Thema
4. Jg., Heft 2
Februar 2000

Hans-Jürgen Ketzer

Die Geburt der Landschaft aus dem Geiste der Umweltzerstörung

1 „Südraum Leipzig"

„Ich habe noch niemals Lobpreisungen dieses Erdstrichs gelesen. Getadelt wird er eigentlich auch nicht. In landschaftlicher Hinsicht ist ihm das Schlimmste widerfahren: man spricht überhaupt nicht von ihm." (Bräutigam, 1905, 261) Diese Worte des Publizisten Ludwig Bräutigam galten der Region südlich Leipzigs, jener, für die sich nach 1990 der Name „Südraum Leipzig" einbürgerte (vergl.: Hönsch, 1992; Berkner, 1993). 1905 schrieb Bräutigam das seinerzeit verbreitete Urteil über diese Gegend nieder und fand auch einleuchtende Gründe für die weitgehende Ignoranz ihr gegenüber. „Da fehlen", führte er aus, „die großen heroischen Linien in der Zeichnung der Landschaft, wilde Ursprünglichkeiten, grandiose Einsamkeiten und überraschende Fernblicke. Dafür Fleiß und Ordnung rings umher. Keine Scholle meilenweit unangebaut. Alles von unverdrossener Arbeit, emsiger Betriebsamkeit geregelt und verschönt. Selbst der den Horizont umsäumende Wald zeigt schon von Ferne, daß hier Jahrhunderte alte Kultur die wuchernde Natur in Ordnung hält." (Bräutigam, 1905, 264)

Bräutigam stand mit seiner Auffassung damals bei weitem nicht allein. So schrieben Buschick und Ulbricht wenige Jahre später: „Die Leipziger Bucht als Landschaft darzustellen, ist eigentlich ein Wagnis. [...] Unserer Landschaft fehlen die großen Züge. Kein großer Strom durchrauscht sie, sie hat keine beherrschenden Höhen aufzuweisen, ihr Antlitz trägt einförmige Züge." (Buschick/Ulbricht, 1909, 84). Dennoch sei sie nicht ohne Reize, aber, so die Autoren, „ihre Schönheiten liegen nicht an der Straße, drängen sich nicht auf, sie wollen gesucht sein." (ebenda). Dieser Ansicht war auch der Leipziger Gymnasiallehrer Dr. Kurt Krause, der zu den Initiatoren der Wanderbewegung in Sachsen gehörte. Er veröffentlichte im ersten Drittel des 20.Jahrhunderts eine Reihe von Wanderbüchern für die betreffende Region. Im Vorwort des 1924 publizierten Bandes „Rund um Leipzig" beschrieb Krause das Anliegen seines Publikationsvorhabens dahingehend, daß es bei den hier lebenden Menschen in besonderer Weise darum gehen müsse „die Liebe zur Heimat [zu] fördern und [zu] pflegen. Das Einerlei der Ebenen von Leipzig", so setzte er ergänzend hinzu, scheine, „zunächst nicht dazu angetan. Lieben kann seine Heimat aber erst, wer sie kennt." Deshalb sein Fazit: „Es gilt, die Landschaft im kleinen zu erarbeiten." (Krause, 1924, 4)

Will man ein räumliches Umfeld als Landschaft erleben, so muß, folgt man den soeben zitierten Autoren, einerseits dieses Umfeld gewisse Voraussetzungen mitbringen, müssen andererseits wir selbst über entsprechende Haltungen, Einstellungen und Einsichten verfügen. Die Region um Leipzig setzte mit ihrer Beschaffenheit dem Erleben ihrer selbst als Landschaft eine Reihe von Hindernissen entgegen. Zugleich konstatierten die Autoren eine besondere Unempfindlichkeit der Betrachter beim Erleben ihrer besonderen Umweltqualitäten. Ohne Zweifel, die Leipziger Tieflandsbucht hatte es schwer, als Landschaft wahrgenommen zu werden und den sie Betrachtenden fiel es schwer, sie als solche zu erleben. Dies galt, wohlgemerkt für die Zeit um 1900.

