Das Konkrete und die Architektur
14. Jg., Heft 1, Oktober 2009

 

___Michael Dürfeld
Berlin
  Architektonische Konkretion als Formproblem.
Eine systemtheoretische Perspektive

 

   

Anwärter auf das Konkrete in der Architektur gibt es viele: vom Material über die Konstruktion, die Gestalt und den Gebrauch bis zur Atmosphäre. Damit ergibt sich nicht nur die Schwierigkeit, ein besonderes Konkretes zu kennzeichnen, sondern es stellt sich auch die Frage nach der Ursache für die Vielzahl unterschiedlicher Beobachtungen des Konkreten in der Architektur.

Folgt man einer zentralen zeichentheoretischen Ausgangsposition, gibt es zwei grundlegende Möglichkeiten, Zeichen als konkret zu bezeichnen: Einerseits sei das Konkrete der Zeichen das Material, aus dem ein Zeichen bestehen müsse, damit es erst wahrnehmbar wird. Bevor dem Zeichen eine Bedeutung zugewiesen werden kann, „ist es als Material unseren Sinnen ganz konkret […] erschienen“.[1] Andererseits seien Zeichen konkret, weil sie das Ergebnis eines Prozesses, eines concrescere sind:

„Das Konkrete ist das, was im Vorgang des concrescere entsteht, es ist das Verdichtete, das im Prozess der Repräsentation von Dingen und Sachverhalten als das Ergebnis von Reduktionen, Selektionsverfahren, Weglassungen etc. entsteht.“[2]

Das Zeichen ist das Konkrete, da es Verdichtung im Sinne von concretum oder concrementum ist. Wenn also Architektur entsprechend eines semiologischen Ansatzes als Zeichen betrachtet wird, muss dieses Architekturzeichen als Ergebnis einer Konkretisierung, einer Verdichtung, als concretum zu lesen sein. Wie kann man sich aber sicher sein, dass man es mit Architektur zu tun hat, der man dann eine Zeichenfunktion zurechnet? Müsste nicht vorher beobachtet werden, wie Architektur als Architektur konkret wird, bevor festgestellt werden kann, wie eine solchermaßen konkretisierte Architektur sich als Zeichen konkretisiert?

Was mich deshalb im Folgenden interessiert, ist dieser Prozess der Konkretisierung von Architektur als Architektur. Der damit vorgeschlagene Perspektivwechsel – weg von der Frage, was das Konkrete in der Architektur sei und hin zur Frage, wie Architektur konkret wird – ist also dem Konzept eines concrescere zuzuordnen, jedoch mit dem Unterschied, dass es mir nicht um die Verdichtung zu einem architektonischen Zeichen, sondern um die Verdichtung zu einer architektonischen Form geht. Mit einer solchen Fragestellung wechselt man aus einer kategorialen Sprache der Beschreibung von Phänomenen in eine operative Sprache der Suche nach deren generativen Mechanismen. Kaum eine Theorie hat sich konsequenter von Was-Fragen auf Wie-Fragen im Rahmen einer Formentheorie umgestellt als die Systemtheorie Niklas Luhmanns. Ich möchte deshalb die Frage nach dem Verhältnis des Konkreten und der Architektur zum Anlass nehmen, aus der systemtheoretischen Perspektive ein formentheoretisches Entwurfsmodell vorzustellen. Anhand eines solchen Entwurfsmodells soll die architektonische Konkretion im Rahmen eines Formbildungsprozesses beschrieben und in Folge zwischen funktionaler, konstruktiver und künstlerischer Konkretion unterschieden werden.


