Thema
4. Jg., Heft 2
Februar 2000

Kristine Patz

 

Transformationen eines Bergs.

Zur Verleiblichung der Erde am Beispiel des Karlsbergs (Wilhelmshöhe) bei Kassel

Die abendländische Vorstellung von der organischen Erde hatte Platon in seiner beispielhaften Zusammenstellung indischer, iranischer und griechischer Denkmuster im Timaios mit der theoretischen Begründung geprägt, daß die Existenz der Erde wie auch der Sterne der Seinsform lebendiger Wesen entsprächen. Mit diesem Werk war der Rahmen für immer neue Auslegungen der makro-mikrokosmischen Entsprechungen zwischen All, Erde und Mensch gegeben. Insbesondere das Bild der Erde als magna mater, die alles Leben gebiert und nährt, die in Analogie zum Menschenkörper aber auch siechen und verfallen kann, wurde stets variiert.

An der Repräsentation alter und neuer leibmethaporischer Sichtweisen von „Natur" waren die bildenden Künste in der frühen Neuzeit maßgeblich beteiligt. Sie kulminierte in der Gegenüberstellung von antiker Mythologie, Theologie und physikalischer Deutung.

So wurden als (nachsintflutliche) Bergbildungsfaktoren unterirdische Luft- und Feuerpressionen benannt, die vor allem im Erdgeborenen Giganten Typhon ihr mythologisches Äquivalent fanden. Seine Körperkonturen bildeten die Insel Sizilien; im Todeskampf und im Drang sich zu befreien, löst er Erdbeben und vulkanische Erscheinungen aus. Die poröse, von Höhlen und Gängen durchsetzte Gestalt des Ätna, sah man nicht nur als Voraussetzung für Erdbeben, sondern dachte sie in Analogie zu den von Blutadern durchsetzten menschlichen Körper. Von oberitalienischen Künstlern wie Bellini, Mantegna, Leonardo im Medium der Zeichnung und Malerei ende des 15. Jahrhunderts als Modell für eine theoriebedingte Landschaftsdarstellung entwickelt, finden sich prominente Beispiele vor allem in der Gartenarchitektur. So ist der riesenhaft figürliche Apennin (Pratolino, ca. 1580) Giambolognas eine Verkörperung des höchsten Gebirges Italiens, der im Innern seines Körpers zugänglich ist und bezeugt, daß Metalle und Steine in den Höhlen der Erde wachsen. Die Vorstellung vom Leibcharakter der erde ist noch Anfang des 18. Jahrhunderts präsent, als der gesamte Karlsberg (Wilhelmshöhe) bei Kassel in seiner plastischen und architektonischen Umgestaltung als ein Sieg über Typhon gefeiert wird, gleichmaßen mythologisch wie physikalisch, da es sich um einen verwitterten Vulkankegel handelt.

Dabei ist der Konflikt, ob die Natur als die eigentliche, nämlich natürliche Ordnungsmacht zu begreifen, oder das schlechthin Ungeordnete, Chaotische, Ungeheuerliche und Barbarische ist, das es zu überwinden gilt und der der Mensch seine artifizielle Ordnungssetzung entgegenzusetzen hat, das Thema des Karlsbergs (Wilhelmshöhe) bei Kassel.

Die Auseinandersetzung kulminiert in der Darstellung zweier Skulpturen mit kolossalen Ausmaßen, die aufeinander reagieren. Im Kampf mit dem Tod stößt Typhon einen schäumenden Wasserstrahl aus dem Mund, der zu schwach ist, die Grundfesten des Berges zu schütteln, und mit emporgetriebenen Lavaströmen die Felsen zu spalten. Herkules steht zeichenhaft und allgegenwärtig als Objekt, das von überall her sichtbar ist, als Monument auf der Höhe. Zugleich ist Herkules auch Subjekt (insbesondere als begehbare Skulptur), das sieht, auf Typhon, aber auch auf die Landschaft unter ihm, die er sich unterwirft und zur Einheit formt.

Über den Mythos hinaus bleibt zu fragen: konkurrieren Auftraggeber und Architekt mit den Werken der Natur, oder begreifen sie ihr Projekt als Weiterführung einer natürlichen Formation, die der Mensch vollendet und erhöht mit Hilfe von Technik und theoretischem Wissen. Im Briefwechsel zwischen Leibniz und Papin von 1704 finden sich jedenfalls eindeutige Hinweise auf die geologische Struktur im Bereich von Wilhelmshöhe. Muschelfunde am Weißenstein ließen Papin wie Leibniz auf Vulkanismus schließen, der Ätna selbst wurde als Beispiel herangezogen. Es wäre hinsichtlich der plastischen Durchformung eines ganzen Berghangs des Habichtswaldes historisch nach der Entstehung von Bergen, nach den Kräften, die die Erdmassen emporgeworfen haben, zu fragen. Spekulationen über Bergbildungsfaktoren wie erdinneres Feuer, Erdbeben, komprimierte und bewegte, unterirdische Winde hätten sich anzuschließen. Die Entstehung unterirdischer Hohlräume und Grotten wäre näher zu untersuchen, wie auch die Annahme, daß Quellen durch Erderschütterungen gleichermaßen entstehen wie versiegen können.

Dies wären jene denkbaren naturwissenschaftlichen Implikationen, die über den einfachen Mythos der Bergentstehung durch Typhon - hier als Enkelados bezeichnet - hinausgehen.

Wie verhält sich zu dieser Konzeption des mythologischen und physikalischen Giganten die Kolossalstatue des Herkules?

Herkules ist der wichtigste, widersprüchlichste und langlebigste der Heroen. Es ist die unberechenbare, wilde Seite im Charakter des Herkules, der er seine Zweideutigkeit verdankt. Sein Unmaß an Kraft macht ihn übermenschlich, seine Wutanfälle und Wahnsinnsanfälle sind hingegen nicht menschlich sondern bestialisch. Diese Widersprüchlichkeit geht bis in seine soziale Stellung: er ist der ewige Sieger und doch zugleich Sklave und Diener. Er ist Zivilisationsheros und tritt doch mit Löwenfell und Keule auf, als den primitivsten Formen der Bewaffnung und Kleidung. Seine wichtigsten Taten sind: Zähmung der Bestien, Regulierung des Wassers, Sieg über die Macht der Unterwelt, Aufnahme in den Olymp. Es geht um die Vernichtung des Unberechenbaren, Gesetzlosen, die ihn als Zivilisationsstifter hervorgehen lassen.

Der Stilisierungsprozeß des Herkules beginnt bereits in der Antike: zwischen dem mühevollem Leben des Herkules und seiner späteren Vergöttlichung wird eine Verbindung gesehen. „Herkules am Scheideweg" nannte der Sophist Prodikos seine Parabel, wo sich der junge Held vor die Wahl gestellt sieht, den breiten, bequemen Weg der Sinnenlust und des Müßiggangs zu gehen oder den steilen, schmalen Pfad der Tugend und der Mühsal zu erklimmen, der dann freilich auch zur Unsterblichkeit führt.

Diesem Weg folgt der Besucher. Mehr noch: die Pyramide und Herkulesfigur auf der Höhe des Karlsbergs (Wilhelmshöhe) waren bis in den Sockel der Keule begehbar, in dem immerhin acht Menschen Platz finden können. Somit gibt es nicht nur einen Betrachter vor, sondern auch im Koloß. Die Gefühle von Kleinheit und Erniedrigung können im Verlauf in ihr Gegenteil überführt werden: Erhebung, Schutz, Teilhabe an der Macht, eine temporäre Regression mit Ohnmachts- und Allmachtsphantasien wird vollzogen.

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