Paradoxerweise änderte sich dies, als man begann, ihr mit riesigen Baggern zu Leibe zu rücken, um der unter ihrer Oberfläche lagernden Braunkohle habhaft zu werden. Markant drückt sich das in der völlig neu gestalteten Ausgabe des Leipziger Wanderbuchs von 1935 aus: „Überrascht von der Großartigkeit des Bildes, das sich uns bietet, hemmen wir unsere Schritte." , heißt es dort geradezu euphorisch, „Tief unter uns, 50, 60 m tief, gähnt schwarzglänzend die Grubenkohle. Wie Kinderspielzeug bewegen sich die Förderzüge. Aus nachtdunklen Schluchten steigt mit zackigem Grat ein wildes Haldengebirge. [...] Drüben aber an der jenseitigen Grubenwand bietet sich dem Auge ein Schichtenaufbau, wie wir ihn in ganz Nordwestsachsen nicht wiederfinden: Wie die Blätter eines Riesenbuchs legen sich hier die Ablagerungen der Braunkohlenzeit und des Eiszeitalters aufeinander und erzählen uns von den wechselvollen Schicksalen unserer Heimat während ihrer letzten erdgeschichtlichen Entwicklung." (Krause, 1935 a, 61)

Im Stil herkömmlicher Reiseführer wird des langen und breiten eine ihrer gewachsenen Natürlichkeit entkleidete, anorganische Welt vorgestellt. Ihr wird – geradezu als Epitheton - der Titel einer „Braunkohlenlandschaft" verliehen (Krause, 1935 b, 51). Und tatsächlich, was man der über Jahrhunderte gewachsenen Kulturlandschaft absprach, dieser durch abrupte Einschnitte ins Erdreich hervorgebrachten billigt man es zu: Sie schlage den Betrachter in Bann, fasziniere schon im Hinsehen, kurzum ihr Besuch gehöre zu den Sehenswürdigkeiten Sachsens.

Drei landschaftsbildende Elemente prägen nach Walter Sinkwitz (Sinkwitz, 1935, 5) die „Mitteldeutsche Braunkohlenlandschaft": der Bergbau, die daran anknüpfende Industrie und die für ihn typischen Siedlungsformen. Sie drücken sich in charakteristischen Gestalten aus, in der Tagebaugrube, der Halde, dem Tagebausee, dem Tiefbaubruchfeld, in Fördertürmen, Brikettfabriken, Schwelereien, Kraftwerken, den Industriedörfern und Bergarbeitersiedlungen. Vor allem aber charakterisiert sie eines: „Nichts ist in der Braunkohlenlandschaft beständig." (Krause, 1935 b, 56). Ihr transitorischer Charakter wird geradezu als besondere Attraktion herausgestellt. Sie firmiert damit als lebendiger Ausdruck der Fortschritts, der modernen Zeit schlechthin.

Aus der Perspektive des Nachgeborenen mag diese Haltung schwer nachvollziehbar zu sein. Bereits ein Halbjahrhundert später empfindet man anders. Die Tagebauförderung und industrielle Verwertung der Braunkohle erscheinen weniger als industrielle Großtat denn als gigantische Umweltzerstörung. Dies mag den auf seine Leistungen zurecht verweisenden Bergmann kaum anfechten, die Mehrheit jedoch teilt das Entsetzen über so viel Raubbau an der Natur und an der kulturellen Leistung von Generationen . Wie sollte es auch sein angesichts des Abbbaggerns Jahrhunderte alter Dörfer, Straßen und Fluren oder mehr noch konfrontiert mit den gravierenden Auswirkungen der Schwelereien!

