Thema
3. Jg., Heft 1
Mai 1998

Marco de la Torre

Die Stadt in unserem Kopf

1Die Städte haben sich in den letzten Dekaden stark verändert, die Kommunikationsmöglichkeiten nahmen fast überall enorm zu, und zwar nicht nur in der sogenannten ersten Welt, sondern auch in den Städten der „dritten Welt".

Abb. 1: Werkzeug

Das Telefon, die Television, das Auto und andere Kommunikations- und Transportmittel, die wegen ihres individuellen Einsatzes die Zerstreuung und die Gestaltung der postindustriellen Stadt förderten und prägten, sind heute die Hauptakteure einer fast vergangenen Epoche; aber nichtsdestoweniger ist wichtig, daß diese Kommunikationssysteme tiefgreifende Wirkungen und fundamentale Veränderungen auf gesellschaftliche Prozesse, auf räumliche Beziehungen und auf die Bedeutung von Distanzen verursacht haben.

2Seit einigen Jahrzehnten wissen wir schon, daß die Städte fast nicht mehr vom Fußweg aus erlebt oder wahrgenommen werden.

Abb. 2: Mexiko-Stadt

Die ganzen Straßen, Autobahnringe und Alleen sind überfüllt mit privaten Pkws oder öffentlichen Bussen, und die Passagiere nehmen einfach nur einige bruchstückhafte Teile der Stadt wahr. Ein gewöhnliches Bild ist es heutzutage, die Stadtbewohner mit Funktelefon zu sehen. Dieses "wunderbare" Kommunikationsmittel klinkt die Gesprächspartner von den Orten, wo sie sich befinden, total aus, d.h., daß diese Leute sich nur physisch an solchen Orten befinden, aber geistig ganz woanders. Mit solchen Voraussetzungen können wir nicht erwarten, daß die Bewohner überhaupt noch ihre eigene Stadt wahrnehmen oder sich aneignen. Deswegen besteht dieses Bild der Stadt aus Fragmenten verschiedener Größe, wie ein großes Puzzle, aus dem einige Teile fehlen. Wir können nicht annehmen, daß alle Bewohner die ganze Stadt kennen, besonders in großen Städten, wo das fast unmöglich ist. Die Komplexität der Städte wächst in einem rasanten Tempo, und wenn wir die oben genannten Voraussetzungen betrachten, ist es kein Wunder, daß die Bewohner immer weniger von ihrer eigenen Stadt kennen und auch ganz wenig Interesse daran haben, ihre eigene Stadt zu "entdecken".

I.- Globalisierung-Internationalisierung-Homogenisierung

3In London: ein kleines Mädchen, fünf Jahre alt, spazierte mit Ihrem Vater, beobachtete die Gebäude und sagte: "Papa, hier sieht es wie in Singapur aus!"
Globale Architektur? Globale Städte? Wenn jemand über Globalisierung liest oder hört, und sich keine tieferen Gedanken darüber gemacht hat, würde man nach dieser Aussage bejahen. Aber vielleicht sollte man nicht alle Begriffe in einem gleichen Topf zusammenmischen. Der „Internationale Stil" war die Bezeichnung von Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson für die Architekturproduktion vor dem Zweiten Weltkrieg bei der von den beiden organisierten Ausstellung im Museum of Modern Art, New York 1932 - eine Architektur, die eigentlich mehr vom Kubismus abzuleiten wäre. Aber ab diesem Moment bekam diese Architektur ihr neues Etikett mit universeller Gültigkeit. Die Bezeichnungen sind immer hilfreich und didaktisch, um ähnliche Phänomene oder Charakteristika zu beschreiben, zu katalogisieren oder zu vergleichen. Das Risiko besteht darin, nur auf der formalen Seite zu bleiben und nicht tiefer zu untersuchen, aber noch gefährlicher ist es, vermutliche Ähnlichkeiten zu etikettieren und als universell gelten zu lassen.