Systemtheorie – Zeichentheorie – Architekturtheorie

Wenn im Folgenden auf grundlegende systemtheoretische Überlegungen zurückgegriffen wird, dann geht es weniger um ein Konkurrenzverhältnis von Zeichentheorie und Systemtheorie, sondern um eine Ergänzung bzw. Grundlegung für den ganz spezifischen Beobachtungsgegenstand Architektur. Entsprechend ist im Folgenden nicht eine systemtheoretische Konzeptualisierung der Semiotik beabsichtigt; hierfür kann man auf Niklas Luhmann verweisen, der schon 1991 in seinem Vortrag Zeichen der Freiheit – oder Freiheit der Zeichen? die Normaltheorie der Semiologie in eine allgemeine Theorie des Beobachtens übersetzte und in dem im selben Jahr gehaltenen Vortrag Zeichen als Form den Begriff des Zeichens (und damit die Semiologie) einer Formanalyse unterzogen hat.[3] Der Bezug zur Zeichentheorie liegt eher auf einer Metaebene – nämlich in dem Versuch, über eine formentheoretische Konzeption der Architektur die Funktion und Stellung der Zeichentheorie in einer noch zu entwerfenden Architekturwissenschaft (neu) zu bestimmen.

Inwiefern eine solche Positionsbestimmung dazu führt, in der Architektursemiotik auch eine konzeptuelle Ressource eines Vermittlungsversuchs zwischen Systemtheorie und Architekturwissenschaft freizusetzen, bleibt abzuwarten – zumal das Verhältnis von Architekturtheorie und Systemtheorie eher als problematisch zu kennzeichnen ist. Zeigten die Forschungen zu einer Architektursemiotik in den späten 1960er und frühen 70er Jahren noch keinerlei Berührungsängste zur allgemeinen Systemtheorie,[4] so waren sie doch schon mit Ende der 70er Jahre als rationalistische Planungstheorie im Auftrag eines architektonischen Bau-Funktionalismus diskreditiert. Die zweite und damit spezifisch Luhmann’sche Ebene der Gesellschaftsanalyse – die Theorie sozialer Systeme – ist in der Architektur entsprechend lange Zeit nicht wahrgenommen worden. Das hat vielfältige Gründe und mag gerade in Bezug auf eine Rezeption der Schriften Niklas Luhmanns nachvollziehbar sein, da dieser kaum einen Bezug zur Architektur herstellte und sie erst 1995 in seiner Monografie über die Kunst der Gesellschaft ganz am Rande gestreift hat.[5]

Andererseits lag schon 1990 mit dem Aufsatz des Soziologen und Systemtheoretikers Dirk Baecker, Die Dekonstruktion der Box – Innen und Außen in der Architektur, ein fundierter Versuch vor, die Architektur einer formentheoretischen bzw. medientheoretischen Untersuchung zu unterziehen. Die folgende Skizze eines formentheoretischen Architekturmodells orientiert sich explizit an dieser frühesten systemtheoretischen Auseinandersetzung mit der Architektur. Mit dieser Referenz ist gleichzeitig die Entscheidung verbunden, im Folgenden Architektur als Technik[6] zu verstehen. Ob und unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen Architektur als Teil des Kunstsystems[7] oder als eigenständiges, soziales System[8] beobachtbar ist, kann im Rahmen dieser Untersuchung zurückgestellt werden. Auch geht es hier weder um eine Exegese des vielschichtigen und dichten Aufsatzes von Dirk Baecker, noch werden dessen jüngere Überlegungen zur Architektur und Stadt weiter thematisiert.[9] Das Vorhaben ist rein strategischer Natur und konzentriert sich auf das Herausarbeiten einer formentheoretischen Konzeption der architektonischen Konkretion.


Innen – Außen

Entsprechend einer beobachtungstheoretischen Prämisse erfolgt eine systemtheoretische Annäherung an die Architektur nicht über eine Beobachtung der Bauwerke, sondern über eine Beobachtung der Beobachter von Architektur. Sie konzentriert sich auf eine Untersuchung der Kommunikation über Architektur, d. h. sie beobachtet die Reflexionstheorie der Architektur – die Architekturtheorie. Und entsprechend einer differenztheoretischen Prämisse zielt die Beobachtung der Beobachter der Architektur dabei nicht darauf ab, ein bestimmtes Wesen, eine Idee oder einen architektonischen Leitgedanken ausfindig zu machen, sondern nach einer Unterscheidung zu suchen, „die getroffen werden muss, damit Architektur sich ereignet, und die zu konstituieren erlaubt, was als Architektur konstruiert wird und worüber als Architektur kommuniziert wird“.[10]