Im Beitrag des Mölbiser Diakons Siegfried Rüffert auf dem Dresdener Kirchentag 1983 hieß es: „In diesem Jahr haben die Apfelbäume in Mölbis ihre Blätter schon verloren, schon seit dem 26. Mai. Da gibt es keine Petersilie mehr, die ist ganz weiß, und die meisten Blattpflanzen haben nur noch zusammengerollte Blätter. In Mölbis gibt es kaum noch Bäume, die man anderswo kennt. Und wenn man früh rauskommt und die Haustür aufmacht, hat man das erste Mal, wenn nicht schon im Schlafzimmer, dreckige Hände, denn die Luft ist schmutzig ...Die Mölbiser sagen: Es hat gedreckt. Den Dreck kann man wegkehren. Manche Leute sagen: Gegen Dreck hilft Wasser. Aber wenn man auch die Blumen, falls tatsächlich welche blühen, abwaschen muß, bevor man sie in die Vase steckt, dann sind sie zusammengefallen, da wird‘s schon schlimm. Manchmal ist der Dreck so schlimm, da muß man mit Scheinwerfer fahren am Tage. Und da sieht man die Nachbarhäuser nicht mehr. Das Schlimme ist aber nicht der Dreck, sondern das Gas. Die Mölbiser sagen: der Gas. ‚Der Gas hat alles kaputt gemacht.‘ Wenn man an solchen heißen Tagen sich abends ins Bett legt und denkt, nun hast du Erholung, ist ja wunderbar, und man macht die Fenster auf und dann kommt die frische Luft durch – das kann man in Mölbis nicht mehr machen, denn dann kommt das Gas knüppeldick bei Südwestwind ..." (Mölbis, 1995)

Triumph empfand da nicht einmal mehr der Bergmann. Er fühlte sich viel mehr zur Rechtfertigung seines Tuns genötigt. Die Rohstoffknappheit in deutschen Grenzen, die Auseinandersetzung mit dem andern politischen System oder – in jüngster Zeit - die Erhaltung von Arbeitsplätzen muß her halten, unterschiedlich die Argumente je nach Zeit und Gesellschaftsform, gleich jedoch die Tatsache, daß das resultierende Bild der Lebensumwelt sich als Landschaft von sich aus nicht mehr rechtfertigt. So kommt es, daß – im Zuge eines Ausblendens des inzwischen stattgehabten – die Minderbewertung der Region in landschaftlicher Hinsicht zurückgekehrt ist. So, als hätte sich nichts geändert, wird die ästhetische Anspruchslosigkeit der Gegend beklagt. Wer heutzutage aus den Texten vom Beginn des 20. Jahrhunderts zitiert, wird breite Zustimmung erfahren. Der Mehrheit leuchten die Urteile von damals ein. Sie erscheinen ihnen so aktuell wie je.

Dabei sind die Schwelereien längst still gelegt, gibt es die karbochemischen Anlagen nicht mehr; die heute noch in Betrieb befindlichen Kraftwerke genügen höchsten Umweltstandards und die große Mehrheit der Tagebaue wird aufwendig rekultiviert.

1996 erschien der Band „Freizeit- und Erholungslandschaft Südraum Leipzig". Dessen Herausgeber formulierte eingangs, dessen Titel sei „eigentlich eine Zumutung. Die einen, die den Südraum nicht kennen und mit vorgeprägten Bildern von Landschaften, die diese Attribute tragen, prüfend an ihn herantreten, zweifeln schon bei der ersten räumlichen Einordnung des Gebietes auf der Karte. Die andern, die den Südraum kennen und hier wohnen, schütteln allenfalls den Kopf über derartige Wortspielereien. Eben noch suhlten sich die Medien in der vom Braunkohlentagebau gezeichneten Region und versuchten der Welt mit Bildern von Mondlandschaften und Gaswolken ein Gefühl für die Endstation des real existierenden Sozialismus nahezubringen. Und jetzt soll man sich hier erholen können?" (Nabert, 1996, 3)

Diese Worte umreißen ein für die Perspektiven der Region wesentliches Problem: Mit der praktischen Umgestaltung der von der Braunkohlenindustrie hinterlassenen Umwelt ist es nicht getan. Etwas, das als Landschaft erlebt und geschätzt wird, stellt sich im Zuge der Rekultivierung und Umweltgestaltung nicht automatisch her.