4Heutzutage wird überall über Globalisierung geredet, was ist eigentlich damit gemeint? Saskia Sassen, eine oder die Initiatorin dieses Begriffs, bezeichnet die Globalisierung als die neue wichtige Handlungskraft und betont, daß "die Globalisierung und die neuen Technologien die räumlichen Koordinaten grundlegend verändert haben."1 Selbstverständlich ist das so, wie auch der Telegraph seine eigene Zeit prägte. Neue Medien - neuer Aktionsradius. Diese neue Zentralität, von der Saskia Sassen spricht und ihre entsprechende Architektur in den sogenannten "Global Cities" zeigen eine neue Uniform, die diese besonderen Bedürfnisse anspricht - "intelligente Gebäude". Dies war genauso der Fall in der Zeit des Barock mit Residenzen und anderen Anlagen. Architektur und Macht hat die Geschichte von Tausenden von Jahren.
So wie die Medien sich durch die Zeit verändert haben, sind auch die Sicherheitsmittel entsprechend anders. Im Mittelalter gab es Turmwächter und Ritter, um die Burg zu verteidigen; heute gibt es auch Wächter, Mauern und "elektronische Systeme", die diese Verteidigung übernehmen.
Städte wie Montecarlo sind Paradebeispiele, wie eine Stadt sich aus Sicherheitsgründen ausrüstet, um die Sicherheit ihrer Bewohner zu gewährleisten. Die wichtigen Straßen Montecarlos sind durch Video-Camaras 24 Stunden überwacht. Hier entsteht die Frage „Freiheit gegenüber Sicherheit?" und dann: Was darf man, was soll man, was kann man und was muß man? Ist es noch erlaubt, sich in öffentlichen Räumen einfach aus Lust und Laune aufzuhalten oder Gebäude zu fotografieren oder zu zeichnen, weil wir sie schön finden? Kommt dann nicht nach ein paar Minuten ein Wächter und befragt uns oder -besser gesagt - verhört uns wegen unseres längeren Aufenthaltes dort, und wir versuchen ihm zu erklären, daß dieses Gebäude von dem Architekten so und so gebaut wurde und daß dies sehr wichtig für die Architekturentwicklung des letzten Jahrhunderts war, und er sieht uns wie ein Auto an und sagt, daß wir keine Erlaubnis haben, uns dort aufzuhalten. So etwas kommt uns bekannt vor oder erinnert uns an den Film "Brasil" von Terry Gilliam.

Abb. 3: Lima

5In anderen Städte wie México, São Paulo, Lima sind auch solche Phänomene zu verzeichnen, sie sind von ihrer „Umwelt" abgeschirmt, durch Wachpersonal, Mauern und elektronische Systeme. Sie bilden eigene Inseln, und nicht nur am Rande der Stadt, sondern auch in alten etablierten Mittelschichtsvierteln, wo die Straßen vor der Öffentlichkeit gesperrt und privatisiert sind. Florian Rötzer hat hierfür den Ausdruck "die Stadt als Gefängnis".2 Stadtteile werden total bewacht, aber gleichzeitig herrscht in den Häusern die Kommunikation total, per Kabel oder Satellitenanlagen kommen Informationen aus der ganzen Welt, eine Kombination aus Cyber-City und Mittelalterstadt.

6Parallel zu diesem Prozeß versucht man in diesen Städten das Zentrum, den Kern oder die Altstadt zu retten!

Abb. 4: Lima

-Sanierungsmaßnahmen, Restaurierung einzelner Gebäude oder Ensembles. Neues Leben, neue Geschäfte, Bürogebäude sollen verlocken, um die "Rehabilitierung" des Zentrums zu realisieren, aber was jene Planer oder Investoren zu vergessen versuchen, ist, daß dieses Zentrum schon bewohnt ist, ja sicherlich, würden sie uns sagen, aber nicht mit den "richtigen" Bewohnern, die gehören nicht in die soziale Schichtung, die dieses Viertel früher bewohnt hat, und genau deswegen sollten neue Maßnahmen ergriffen werden. Die Kriminalität, die dort herrscht, erlaubt es nicht, dieses Zentrum zu benutzen. Ganz falsch ist die Aussage nicht, man sollte nur auch beachten, daß natürlich nicht alle Bewohner dieser Altstadt kriminell sind, und daß auch diese Bewohner gegen die Kriminalität geschützt sein sollten! Wie Rötzer bezeichnend formuliert :"Der öffentliche Raum, die Straßen und Plätze, in denen Urbanität sich als Erlebnis realisiert, wird allmählich zu einem Bereich den man meidet".3