Dirk Baecker nun sieht in der Unterscheidung von Innen und Außen die zentrale Unterscheidung, die als Unterscheidung sowohl in der Hinsicht der Konstruktion von Architektur, wie auch in der Hinsicht der Kommunikation über Architektur konstituierend ist:

„Wie auch immer Architektur entworfen, dargestellt, benutzt und bewohnt werden mag, man weiß nur, daß es sich um Architektur handelt, wenn man hineingehen und wieder herauskommen kann und wenn sich bei diesem Hineingehen-und-wieder-herauskommen-Können die Verhältnisse ändern, das heißt drinnen anderes geschieht und erwartet werden kann als draußen.“[11]

Daraus folgt aber ein Grundproblem, denn wenn die Unterscheidung von Innen und Außen als konstitutiv für die Architektur gedacht würde, müsste die Architektur selbst als Einheit der Differenz von Innen und Außen gedacht werden können, aber „nur im Nacheinander kann man drinnen und draußen sein, kann man das Drinnen oder das Draußen entwerfen, und das Nacheinander setzt die Zeit an die Stelle der Welt“.[12] Das Dilemma der Architekturtheorie bestand nun gerade darin, die Einheit der Differenz von Innen und Außen nicht denken zu können. Anstelle der Unterscheidung von Innen/Außen wurden andere Unterscheidungen gesetzt, wie die von privat/öffentlich, oben/unten, vorher/nachher; und um sich die Einheit des Entwerfens vorzustellen, bildeten die Architekten durch Grundriss und Detail die Möglichkeit heraus, Außen und Innen sequentiell, d. h. durch Inanspruchnahme von Zeit, zu bearbeiten. Die Wand als Abschirmung setzt die Unterscheidung von Innen und Außen. Als diese Setzung ist sie die Einheit der Unterscheidung:

„Sobald es um eine Abschirmung geht, die Innen und Außen trennt, geht es um Architektur, was auch immer diese Architektur bezwecken, welches Material auch immer verwendet sein und wie auch immer sie aussehen mag. Die Abschirmung ist es, die der Architektur ihre elementare Form gibt.“[13]

Den entscheidenden historischen Wendepunkt sieht Dirk Baecker in der Moderne kommen, hier besonders beim Architekten Frank Lloyd Wright und dessen Destruction of the box. Bei dieser Destruction treten die Wände und Decken auseinander und werden in eine neue Konstellation gebracht. Kurz bevor sie wieder zusammengesetzt werden, zeigen sie sich als eigenständige Grundelemente der Architektur. Hier wäre natürlich aus architekturtheoretischer Sicht zu fragen, ob Wrights Destruction of the Box als Zäsur für die Erkenntnis, dass die Wand als das basale Element der Architektur fungiert, tauglich ist; oder ob nicht schon in früheren Architekturkonzeptionen die Abschirmung als zentrales Element und als zentrale Operation thematisiert wurde. Es wäre auf jeden Fall an August Schmarsow zu erinnern, der einerseits Sempers vier Elemente der Baukunst auf eines – nämlich die Wand – reduzierte und andererseits Alois Riegls Architekturmodell des geschlossen Einraums öffnete. Von hier aus müsste der Blick in die 1960er und 70er Jahre gerichtet werden, denn erst dort wird das Potential der Destruction of the box fruchtbar gemacht.
Eine interessante Forschungsaufgabe bestünde also darin, herauszuarbeiten, wie die Thematisierung der Differenz von Innen/Außen bzw. der Wand als zentrales Element der Architektur zur Grundlage unterschiedlichster Architekturkonzeptionen wird. Zu erinnern wäre dabei an die eher strukturalistischen Architekturkonzeptionen einer Philosophie der Türschwelle der Smithsons (1953) und eines Gestalt gewordenen Zwischen bei Aldo van Eyck (1959). Venturi wird 1966 in seinem Buch Komplexität und Widerspruch in der Architektur ein zentrales Kapitel nur der Differenz von Innen und Außen widmen und zusammenfassend die Wand als architektonisches Ereignis betiteln. Rem Koolhaas wird schließlich noch während seines Architekturstudiums an der AA School of Architecture 1971 die befreiende Potentialität der Abschirmung in Form der Berliner Mauer entdecken. In dieser befreienden Potentialität sieht Koolhaas die Abschirmung als die eigentliche architektonische Strategie:

“Were not division, enclosure (i.e. imprisonment), and exclusion – which defined the wall’s performance and explained its efficiency – the essential stratagems of any architecture?”[14] 

Diese Hinweise sollen genügen, um zu verdeutlichen, dass es sich bei der Frage nach dem Zeitpunkt der Thematisierung der Wand als dem zentralen Element der Architektur um eine komplexe aber interessante Forschungsaufgabe handelt. Im Rahmen dieses Aufsatzes soll auf eine solche historische Betrachtung verzichtet werden und eine Konzentration auf strukturelle Aspekte geschehen.


Medium – Form

Um den architektonischen Entwurfsprozess als einen Formbildungsprozess näher zu beschreiben, muss auf die medientheoretische Konstruktion des Formbegriffs zurückgegriffen werden. Dieser Formbegriff unterscheidet sich grundlegend von traditionellen Formbegriffen, da Form weder von Materie noch von Inhalt, sondern von Medium unterschieden wird. Die Unterscheidung Medium/Form bezieht sich auf den Aufsatz Ding und Medium (1926) des Psychologen Fritz Heider.[15] Die Systemtheorie hat diese Gedanken aufgenommen und weiterentwickelt, um die für jede dingorientierte Ontologie zentrale Leitunterscheidung Substanz/Akzidenz oder Ding/Eigenschaft zu ersetzen.[16] Als Medium wird eine lose verknüpfte Menge von Elementen verstanden, die eine Mehrzahl von Verbindungen untereinander eingehen können. Werden die Elemente zu einer solchen Verbindung fest gekoppelt, spricht man von einer Form. Dabei verweist der Begriff der Elemente nicht auf naturale Konstanten, sondern auf Einheiten, die von einem Beobachter konstruiert, d. h. unterschieden werden, wie zum Beispiel die Worte in einem Text. Der Text kann dementsprechend als eine Form im Medium der Wörter betrachtet werden. Das einzelne Wort wäre demnach ein Element und das Medium des Textes besteht aus der Vielzahl von Worten. Die Aussage des Textes wird durch die Auswahl und spezifische Kopplung der Worte erreicht.

Folgt man dieser medientheoretischen Konzeption, ist das basale Element der Architektur die Abschirmung. Das Medium der Architektur wird durch die Mannigfaltigkeit aller möglichen Abschirmungen gebildet: Architektur ist Formbildung im Medium der Abschirmungen. Abschirmungen setzen die Differenz von Innen und Außen und sind deshalb nicht mit der Herstellung von Geschlossenheit zu verwechseln. Das Außen muss auch weiterhin erreichbar bleiben, d. h. das Innen auch verlassen werden können. Die Abschirmung beinhaltet also nicht nur das Schließen, sondern auch immer ihren Gegenpart, das Öffnen. Diese Anforderungen an die Abschirmung weisen darauf hin, dass erst Konstruktionselemente, die als Schließung oder Öffnung im Kontext einer Abschirmung Verwendung finden können, das Medium der Architektur darstellen. Bezogen auf das vorherige Beispiel, können also die abschirmenden Konstruktionselemente in der Architektur wie die Worte im Medium der Sprache betrachtet werden: Der Architekt wählt aus der Vielzahl möglicher Abschirmungen einige bestimmte heraus und verdichtet sie zu einer Form.