Zwar ist nicht zu leugnen, daß sich die Region südlich Leipzigs in ihrer heutigen Gestalt wesentlich von jener unterscheidet, die Bräutigam, Krause, Buschick und Ulbricht zu ihrer Zeit beschrieben. „Eine völlig neue Kulturlandschaft entstand, geprägt durch das Neben- und Übereinander von alter Natur- und Kulturlandschaft und vielgestaltiger Bergbau- und Bergbaufolgelandschaft. Das heutige Landschaftsbild muß mit Begriffen wie Trassenkorridore (Landpfeiler als Träger von Siedlungsbändern und technischen Infrastrukturen), große Tagebau-Hohlformen, Tagebau-Restseen, Forstmonokulturen und siedlungsfreie Kippenflächen beschrieben werden. Dazwischen die einst strukturbildenden Flüsse, auf weiten Abschnitten verkommen zu toten Durchlaufrinnen. Von der Trageser Halde aus kann man die Dramatik und Vielgestaltigkeit dieser Landschaft begreifen und erfassen. Kaum zu glauben, daß der im Süden von Mölbis gelegene Berg künstlich angelegt wurde. Mehr als 70 Meter ragt er übers flache Land. Wir stehen auf den Aufschlußmassen des Tagebaus Espenhain, auf 80 Millionen Kubikmetern, aufgeschüttet zur mächtigsten Überflurkippe des mitteldeutschen Raumes." (Haikal/Streller, 1995, 55 f.)

Bei den soeben zitierten Autoren klingt viel von der Ambivalenz heraus, vor der niemand gefeit ist, der sich bewußt der Wahrnehmungsumwelt des Leipziger Südraums aussetzt. Da entsteht eine Seenplatte, ragt ein 70 Meter hoher Berg auf, dehnen sich kilometerweit frisch aufgeforstete Waldflächen. Was ist daran Besonderes?! Die Mecklenburger Seen sind größer, die Berge des Schwarzwalds bei weitem höher, von seinen romantischen Tälern und Wäldern ganz zu schweigen. Trotzdem geht unter Umständen von allem eine sonderbare Faszination aus, dann nämlich, wenn einem bewußt wird: Vor nicht ganz 100 Jahren war hier nichts anderes als weite Ebene, oder, um es mit Bräutigams Worten zu sagen, „keine Scholle meilenweit unangebaut." Darin eben besteht das außerordentliche, zugleich aber höchst prekäre dieser Region: Sie steht, sofern man sie als solche wahrzunehmen vermag, für eine Landschaft, geboren aus dem Geist der Umweltzerstörung. Doch nur dann, wenn man sich dessen bewußt ist wird man überhaupt imstande sein, sie auch als etwas Außerordentliches zu erleben. Die Landschaft im „Südraum Leipzig" tut sich schwer mit ihrer Geburt. Ohne Schmerzen ist sie nicht zu haben.

2 „Landschaft"

Es ist der Überlegung wert zu fragen, ob diese Landschaft damit so allein steht. Einer verbreiteten Auffassung folgend, schlug die Geburtsstunde des modernen Landschaftserlebens mit Francesco Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux. Von eben jenem Petrarca aber stammt auch eine der ersten Beschreibungen der modernen urbanen Lebenswelt. Seine Klage gilt dem Leben in der „unruhigste[n] Stadt der Welt". Über sie führt er aus: „Keine Worte kommen dem Abscheu gleich, den ich vor ihr empfinde. Diese übelriechenden Straßen voll kläffender Hunde und garstiger Schweine, dies Rädergerassel auf allen Straßenpflastern, Pferdegespanne, die den Durchgang versperren, widerliche Menschen aller Art, das häßliche Bild von Bettlern neben übermütigen Reichen, von jammervollem Elend neben toller Freude, überall Zank und Streit, Lug und Trug, dies Durcheinander von schreienden Stimmen, dies Gewühl des sich drängenden und stoßenden Pöbels! Solche Dinge reiben den Geist auf [...], rauben ihm alle Ruhe [...] Möge mich Gott mit heilem Nachen aus diesem Schiffbruch retten! Manchmal glaube ich mich lebendigen Leibes in der Hölle begraben. Und da soll man noch großen Dingen und edlen Gedanken sich hingeben!" (Petrarca, 1968, 472)