II.- Image

Abb. 5: New York

7Die Television sendet uns Bilder „entmaterialisierter Städte"(Boyer 1997); durch ikonographische Darstellungen sind die Städte reduziert, ein Blick aus dem Hubschrauber über die Wolkenkratzer, liebende Paare auf den Champs Elysees, eine Gondola unter der Vecchiobrücke, eine spontane Siedlung am Rand der Stadt, eine Sendung über kriminelle Taten durch die Straßen von..., Live-Übertragungen, solche stereotypisierten Bilder verarmen die Wahrnehmung des Bewohners und entwickeln manipulierte Einstellungen in eigenen und fremden Städten, aber trotzdem wurden solche Bilder in „realen Räumen" gedreht, und wenn jemand an einem dieser Orte war, konnte er ihre alte impressionistische Erinnerung durch ihre reale Wahrnehmung ergänzen, einbauen, eine Bedeutung geben oder ändern.
Dieses „Image" der Stadt, dieser Stadtplan, den wir von allen Städten, die wir kennen, in unserem Gedächtnis als ikonographisches Symbol haben - virtuell „gedankliche Durchführung"- wird ständig verfeinert und verbessert, aber dies geschieht nur durch unsere Raumwahrnehmung und unser Raumerlebnis vor Ort.

8Wir wissen eigentlich, wie schwierig es ist, unseren "eigenen Stadtplan" an andere zu vermitteln und als Orientierungshilfe weiterzugeben. Jeder von uns hat sein eigenes System, um diese Daten von der Stadt zu speichern (ich benutze hier absichtlich diese Computer-Sprache) - einige orientieren sich gut anhand bebauter Stadtteile (Merkzeichen), andere mit Metro- oder Bus-Stationen, andere mit Straßenführungen oder nach den Himmelsrichtungen eines Kompasses. Was bedeuten in diesem Zusammenhang "Merkzeichen"?

Abb. 6: Gedächtniskirche, Berlin

Verschiedene Faktoren wie Geschichte, Traditionen oder besondere Schönheit, Häßlichkeit oder Größe spielen eine wichtige Rolle und geben dem Gebäude oder dem Ort die "Konnotation" eines Merkzeichens. Heutzutage verlieren viele dieser alten Merkzeichen diese Bezeichnung und Wert und werden ersetzt von Schnellimbißketten wie - McDonalds, Burger King oder anderen transnationalen Unternehmen.
Solche Erscheinungen sind nicht nur in den großen Städten bemerkbar. In Nanjing z.B., einer relativ kleinen Stadt (gemäß Chinas Größe), drei Zugstunden von Shanghai entfernt, gibt es einen Konfuziustempel, der vor einigen Jahren der absolute Geheimtip war: Eine wunderschöne Tempelanlage, sehr ruhig, richtig meditativ. Was ist aus ihm geworden? Die ganze Umgebung um den Tempel hat sich in eine Art Disneyland auf Chinesisch verwandelt, McDonalds, KFCs, Geschäfte alle Art, aber das ist nicht alles, selbst Spielautomaten und Videokabinen sind in den Hallen des Tempels aufgestellt. Diese neuen Fast-Food-Merkzeichen sind zu Orientierungspunkten in den Städten geworden.