Wie sieht nun die Verdichtung zu einer Form aus? Was macht der Architekt, wenn er eine lose Kopplung in eine feste Kopplung überführt, wenn er eine Form in einem Medium hervorbringt, d. h. wenn er entwirft? Nach Klärung dessen, was aus medientheoretischer Sicht als Element, Medium und Form in der Architektur zu bezeichnen ist, kann der Formbildungsprozess als ein zweistufiger Selektionsprozess beschrieben werden. Bei der ersten Stufe handelt es sich um das Hin- und Herwechseln zwischen Schließung und Öffnung. Dieser Akt beschreibt die Selbstreferenz der Architektur.
Die zweite Stufe begreift Dirk Baecker unter dem Begriff der Konditionierung. Unter der Konditionierung der Selektionsvorgänge beim Formbildungsprozess der Architektur werden alle Möglichkeiten verstanden, den Umgang mit der Selbstreferenz der Architektur, also mit der Formbildung im Medium der Abschirmungen, an Fremdreferenzen zu binden. So lassen sich verschiedene Formen der Konditionierung unterscheiden: Konditionierung durch Verweis auf Funktionalität, auf Solidität und auf Plastizität.[17] Bei der Konditionierung der Architektur durch den Verweis auf Funktionalität geht es um die Frage, welche Zwecke ein Gebäude, ein Stadtgebiet oder eine ganze Stadt jeweils erfüllen soll. Es geht um „die soziale Anbindung der Architektur an die Verwendungsweisen, die in der Gesellschaft von ihr erwartet werden“.[18] Unter der Konditionierung der Architektur durch den Verweis auf Solidität fallen alle Arten der handwerklich-technischen Ausgestaltung von Abschirmungen, die mit Problemen der Baukonstruktion, der Baustatik und des Umgangs mit Materialien zu tun haben. Die Konditionierung der Architektur durch Plastizität schließlich betrifft „die Art und Weise, wie sie sich im Raum, und zwar künstlerisch, darstellt“.[19] Hier geht es u. a. um die Wahrnehmung von Architektur.


Codierung – Konkretisierung

Wie dieses hier skizzierte Modell für die Frage nach dem Konkreten und der Architektur einen interessanten Beitrag leisten kann wird spätestens deutlich, wenn man es mit einer anderen Begrifflichkeit interpretiert, d. h. eine andere Bezeichnung vornimmt: Zum einen möchte ich die Konditionierung als Konkretisierung und das Hin und Herwechseln von Schließung und Öffnung als Codierung bezeichnen. Der architektonische Entwurfsprozess kann so als ein zweistufiger Selektionsprozess von Codierung und Konkretisierung beobachtet werden. Während mit der Codierung sichergestellt wird, dass es sich um Architektur handelt, gibt die Konkretisierung Kriterien an die Hand, wie etwas geschlossen und geöffnet werden soll. Architektur spezifiziert sich mit Hilfe der Differenz von Codierung und Konkretisierung.[20]