Petrarcas Gipfelerfahrung, die der Beschreibung des Aufstiegs folgt, kann durchaus als Gegenstück zu dieser Schilderung gelesen werden: „Zuerst stand ich, durch einen ungewohnten Hauch der Luft und durch einen ganz freien Rundblick bewegt, einem Betäubten gleich. Ich schaue zurück und nach unten: Wolken lagerten zu meinen Füßen. [...] Ich richte nunmehr meine Augen nach der Seite, wo Italien liegt, nach dort, wohin mein Geist sich so sehr gezogen fühlt. Die Alpen selber, eisstarrend und schneebedeckt, [...] sie erschienen mir greifbar nahe." (ebenda, 256). Von der Natur angeregt reflektiert er über sich und seine Biographie, um schließlich, durch die Lektüre der Augustinischen Bekenntnisse darauf gelenkt zu werden, daß es eigentlich gelte, seine Bemühungen nicht auf die äußeren Erscheinungen der Umwelt zu verschwenden, sondern auf die Erkenntnis seines selbst zu richten.

Genau das hält Augustinus ihm aber auch in jenem fiktiven Dialog entgegen, der Petrarcas Klage über sein Leben in den Städten enthält: „Glaube mir, wenn nur einmal dein Inneres zur Ruhe käme, so würde der Lärm der Umgebung wohl deine körperlichen Sinne treffen, deinen Geist aber unberührt und unbewegt lassen." (ebenda, 473). Dieser könnte sich dann, unbehelligt von äußeren Bedrängnissen auf sich selbst konzentrieren.Unzweifelhaft dient bei Petrarca das Erlebnis einer als Gegenwelt zur Stadt empfundenen Natur als Medium, das dem Einzelnen erlaubt, seiner selbst innezuwerden.

Noch viel unmittelbarer tritt der enge Zusammenhang des Erlebens der natürlichen Umwelt als Landschaft mit der Urbanität in der Romantik hervor. In einer der frühen Erzählungen Ludwig Tiecks heißt es: „Er bestieg [...] den Wall der Stadt und sah nun auf der einen Seite dunkelflimmernde Lichter, ein dumpfes Geräusch von Wagen und Stimmen durcheinander, die sich ablösenden Wachten und das Schlagen der Glocken, Häuser, hinter Bäumen versteckt, [...] – auf der andern Seite das freie Feld mit Nebelwolken, mit fernen Hügeln und Wäldern, Bauern, die nach Hause fuhren, Mühlen, die ihren einförmigen Takt im kleinen Wasserfall unermüdet wiederholen [...]." (Tieck, 1983, 109 f.] Auch bei Tieck gestaltet sich das Landschaftserleben schließlich zum Anlaß für Selbstreflexion. Entscheidend aber ist eines: Unverkennbar bedarf es des Kontrasts zur Zerrissenheit und übersteigerten Reizdichte der städtischen Wahrnehmungswelt, um diesen Vorgang auszulösen. Arno Schmidt kommentierte diesen Zusammenhang mit einem gewissen Sarkasmus: „Erste ‚Stadtgänge‘ also [...] – Auf der andern Seite das, sich immer mehr belastend=steigernde, Naturgefühl: nur das geborene Großstadtkind vermag 1 Grasbüschel zu würdigen. Denken Sie an das grausig=exakte Zille=Bild des kleinen schwindsüchtigen Mädchens im Silo eines Hinterhofes; und der verkümmerte Bruder brüllt rauf: „Mutta!: jieb de Pellajonje runter; Lieschen sitzt so jern in’t Jrüne." (Schmidt, 1982, 172).

Rekapitulieren wir: Die Reizdichte und –intensität urbaner Lebenswelten führt zur Verletzung individueller Integrität und Subjektivität. Um diese zurückzugewinnen wendet sich der Wahrnehmende scheinbar naturbelassenen Umweltarrangements zu. Sie als Landschaft erlebend, vermag er, zu sich zurückzufinden. So lautet jedenfalls seine Selbstdiagnose. Inwiefern liegt er damit richtig?

Diese Frage schlüssig zu beantworten, ist nicht leicht. Wir müßten uns von außen betrachten, müßten einen Standpunkt jenseits unserer kulturellen Bedingtheit einnehmen, natur- und kulturräumliche Umweltkonfigurationen unabhängig vom Modus des Landschaftserlebens wahrnehmen. Wie man die Umwelt erlebte, bevor es so etwas gab wie „Landschaft", das exakt nachzuvollziehen, ist uns versagt. Dennoch sollten wir versuchen, uns vorzustellen, wie dies geschehen sein könnte.