9Aber jeder von uns hat seinen eigenen Stadtplan und seine Stadtbilder, die mit persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen assoziiert sind.
Für die Raumwahrnehmung sind wichtig:
- Proportionen
- Lichtverhältnisse
- Gerüche
- besondere Situationen etc.
Diese Besonderheiten sind jedoch noch nicht "simulierbar", einige Versuche wurden im Bereich des Kinos gemacht, um diese Illusion der Realität so weit wie möglich zu reproduzieren.
Ich bin der Meinung, daß diese neue Ästhetik und Simulation von Architektur und Städtebau eine große Hilfe ist, um Daten und Informationen zu analysieren und um zu kommunizieren, aber man sollte dabei ganz klar sehen, daß die realen Städte immer weniger wahrgenommen werden. Das bedeutet auch das Interesse und die Partizipation an dem, was in der Stadt geschieht, und nicht nur von Bürgerbeteiligung gegen Projekte oder Maßnahmen, die eine große Auswirkung auf die Stadt ausüben könnten, sondern auch kleine Maßnahmen im eigenen Kreis bis zur Eigenmaßnahme hin, die Straße sauber zu halten. Es geht dabei nicht etwa um konservative Einstellungen: In den sogenannten spontanen Siedlungen in Lateinamerika läßt sich beobachten, wie die Bewohner solcher Siedlungen sich Sorgen machen, um die Gestaltung ihrer Straßen selbst zu verbessern, sie sich "anzueignen" - dabei geht es um eine Identitäts-Verleihung. Dabei kommen wir auf einen schwierigen, und, so hoffe ich, wichtigen Punkt der "Stadt-Identifikation", und die erste Frage dabei wäre die, was uns dazu führt eine Stadt zu "identifizieren", eine Stadt oder Stadtteile sich als "unsere" anzueignen; sind das Orte, wo wir uns wohl fühlen, oder Werte erkennen, oder Orte, die wir mit Stolz repräsentieren?

10Sicher gibt es diese Charakteristika und noch andere, aber wann geschieht diese Beurteilung, was für Prozesse gibt es oder entstehen in unserem Kopf, bevor wir solche Attribute verleihen?
Einige haben wir sicherlich durch unsere Erziehung, Familie oder Schule mitbekommen, andere vielleicht auch später gelernt, jedoch die prägendsten sind durch unsere eigene Erfahrung entstanden, durch unsere "Stadt-Erkenntnisse"/ Stadt-Benutzung, d.h. durch unsere subjektive Raumwahrnehmung.
Michel Foucault definiert die Kontrolle des Gedächtnisses als Kontrolle der Erfahrung, des Wissens und der Auseinandersetzung, die die gesamte Dynamik beinhaltet. Die Stadtpläne, die durch Kriminalgeschichten entworfen werden, radieren in gewisser Weise unsere normale, räumliche Wahrnehmung von Stadt aus, die unsere Erinnerung an die Stadt formt.

11"Anschauliches Denken" ist der Titel des Buches von Rudolf Arnheim, in dem er uns beschreibt, wie unsere Denkweise mit Bildern assoziiert ist. In unserem Kopf produzieren wir ständig Bilder und assoziieren sie mit verschiedenen Objekten, Personen, Gebäuden, Orten etc. "Mit den Augen nimmt der Mensch gar 50 Milliarden Bit sinnlicher Daten pro Sekunde auf".4 Wenn wir diese Daten in Giga Bytes übersetzen, sind das 6,25 GB, die unser Auge pro Sekunde aufnimmt. "Erst im Detail zeigt sich, weshalb das menschliche Gehirn als die komplexeste Struktur im Universum gilt. Seine Hardware, Grundlage aller kognitiven Leistungen, besteht aus etwa 100 Milliarden Nervenzellen - so viele, wie es Sterne in der Milchstraße gibt. Allein in einem Kubikmillimeter befinden sich etwa 40 000 dieser Neuronen, und jedes einzelne steht mit 4000 bis 10 000 anderen über sogenannte Synapsen in direkter Verbindung. Bei 100 Billionen Synapsen hat das Gedankennetz eine Länge von 100.000 Kilometer".5 Unsere Sinnesorgane arbeiten ständig bewußt oder unbewußt, diese Registrierung wird sozusagen automatisch gespeichert und ist abrufbereit, aber diese Reaktion auf Bilder, Gerüche, Töne, Geschmack und Tasten erfolgt auf verschiedenen Kanälen oder Intensitäten. Wenn man von einem bestimmten Ort spricht, könnte man eine Unmenge an Bildern in Millisekunden durch unser Gehirn laufen lassen, um einen Bezug zu dem Ort zu geben.
Mit anderen Sinnesorganen ist die Assoziation komplexer und aufwendiger, also Gerüche, Töne, Geschmack und Tasten. Man benötigt Stimulationen, die diese Verbindungen schaffen, z.B. der Geruch von Essen, nicht der alltägliche (vom Imbiß auf der Straße ), sondern der besondere, der uns erlaubt, solche Erinnerungen hervorzuholen (z.B. Lavendel-Blüten o.ä.)
"Der Verlust kinetischer und taktiler Eindrücke, von Geruchseindrücken, wie sie die direkte Fortbewegung noch lieferte, läßt sich nicht durch eine vermittelte, eine Medien-Wahrnehmung, durch das Vorbeiziehen der Bilder an der Windschutzscheibe des Autos, auf der Kinoleinwand oder gar dem kleinen Fernsehbildschirm ersetzen."
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III.- Real - virtuell

