Thema
3. Jg., Heft
2
Juni 1998

Zvetozar Zavarihin

Wohnen als Daseinsweise

Martin Heidegger ist in Russland als Existenzialphilosoph weit bekannt. Heute wird das Interesse an seinen Arbeiten immer größer, viele wurden ins Russische übersetzt. Der Aufsatz «Bauen, Wohnen, Denken.» ist bis jetzt noch nicht veröffentlicht, aber an der St. Petersburger Universitaet hat die Arbeit an der Übersetzung des Aufsatzes schon begonnen.

Die fundamentale Ontologie von Heidegger hat als Hauptfrage den Sinn des Daseins und bestimmt den Menschen als organische Ganzheit des Geistigen und des Materiellen, des Subjekts und des Objekts, des Vergangenen , des Heutigen und des Zukünftigen. Heidegger deutet Existenz als Sorge um die Existenz mittels des Bauens einer Wohnung. Dabei versteht er unter der Wohnung im weiteren Sinne einen Ort in der Welt. Dementsprechend hat auch das Fachwort «Bauen» eine weite Auslegung.

Diese Thesen von Heidegger scheinen an und für sich unbestreitbar zu sein, aber ihre konkreten Deutungen können sich unterscheiden, was einen fruchtbaren Konflikt der Interpretationen bewirkt. Aber jede Interpretation muß davon ausgehen, daß Ganzheit, Unteilbarkeit des Menschen und der Welt, eine unvermeidliche Vergeistigung aller menschlichen Tätigkeiten und Ergebnisse und auch des Lebensraums zur Folge hat. Eben darum ist Bauen als Tätigkeit und Ergebnis nicht nur die Umbildung der Materie, sondern das Leben selbst in seiner geistig-materiellen Fülle. Heidegger beweist in seinem Aufsatz diese Grundlage auch mittels der Etymologie der Wörter «bauen» und «wohnen». In der russischen Sprache haben die Woerter «shit`» und «shilice» auch eine gemeinsame Wurzel.

Philosophisch gesehen hilft die weite Auslegung der Woerter «bauen» und «wohnen» verstehen, wie eng sie mit dem eigentlichen Prozeß des Lebens verbunden sind. Der Aufenthalt des Menschen an einem beliebigen Ort formt diesen Ort um, da der Mensch jeden beliebigen Raum einschätzt, symbolisiert, mythologisiert. Die Bautätigkeit verstärkt die umgestalterische Funktion des Menschen. Gleichzeitig ist diese Tätigkeit eine Form des für das Leben nötigen schöpferischen «Energieumtausches» zwischen dem Menschen und dem Ort. Auf solche Weise wird ununterbrochen der Lebensraum gebildet , das heißt Substanz, ohne die keine Lebensfunktionen und Potenzen des Menschen realisiert werden können. Darum kann man behaupten, daß der Prozess des Schaffens des Lebensraums eine Form des Daseins ist.

Diese These fordert eine nähere Erklärung.

Das Bedürfnis und die Fähigkeit des Menschen, die Tätigkeit und ihre Ergebnisse zu vergeistigen, ist das Grundmerkmal des Bewußtseins, das den Menschen gegenüber der Welt der Natur auszeichnet. Die Versuche der Apologeten des Funktionalismus, den neuen Lebensraum von den traditionellen Mythen, Symbolen und Sakralität zu befreien, endeten im Schaffen neuer Mythen. Funktionalismus als Schaffensmethode verwandelte sich schnell in einen Stil mit einer eigenen Struktur der Symbole, Zeichensysteme und Mythen. Die ähnliche «Angleichung» betraf auch die gegenseitige Tendenz der äußerlich forcierten Versinnbildlichung , die der Postmodernismus verwirklichte. Die mannigfaltige historische Symbolik dieser Architektur konnte jedoch nicht die Rahmen des gewöhnlichen Zeichensystems sprengen.

Diese zwei Beispiele zeigen, daß es zwischen dem Menschen und dem von ihm geschaffenen Lebensraum die Wechselwirkungsfelder von einem gewissen «energetischen» Umfang gibt. Das Übertreten dieser Felder endet immer mit der kompensierenden Angleichung der geistigen Potenzen sowohl des Lebensraums als auch des Daseins.

Die existenziale Deutung, die Interpretation der Realien der Welt der Architektur und Bautätigkeit, die neue Wissenschaft - die architektonische Hermeneutik (der belorussische Gelehrte I. Morozov u.a. befassen sich intensiv damit) - erlauben in der Sprache der Architektur drei grundlegende Metatypen hervorzuheben: Ort, Übergang und Weg. Analogisch vom linguistischen Standpunkt aus gesehen, kann man Ort und Übergang als Substantiv und Verb interpretieren.

Der Ort hat physische Merkmale, die den Aufenthalt ermöglichen - in materieller oder virtueller Hinsicht. Jeder Ort hat ein Zentrum, wo sich existenziale Raum - Zeit bündelt, es gibt eine Grenze und einen Namen. Jeder Ort wird von den Menschen in den Formen des Hauses, des Tempels, der Utopie vergeistigt. Die Gesamtheit der Orte bildet den Raum, in dem die Welt der Architektur geschaffen wird. Als Architypen des Ortes können eine Kreuzung, eine Wand, eine Insel, eine Nische usw. auftreten.

Der Metatyp Übergang, der von Heidegger als Brücke bezeichnet wurde, verkörpert die Idee der Bewegung, der Veränderung, der Verbindung der Orte. Unter den allgemeinmenschlichen Werten ist oft die Idee der Veränderung wichtiger, als die Veränderung selbst. Die Archetypen Übergang - Aufstieg, Abstieg, Öffnung, Brücke poetisieren die Welt der Architektur, indem sie fast adäquat das geistige Wesen des Daseins zum Ausdruck bringen.

Unter dem Metatyp Weg , der die bestimmten Orte verbindet, versteht man das Vorhandensein physischer Werte, des Anfangs und des Endes, des Ziels, der Reihenfolge der Struktur. Seine Archetypen sind Tunnel, Labyrinth, Treppe. Jedes Objekt der Architektur hat seinen Weg, seine Geschichte und Entwicklungsetappen und unterzieht sich einer Deutung. Dabei kann die Größe der Objekte verschieden sein - von einer möglichst kleinen Größe bis zur globalen Größe ganzer Zivilisationen. Es ist zum Beispiel offensichtlich, daß die Architektur der westlichen Zivilisationen in ihrer Entwicklung mehr die Neigung zu dem «Erschaffen des Ortes», zu einer gewissen positiven Endgültigkeit hat; die Architektur des Ostens , die auf Eindeutigkeit und Endgültigkeit verzichtet, hat eher die Neigung zum Metatyp des Übergangs.

So hat jeder Lebensraum eine existenziale Sinn- und Sprachstruktur, die mittelbar oder adäquat das existenziale Wesen des Seins zum Ausdruck bringt. Für das professionale Architekturbewußtsein ist das Verstehen dieser Zusammenhänge nicht so sehr wichtig für die Taktik und Technologie des Schaffens als für seine Strategie und Weltanschauung und für alle Bereiche der fundamentalen Grundlagen des Berufs des Architekten. Die Schaffung dieser Grundlagen erfordert eine wesentliche Korrektur der Methodik der Architekturausbildung und entsprechende Veränderungen in der Kritik, der Theorie, der Wissenschaft und der Information auf dem Gebiet der Architektur.

 

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