Eines dürfte außer Frage stehen: Im Blick des Betrachtenden formierten sich die Elemente der räumlichen Umwelt noch nicht zu einem in sich geschlossenen, auf ihn als Subjekt bezogenen Environment. Seine Umwelt erschien ihm viel eher als eine Pluralität von Topoi, von denen jeder einzelne Topos eine andere, spezifische Natur besaß. Mehr noch: Jedes gegenständlich wahrnehmbare Element im Erfahrungsraum des Menschen besaß die ihm zukommende Bedeutung zu einem bestimmten Zeitpunkt, konnte früher oder später eine ganz andere Semantik suggerieren oder gar einfordern.

Das klingt kompliziert. Es ist jedoch noch gar nicht so lange her, daß auch Menschen unserer Breiten auf diese Weise empfanden. Blickte ein Bauer Mitte des 18.Jahrhunderts aus seinem Haus, dann sah er - mag sein – kaum etwas anderes, als wir heute vom gleichen Ort aus erkennen können: Einen einzeln stehenden Baum auf einer Anhöhe, Feldstreifen, Wiese, den Waldrand. Diese wahrgenommenen Elemente besaßen für ihn aber eine stark in sich differenzierte Semantik, die ihn daran hinderte, sie wie wir als Momente eines Landschaftsbildes zu erleben.

Der einzeln stehende Baum, die traditionelle Dorflinde, markierte für ihn zwar nicht mehr den angestammten Versammlungsort der Gemeinde; dennoch verknüpfte sich für ihn damit die sagenhafte Überlieferung, daß hier zu bestimmter Stunde ein geheimnisvolles Wesen umginge, Relikt der einstigen Heiligkeit der Gerichtsstätte. Von den Streifen der Feldflur wußte er genau zu sagen, welche zu wessen Gut gehörten – Rittergutsland hätte er nie dem der Bauern gleich gesetzt – und er hätte natürlich auch genau angeben können, welchem Zyklus der Dreifelderwirtschaft ein jedes Ackerstück zuzuordnen war. Der Wiese wiederum kam eine völlig andere Bedeutung zu: Sie gehörte der Dorfgemeinde. Der Wald aber unterschied sich von allen anderen Geländestücken. Ihn betrat selbst er, der sich hier auskannte wie kein zweiter, nach angebrochener Dunkelheit nur äußerst ungern. In ihm wirkte noch etwas nach vom Gefühl seiner Vorfahren, für die im Dunkeln die gesamte Welt außerhalb des Dorfzauns als unwirtlich und feindlich erlebt wurde. Kurzum, ein Gemisch aus utilitären, sozialen, kulturellen und religiösen Bedeutungen hinderte ihn daran, die einzelnen Elemente im Wahrnehmungsraum als vergleichbar erleben zu können. Sie besaßen für ihn keinen einheitlichen semantischen Status. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, von deren stark in sich differenzierter Semantik zu abstrahieren, geschweige denn, daß er sie einzig und allein auf sich selbst bezogen erleben konnte. Daran hinderte ihn, daß die Macht, die ein jedes dieser einzelnen Umweltelemente auf ihm gegenüber besaß, noch viel zu groß war.

Für das Landschaftserleben aber ist es in jedem Fall unabdingbar, daß die Umweltelemente unter der Perspektive des wahrnehmenden Subjekts subsumiert werden und sich dabei zu einem Ganzen, das mehr ist als die bloße Summe seiner Teile, formiert. Das Subjekt tritt in die Rolle des tertium comparationis; es bürgt für die Möglichkeit, daß die einzelnen Elemente überhaupt als semantisch gleichrangig wahrgenommen werden können. Seine Souveränität ist mithin nicht allein – wie bei Petrarca oder in der Romantik widergespiegelt - Resultat, sondern zugleich auch Voraussetzung des Landschaftserlebens.