12Noch ein anderer Aspekt heutzutage ist, daß die Stadt im Zeitalter des Datennetzes, der computergestützten Systeme immer weniger Spielraum für die Raumerfahrung in den „realen Räumen" ermöglicht. Diese neue Welt des Cyberspace wird auch als „Lebensraum" vom „User" wahrgenommen, da im Cyberspace nicht nur Daten und Zeichen, sondern auch Bilder gesendet werden können, d.h. die Bewohner einer Stadt haben noch ein zusätzliches Kommunikationssystem, das die Beziehung zwischen diesen „Lebensräumen"- reale/virtuelle - als eine neue Herausforderung darstellt.
" Unsere Kultur ist dazu übergegangen, auf globaler Ebene Bilder zu produzieren, die dazu bestimmt sind, erlebt zu werden, und die, nach Meinung einiger, wirklicher sind als die Wirklichkeit selbst."
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Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Jeder von uns hat eine besondere Beziehung zu dieser Frage. Aber wenn die Geschichte in Tausenden von Jahren uns nicht getäuscht hat, würde ich sagen, daß unsere Erlebnisse und Erfahrungen zur Wirklichkeit gehören. Welche Verbindung zur Wirklichkeit gibt es? Welches sind unsere reellen Räume? Unser alltägliches Leben? Oder versucht man die Realität einfach abzuschalten und wartet eine neue Aufgabe ab, um diese dann als Wirklichkeit zu bezeichnen? Solche Fragen können wir hier nicht beantworten, aber etwas ist ganz klar: Jeder von uns hat verschiedene Schutzmechanismen, um mit seiner eigenen Realität umzugehen. Dann ist die Frage: Bringt die Virtualität enorme Vorteile, um manchmal vor dieser lästigen Realität zu fliehen oder ist die Virtualität nur "wirklich" eine zusätzliche Hilfe? Thomas Maldonado sagt: "Virtuelle Realitäten unterbrechen unser Verhältnis zur Welt der Dinge und der Körper und reduzieren unsere Erfahrungsmöglichkeiten in der physischen Welt".
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13Es ist vielleicht die Entstehung der "totalen Einsamkeit". Per Computer sucht man Gesprächspartner, neue Bekanntschaften oder auch Freunde - natürlich immer mit dem Vorbehalt, wenn das nicht mehr funktioniert oder man sogar keine Lust mehr dazu hat, kann man den Computer ausschalten. Die Kommunikation Face-to-Face in den reellen Räumen wird immer weniger und beschränkter.
Bald wird auch der Internetanschluß durch unsere Stromdose möglich sein und so werden wir "richtig" vernetzt, verkabelt und wer weiß was noch? Und dann arbeiten wir zu Hause und brauchen nicht mehr auf die Straßen zu gehen, es sei denn nur zum Spazieren oder um ein bißchen Luft zu schnappen; die Trendforscher sagen, man wird weniger Staus haben zum Wohle der Umwelt. Aber eigentlich geht der Trend zu mehr Autos, vielleicht weil diese Autos schon Navigationssysteme und automatische Steuerung haben und man sich um nichts mehr zu kümmern braucht , als nur durch die Windschutzscheibe die Realität zu sehen. Und die Vernügungsorte liegen immer irgendwo anders als in der eigenen Stadt. Immer noch könnte man behaupten, daß diese Mobilität (ohne große Anstrengungen) auf einen Radius von ca. 500 Kilometer zu beschränken wäre.