Aus diesem Zusammenspiel von Codierung und Konkretisierung wird nun deutlich, warum es so viele Anwärter auf das Konkrete in der Architektur gibt: Da allein die Codierung sicherstellt, dass es sich um Architektur handelt, kann als Konkretisierung alles herangezogen werden. Deshalb macht es keinen Sinn von dem Konkreten in der Architektur zu sprechen, sondern von verschiedenen Konkretisierungen. Um einen Überblick zu gewinnen, hat die Architekturtheorie verschiedene Kategorien oder Typen konstruiert. Die älteste Kategorisierung findet man natürlich in den drei vitruvianischen Kategorien utilitas, firmitas und venustas. Entsprechend wird hier zwischen funktionaler, konstruktiver und künstlerischer Konkretisierung unterschieden. Innerhalb der künstlerischen Konkretisierungs-Kategorie ließen sich weitere Unterteilungen finden, z. B. für das 19. Jahrhundert entlang von Stilen. Für heutige Verhältnisse muss man sich die Konkretisierungen des architektonischen Codes als Entwurfsstrategien vorstellen. Entwurfsstrategien sind als Konkretisierungsstrategien zu verstehen. Sie funktionieren im Sinne eines concrescere, eines Selektionsverfahrens: Wenn der Entwerfer sich für eine Strategie entschieden hat, ist nicht mehr alles möglich, der Raum möglicher Entwurfsentscheidungen ist eingeschränkt. In der Kategorie der künstlerischen Konkretisierungen kann man dann zum Beispiel genauer zwischen minimalistischen, konzeptuellen oder pop-artistischen Konkretisierungen unterscheiden. Die architektonische Konkretisierung ist jedoch nicht nur plural, sondern auch egalitär. Strukturell betrachtet gibt es keinen Konkretisierungstyp mit einer privilegierten Position innerhalb der Vielzahl von Konkretisierungen. Alle so genannten Leitideen wie der Raum, die Funktion, die Konstruktion, das Material sind deshalb als Konstruktionen zu beobachten, die eine Hierarchisierung in die a priori egalitären Konkretisierungen einbauen. Da der binäre Code historisch invariabel ist, sind es die Konkretisierungen, die ihn mit einer historischen Variabilität ausstatten. Anders formuliert: Der Code kann auf unterschiedlicher Art und Weise konkretisiert werden, je nachdem welche Prioritäten in einer bestimmten Zeit eine Rolle spielen. Indem sich die Architektur an wechselnde Gegebenheiten, die sich in der Gesellschaft, der Technik und der Kunst vollziehen, anpassen kann, wird Architektur selbst zu einem Medium. Das bedeutet, dass man an der Architektur den jeweiligen Stand der Gesellschaft, der Technik und der Ästhetik ablesen kann. Es ist die Architektursemiotik, die als Wissenschaftsdisziplin dieses Lesen zu ihrer Aufgabe gemacht hat. Sie unternimmt die Lektüre der Architektur im Hinblick auf ihre Konkretisierungen.

Diese kurze Skizze zeigt, wie mittels eines formentheoretischen Entwurfsmodells der architektonische Entwurfsprozess analytisch sauber in Codierung und Konkretisierung getrennt werden kann. Erst durch diese Verfeinerung des analytischen Instrumentariums erweist sich, dass das Konkrete der Architektur nur als plurales, egalitäres und variables Phänomen in Erscheinung treten kann.


 




Literatur:

Baecker, Dirk: Die Dekonstruktion der Box – Innen und Außen in der Architektur, in: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, hg. von Niklas Luhmann, Frederick D. Bunsen, Dirk Baecker, Bielefeld 1990, S. 67-104.

Baecker, Dirk: Platon, oder die Form der Stadt, in: Wozu Soziologie?, Berlin 2004a, S. 189-212.

Baecker, Dirk: Fraktaler Raum, in: Wozu Soziologie?, Berlin 2004b, S. 215-235.

Baecker, Dirk: Am Anfang war das Dach, in: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt/M. 2007, S. 73-80.

Brauns, Jörg (Hg.): Form und Medium, Weimar 2002.

Dreyer, Claus: Semiotische Grundlagen der Architekturästhetik, Stuttgart 1979.

Dürfeld, Michael: Das Ornamentale und die architektonische Form. Systemtheoretische Irritationen, Bielefeld 2008.

Heidingsfelder, Markus; Tesch, Min: Rem Koolhaas – A Kind of Architect, DVD, Absolut Medien 2007.

Krüger, Reinhard: Aufruf: Das Konkrete als Zeichen, in: Katalog zum 12. internationalen Kongress der deutschen Gesellschaft für Semiotik, Stuttgart 2008.