Die Wahrnehmungselemente werden dabei ihrer Singularität beraubt, ihre Semantik wird nunmehr primär vom Platz innerhalb der komplexen Gesamtstruktur her bestimmt.

Um das Gemeinte zu verdeutlichen, kann man es auch in ein Bild fassen: Die sich zur Landschaft formierenden Wahrnehmungselemente verhalten sich wie Wörter in einem Text. Jedes Wort besitzt, für sich genommen, eine Bedeutung. Diese Bedeutungen gehören prinzipiell der gleichen semantischen Ordnung an. Der Autor des Textes kann die Wörter ihrer vorgefundenen Bedeutung wegen zwar nicht beliebig verwenden. Indem er jedoch aus ihnen einen sinnvollen Text gestaltet modifiziert und verändert er deren Semantik auch. Analoges geschieht bei dessen Lektüre durch den Leser.

Auf ähnliche Weise kann man sich die Wahrnehmung einer räumlich gegenständlichen Umweltkonfiguration als Landschaft vorstellen. Für den Bauer des 18. Jahrhunderts waren hingegen, anders als für uns, die einzelnen Elemente dieser Konfiguration nicht im gleichen Maße verfügbar. In seiner Perspektive gehörten sie ganz unterschiedlichen, inkompatiblen semantischen Ordnungen an.

Der herangezogene Vergleich mit einem Text ist keineswegs aus der Luft gegriffen. An den sprachlichen Bezeichnungen einzelner Landschaftsbestandteile, sprich an den Flurnamen, läßt sich jener kulturelle Prozeß, in dessen Verlauf sie zu Elementen gleicher semantischer Ordnung werden, mitunter sehr gut ablesen. So wird aus einem heiligen, geweihten Berg, an dem er die Mächte der Natur einst verehrte, unter Umständen der unverbindliche Flurname „Weinberg", aus dem Gerichtsort (mittelhochdeutsch: suona) wird der Flurname (Hohe) Sonne.

Die Bedeutungen, die einzelne Teile der Lebensumwelt für den Menschen einst besaßen verblassen in dem Maße, in dem er sich zum Subjekt schlechthin empor schwingt. Erst, wenn er den Eigensinn der ihn umgebenden Naturmächte hinreichend zerstört hat und sie sich ihm unterordnen, können sie ihm als Landschaft erscheinen.

 

3 Plädoyer für die Sukzessionslandschaft

Wenn wir die uns umgebenden kulturell umgestalteten räumlichen Konfigurationen als Landschaft erleben, so geht es also keineswegs um einen harmlosen, geschweige denn harmonischen Vorgang. Es handelt sich dabei viel mehr um eine Art Autosuggestion. Landschaftserleben soll uns die Sünden menschlicher Kultur verschleiern. Wenn wir uns dies allerdings bewußt machen, dann kündet dieses Erleben gleichsam aber auch davon. Als Landschaft fungiert, um es biblisch auszudrücken, die Natur gewissermaßen als Balken im Auge des Menschen. Was siehst du, heißt es Mat. 7. 3, den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?

Ist es aber nicht dennoch unangemessen, von einer Geburt der Landschaft aus dem Geiste der Umweltzerstörung zu sprechen? – Vielleicht sollten wir es uns abgewöhnen, Begriffe wie jenen der Umweltzerstörung moralisch derart zu überfrachten wie bislang geschehen. Darin scheint auch die Crux des öffentlichen ökologischen Diskurses zu bestehen. Wo der Mensch Umwelt gestaltet, dort zerstört er auch. Es gibt kein „umweltverträgliches Handeln", nur ein umweltbewußtes Verhalten und – diesem entsprechend - ein verantwortungsvolles Agieren.

Mit einer solchen Sichtweise liefert man sich keineswegs ethischer Beliebigkeit aus; im Gegenteil öffnet sie uns doch erst die Augen für unsere tatsächlichen Chancen und Möglichkeiten, Grenzen und Illusionen.