14Heutzutage sind die Flüge so billig, Tendenz steigend, daß es wahrscheinlich in nächster Zukunft einfacher wird, Menschen zu finden, die verschiedene Länder des Globus besser kennen als ihre eigene Stadt. Die Städte werden mehr als Transitzonen benutzt. Mobilität, Flexibilität und Anpassungsfähigkeiten an allen Orten sind heute fast die "normale Voraussetzung" bei der Einstellung des Arbeitnehmers in verschiedenen Unternehmen. Antwort auf solche Trends erscheinen in den Städten, um soweit wie möglich eine vertrauliche Umgebung an den mobilen Menschen zu geben.

Abb. 7: Paris, La Défense

Hotelketten, Restaurants, Supermärkte, Bahnhöfe, Bürogebäude u.a. sehen wie uniformiert aus mit einem Schild von "Corporate Identity", so werden sie überall und gleichzeitig nirgendwo angesiedelt.

IV. Realer Raum?

15Trotz solcher Gegenwarts- und Zukunftsvisionen ergibt sich für die Bewohner einer Stadt immer noch im Alltag die Problematisierung des „realen Raumes" - eines Raumes, den wir wahrnehmen, den wir uns aneignen, den wir als Ressource gebrauchen und den wir spüren und nutzen. Diese Raumerfahrung wird von uns mit all unseren Sinnen wahrgenommen und erfaßt, durch sie entstehen Gefühle und Reaktionen gegenüber diesen Orten und unser persönliches Bild der Stadt.
Es geht nicht darum, Gegenpropaganda zu den künstlichen Paradiesen der elektronischen Welten zu initiieren. Ich bin davon überzeugt, daß, wenn das die Absicht wäre, es überhaupt keine Möglichkeit gäbe, gegen diesen Strom zu schwimmen und selbstverständlich etwas anderes zu erreichen.

16Welche anderen Möglichkeiten stehen den Städten oder den Bewohnern zur Verfügung, um mit diesen neuen Medien besser umzugehen? Wolfang Welsch schlägt vor, die Denkform der Mischung9 zu übernehmen, d.h. die Entstehung oder die Verwirklichung einer transkulturellen Identität, in der eine kosmopolitische ebenso wie eine lokale Komponente existiert.10 Heutzutage wird mehrfach über Nomadentum geredet. Die Mobilität besteht nicht nur als ein physisches oder geographisches Phänomen, es ist eigentlich mehr eine mentale Einstellung; in unserem alltäglichen Leben schalten wir von einem Medium zum anderen und plötzlich zu den realen Räumen, von der Virtualität des Cyberspace, der Telepräsenz bis zum Kauf von frischem Brot beim Bäcker.

 

Anmerkungen:
1 Sassen S.: Die neue Zentralität- Auswirkungen von Telematik und Globalisierung in: Virtual Cities, hrsg. von Christa Maar und Florian Rötzer. Boston, Basel, Berlin 1997; S.117
2 Rötzer F.: Stadt als Gefängnis in: Virtual Cities, hrsg. von Christa Maar und Florian Rötzer. Boston, Basel, Berlin 1997; S.105
3 Rötzer F.: Telepolis. Urbanität im digitalen Zeitalter. Deutschland 1997; S.111
4 Breuer H.: Auch tausend Chips machen kein Gehirn in: GEO 12/ 1994 S.30-31
5 Lehmann, D.: Das Universum im Kopf in: GEO 12/ 1994 S.30-31
6Virilio, P.: Fahrzeug in: Aisthesis, Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hrsg. von Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Stefan Richter. Leipzig 1993
7 Maldonado, T.: Realität und Virtualität in: Die Zukunft des Raums, Hrsg. von Bernd Meurer, Frankfurt/ Main S.59
8 ebd.
9 Welsch, W.: Mischung- Körper- Situation, Kulturelle Determinanten der Architektur der Gegenwart in Thesis 1/2 Techno- Fiction. Zur Kritik der technologischen Utopien. Weimar 1997
10 ebd.

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