Lippuner, Roland: Objekte und Stellen. Eine systemtheoretische Interpretation von Raum und Architektur, in: Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok, 12. Jg., H. 2, Dezember 2008;
/journal1996-2013/inhalt/de/heft/ausgaben/207/Lippuner/lippuner.php (Stand 23.06.2009).

Luhmann, Niklas: Zeichen der Freiheit – oder Freiheit der Zeichen?, in: Zeichen der Freiheit, hg. von Gerhard Johann Lischka, Bern 1992, S. 54-77.

Luhmann, Niklas: Zeichen als Form, in: Probleme der Form, hg. von Dirk Baecker, Frankfurt/M. 1993, S. 45-69.

Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995.

Lampugnani, Vittorio Magnago: Ästhetische Grundlagen der architektonischen Sprache, Stuttgart 1977.



 




Anmerkungen:

[1] Krüger 2008, S. 11.

[2] Ebd.

[3] Vgl. Luhmann 1992 und 1993.

[4] Vgl. Lampugnani 1977 und Dreyer 1979.

[5] Für eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Architektur und Systemtheorie und einer Möglichkeit, die Architekturtheorie mit der Systemtheorie über das Scharnier des luhmannschen Ornamentbegriffs in Bezug zu bringen, vgl. Dürfeld 2008.

[6] Vgl. dazu auch das Gespräch „Mechanismus“ zwischen Rem Koolhaas und Dirk Baecker, in: Heidingsfelder, Tesch 2007.

[7] Vgl. Luhmann 1995.

[8] Vgl. Lippuner 2008.

[9] Vgl. Baecker 2004a, 2004b und 2007.

[10] Baecker 1990, S. 82.

[11] Ebd., S. 83.

[12] Ebd., S. 85.

[13] Ebd., S. 90.

[14] Koolhaas 1997, S. 226. Bei Koolhaas erwächst aus dieser Erkenntnis geradezu eine Faszination für die Mauer: “The wall was heartbreakingly beautiful.

[15] Vgl. Heider 2005.

[16] Zur Auseinandersetzung mit dem Medienbegriff bei Fritz Heider und der Adaption durch Niklas Luhmann vgl. Brauns 2002.

[17] Zusätzlich führt Dirk Baecker mit dem Verweis auf den menschlichen Maßstab eine vierte Konditionierung ein. Dieser Hinweis sei notwendig, „um die Abschirmungen der Architektur von anderen Setzungen der Innen/Außen-Differenz im Medium des Raumes unterscheiden zu können, etwa von Schränken, Futteralen und Kassetten einerseits oder vom Ozonschirm und von militärischen Abwehrschirmen andererseits [...]“ (Baecker 1990, S. 102). Ich schlage stattdessen vor, den menschlichen Maßstab nicht als Konditionierung, sondern als ein symbiotisches Symbol zu verstehen. Als solches ist es im Rahmen eines symbiotischen Mechanismus’ ein Absicherungs- oder Kontrollmechanismus, der aspekthaft Momente von Körperlichkeit aufgreift und damit auch dem völlig abstrakt operierenden Funktionssystem einen Realitätsbezug sicherstellt.

[18] Baecker 1990, S. 98.

[19] Ebd., S. 100.

[20] An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass der Begriff Codierung hier in einem systemtheoretischen und nicht in einem semiotischen Sinne verwendet wird: Während in der Semiotik unter einem Code eine ganze Sammlung von Kommunikationskonventionen, Regeln und Beschränkungen verstanden wird, bezeichnet der Code im systemtheoretischen Sinn einen streng binären Schematismus, der nur zwei Werte kennt und auf der Ebene der Codierung dritte Werte ausschließt. Des Weiteren ist auch kurz anzumerken, dass die Systemtheorie die Unterscheidung Codierung/Konkretisierung – dann meist unter der Firmierung von Codierung/Programmierung – als Mechanismus benutzt, um die Autopoiesis von sozialen Systemen zu beschreiben. An dieser Stelle müsste die hier anvisierte formentheoretische Untersuchung zu einer systemtheoretischen ausgeweitet werden.

 


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