Damit würde aber auch eine neue Ästhetik der Landschaftsgestaltung vorstellbar. Der manische Zwang, beispielsweise die bergbaugeschädigte, ihres pflanzlichen Kleids weitgehend beraubte Landschaft zu verbergen und sie - so schnell als möglich - unter den grünen Teppich eilig gesäten Rasens und schnell wachsender Gehölze zu kehren, entfiele. Überraschende und faszinierende Bilder einer Sukzessionslandschaft kämen ans Tageslicht, ohne Zweifel eine Attraktion und – vielleicht - ein Ausgangspunkt für dauerhaftere Gestaltungen, die der Region weitere Perspektiven eröffneten.

Solche Überlegungen gewinnen vor allem angesichts abnehmenden Stellenwerts der traditionellen urbanen Lebensformen an Bedeutung. Prozesse wie Stadtflucht und Zersiedlung der Regionen außerhalb der Ballungsräume einerseits, globaler Vernetzung durch Multimedia und Internet andererseits legen nahe, daß neue Formen sinnlicher Selbstvergewisserung die herkömmlichen Schritt für Schritt ablösen werden. In welcher Weise dies auch die Landschaftswahrnehmung betrifft, kann man nur vermuten. Möglicherweise könnte durchaus eine Orientierung weg vom Ideal des statischen Landschaftsbildes hin zum transitorischen Landschaftserleben erfolgen.

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Fotos: Christian Gutsche (Borna) Sukzessionslandschaften im Raum Borna

 

Literaturverzeichnis:

Berkner, 1993: Andreas Berkner: Der Südraum Leipzig – Braunkohlenbergbau, Grundstoffindustrie und Folgelandschaftsgestaltung im Umbruch. In: Berichte zur deutschen Landschaftskunde. Bd. 67/1993, H. 1, S. 35-53

Bräutigam, 1905: Ludwig Bräutigam: Mein Heimatbuch. Erinnerungen aus dem Stadt- u. Landkreis Borna, Ohlau 1905

Buschick/Ulbricht, 1909: Richard Buschick und Hermann Ulbricht: Die Leipziger Tieflandsbucht, Meißen 1909

Haikal/Streller, 1995: Bilderbogen einer Kulturlandschaft. In: MÖLBIS, 1995, 54-63

Hönsch, 1992: Fritz Hönsch: Der Leipziger Südraum – eine Region im Wandel. In: Geographische Rundschau. H. 19/1992, S. 592 - 599

Krause, 1924: Kurt Krause: Rund um Leipzig. Ein Führer zur Kenntnis der Heimat für alle Natur- und Wanderfreunde und für die Schule, Dresden-Wachwitz 1924

Krause, 1935 a: Leipziger Wanderbuch, II. Teil: Die nähere Umgebung von Leipzig, Dresden 1935

Krause, 1935 b: Leipziger Wanderbuch, III. Teil: Rund um Leipzig, Dresden 1935

MÖLBIS, 1995: MÖLBIS „Unsere Zukunft hat schon begonnen!" SÜDRAUMjournal 1. Herausgegeben von der Gemeinde Mölbis in Zusammenarbeit mit dem Christlichen Umweltseminar Rötha e. V. und PRO LEIPZIG e. V., Leipzig/Mölbis 1995

Nabert, 1996: Thomas Nabert: Freizeit und Erholung im Südraum Leipzig? In: Freizeit- und Erholungslandschaft Südraum Leipzig: Werte, Projekte, Visionen. SÜDRAUMjournal 2. Herausgegeben vom Christlichen Umweltseminar Rötha e. V. und PRO LEIPZIG e. V., Leipzig 1996

Petrarca, 1968: Francesco Petrarca: Dichtung und Prosa. Hrsg. von Horst Heintze, Berlin 1968

Schmidt, 1982: Arno Schmidt: Vom Grinsen des Weisen. Ausgewählte Funkessays. Hrsg. von Bernd Leistner, Leipzig und Weimar 1982

Sinkwitz, 1935: Walter Sinkwitz: Die Mitteldeutsche Braunkohlenlandschaft, Leipzig 1935

Tieck, 1983: Ludwig Tieck: Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben. In: Ders.: Die männliche Mutter und andere Liebes-, Lebens-, Scherz- und Schauergeschichten. Hrsg. von Günther de Bruyn, Berlin 1983, S. 107-136

 

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