzwischen Batman persönlich begrüßen und gleiches läßt sich in der Nähe von Paris auch mit Micky Mouse bewerkstelligen. Der Wilde Westen mit seinen Cowboy-Helden und gesetzlosen Wüstlingen kam zunächst in die Kinos, dann erschienen sie im Fernsehen. Heute können Texas, Colorado und Oklahoma fast überall "life" erlebt werden - als dreidimensionale Bilder, zum Hineingehen und zum Anfassen. Auch das europäische Mittelalter meldet seine Wiederauferstehung: Auf einem 120 ha. großen Gelände bei Berlin soll ein "mittelalterlicher Kultur- und Freizeitpark" mit Burg, Dorf und Allmende aus dem 5. Jh. entstehen, Ritterspiele inklusive. Ein Patent wurde bereits angemeldet. Copyright-Landschaften und -Städte sind, seit der Disney-Konzern sie erfand, eine boomende Branche.

13Mit Celebration (bei Orlando/Florida) hat derselbe Konzern bereits die erste private Stadt auf den Markt gebracht. Diese Stadt ist zur Gänze ein Produkt des Imagineering. Wer sich hier einkauft, erwirbt nicht nur ein Haus, sondern einen Lebensstil. Er ersteht den alten amerikanischen Mittelklasse-Traum vom sauberen ländlichen Haus mit Garten, Hund und Familie. Im Rathaus dieser atopischen Stadt sitzen Angestellte des Disney-Konzerns. Sie wachen über die Einhaltung der Gestaltungsordnungen, über den Schnitt von Rasen und Hecken der Bewohner, über das Inventar der Blumenrabatten, über den Zustand der Hausfassaden. Eigensinn kann sich hier nicht ausbreiten. Disney bestimmt mit über die Einstellung von Lehrern in der Schule. Selbst die Straßen sind Räume von Disney's Gnaden: Privaträume, die Öffentlichkeit vortäuschen.

14Die Frage ist nun, ob dieser Trend weltweit homogen ist. Gilt er für alle Regionen dieser Erde gleichermaßen? Oder wird es kulturelle, regionale Unterschiede geben? Vielleicht liefert das Beispiel Euro-Disney bei Paris einen Hinweis. Dieses Projekt hatte große Schwierigkeiten, in Europa Fuß zu fassen. Es mußte massiv durch den französischen Staat in Form von Flächen und Infrastruktur subventioniert werden. Worin gründen diese Schwierigkeiten?

Auf diese Frage wird es wohl viele Antworten geben. Eine davon könnte sein, daß das Disney-Konzept viel mit der Art und Weise zu tun, in der alle Amerikaner - ob reich oder arm, ob schwarz oder weiß - den amerikanischen Traum träumen. Disneyworld paßt nicht bzw. noch nicht so richtig zum kulturellen Selbstverständnis des Europäers. In Amerika sind die Unterschiede von Trivialkultur und Hochkultur z.B. traditionell nicht so ausgeprägt wie in Europa. Motiv- und Themenparks à la Disney haben in Europa ein trivialkulturelles Image. Sie werden mit der anspruchslosen Masse der Arbeiterschaft assoziiert und sind damit schon für die Mittelschichten ein Problem und für die Eliten nicht akzeptabel. Sie entsprechen offenbar nicht ganz der Art, wie Europäer ihre (legitimen) persönlichen und sozialen Distinktionsbedürfnisse ausleben.

15Interessante Einsichten hierzu bietet beispielsweise die in Europa heftig geführte Debatte um die Beteiligung prominenter Architekten als Imagineers an amerikanischen und europäischen Disney-Projekten. Nicht wenige europäische Architekten weigerten sich, an entsprechenden internen Wettbewerben teilzunehmen - offenbar, weil sie Schädigungen ihres hochkulturellen Images befürchteten. Andere europäische Architekten wiederum, die teilnahmen, hatten Probleme sich durchzusetzen, da sie den amerikanischen Geschmack nicht trafen. Ihnen fehlte einfach der richtige postmoderne Eros des Imagineering. Und wieder andere, wie z.B. Aldo Rossi, Jean Nouvel oder Rem Kohlhaas wurden kritisiert, sie hätten sich an die Trivialkultur der Mickey-Mouse-Welt verkauft.

Eine sehr interessante (postmoderne) Frage ist es, ob die weltweit feststellbare Erlebnisorientierung zu nationalen oder - besser - zu regionalen Ausprägungen führen wird. Wird sich ein europäischer Stil der Inszenierung bzw. Fiktionalisierung herausbilden? Wird es ein europaspezifisches Imagineering geben, das sich vom japanischen, 'lateinischen', südafrikanischen und möglicherweise auch orientalischen Imagineering unterscheidet? Unbestritten ist, daß Imagineering à la Disney in Europa als Herausforderung erlebt wird. Der Legitimationsbedarf von Fakes ist auf dieser Seite des Atlantiks offenbar größer. Das findet seinen Ausdruck darin, daß bei der Verwirklichung neuer Erlebniswelten in Deutschland z.B. die Regionalbezüge von Thematisierungsstrategien (theme strategies) sorgfältig geprüft werden. In einer Machbarkeitsstudie zu einem Erlebnispark bei Dresden mit Namen "Faszinatura" wird Wert auf die Aussage gelegt, daß der Erfolg der Erlebnislinie auch von der "Glaubwürdigkeit im Standortkontext" abhängt.

16Eine europäische Antwort auf die Herausforderung des Imagineering ist möglich und sollte angestrebt werden. Den hier vorfindbaren Traditionen entsprechend könnte dies eine behutsame und intelligente sozialökologische Regulation von privaten Erlebniswelten bedeuten. Der Staat, der oft erhebliche Vorleistungen bei der Erschließung von Standorten erbringt, hat durchaus Möglichkeiten, auf die Konzepte von Themenparks einzuwirken. Angestrebt werden sollte eine moderne Form der "publik-private-partnership". Dies würde die Aufhebung des rein insularen Charakters von Erlebniswelten bedeuten, d.h. ihre Öffnung zur Gesellschaft, zu den Städten und Landschaften.

Diese Überlegung bringt mich zum Abschluß zurück zur alteuropäischen Stadt, die ja, wie wir oben bemerkten, mit ihrer Langsamkeit so gar nicht mehr in unsere schnelle Zeit hineinpassen will. Unter dem eventistisch geschärften postmodernen Blick entdecken wir in ihnen ein gleichsam natürlich vorhandenens Erlebnispotential. Da gibt es hunderte von Mainstreets und Celebrations nicht-privater Art, mit öffentlichen Straßen und Plätzen und dennoch mit einem so großen Erlebniswert, daß Japaner und Amerikaner sie mit großem Aufwand nachbauen. Wir sollten den Trend zu Erlebniswelten, zu spektakulären Inszenierungen nicht als postmodernen Schnickschnack abtun, sondern als Herausforderung begreifen, die städtische und ländlische Welt, in der wir leben als eine nach ästhetischen Gesichtspunkten zu gestaltende zu begreifen.

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