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Anwärter auf das
Konkrete in der Architektur gibt es viele: vom Material über die
Konstruktion, die Gestalt und den Gebrauch bis zur Atmosphäre. Damit ergibt
sich nicht nur die Schwierigkeit, ein besonderes Konkretes zu kennzeichnen,
sondern es stellt sich auch die Frage nach der Ursache für die Vielzahl
unterschiedlicher Beobachtungen des Konkreten in der Architektur.
Folgt man einer zentralen zeichentheoretischen Ausgangsposition, gibt es
zwei grundlegende Möglichkeiten, Zeichen als konkret zu bezeichnen:
Einerseits sei das Konkrete der Zeichen das Material, aus dem ein Zeichen
bestehen müsse, damit es erst wahrnehmbar wird. Bevor dem Zeichen eine
Bedeutung zugewiesen werden kann, „ist es als Material unseren Sinnen
ganz konkret […] erschienen“.[1]
Andererseits seien Zeichen konkret, weil sie das Ergebnis eines Prozesses,
eines concrescere sind:
„Das
Konkrete ist das, was im Vorgang des concrescere entsteht, es ist das
Verdichtete, das im Prozess der Repräsentation von Dingen und Sachverhalten
als das Ergebnis von Reduktionen, Selektionsverfahren, Weglassungen etc.
entsteht.“[2]
Das Zeichen ist das
Konkrete, da es Verdichtung im Sinne von concretum oder
concrementum ist. Wenn also Architektur entsprechend eines
semiologischen Ansatzes als Zeichen betrachtet wird, muss dieses
Architekturzeichen als Ergebnis einer Konkretisierung, einer Verdichtung,
als concretum zu lesen sein. Wie kann man sich aber sicher sein, dass
man es mit Architektur zu tun hat, der man dann eine Zeichenfunktion
zurechnet? Müsste nicht vorher beobachtet werden, wie Architektur als
Architektur konkret wird, bevor festgestellt werden kann, wie eine
solchermaßen konkretisierte Architektur sich als Zeichen konkretisiert?
Was mich deshalb im Folgenden interessiert, ist dieser Prozess der
Konkretisierung von Architektur als Architektur. Der damit vorgeschlagene
Perspektivwechsel – weg von der Frage, was das Konkrete in der Architektur
sei und hin zur Frage, wie Architektur konkret wird – ist also dem Konzept
eines concrescere zuzuordnen, jedoch mit dem Unterschied, dass es mir
nicht um die Verdichtung zu einem architektonischen Zeichen, sondern
um die Verdichtung zu einer architektonischen Form geht. Mit einer
solchen Fragestellung wechselt man aus einer kategorialen Sprache der
Beschreibung von Phänomenen in eine operative Sprache der Suche nach deren
generativen Mechanismen. Kaum eine Theorie hat sich konsequenter von
Was-Fragen auf Wie-Fragen im Rahmen einer Formentheorie umgestellt als die
Systemtheorie Niklas Luhmanns. Ich möchte deshalb die Frage nach dem
Verhältnis des Konkreten und der Architektur zum Anlass nehmen, aus der
systemtheoretischen Perspektive ein formentheoretisches Entwurfsmodell
vorzustellen. Anhand eines solchen Entwurfsmodells soll die architektonische
Konkretion im Rahmen eines Formbildungsprozesses beschrieben und in Folge
zwischen funktionaler, konstruktiver und künstlerischer Konkretion
unterschieden werden.
Systemtheorie – Zeichentheorie – Architekturtheorie
Wenn im Folgenden auf grundlegende systemtheoretische Überlegungen
zurückgegriffen wird, dann geht es weniger um ein Konkurrenzverhältnis von
Zeichentheorie und Systemtheorie, sondern um eine Ergänzung bzw. Grundlegung
für den ganz spezifischen Beobachtungsgegenstand Architektur. Entsprechend
ist im Folgenden nicht eine systemtheoretische Konzeptualisierung der
Semiotik beabsichtigt; hierfür kann man auf Niklas Luhmann verweisen, der
schon 1991 in seinem Vortrag Zeichen der Freiheit – oder Freiheit der
Zeichen? die Normaltheorie der Semiologie in eine allgemeine Theorie des
Beobachtens übersetzte und in dem im selben Jahr gehaltenen Vortrag
Zeichen als Form den Begriff des Zeichens (und damit die Semiologie)
einer Formanalyse unterzogen hat.[3]
Der Bezug zur Zeichentheorie liegt eher auf einer Metaebene – nämlich in dem
Versuch, über eine formentheoretische Konzeption der Architektur die
Funktion und Stellung der Zeichentheorie in einer noch zu entwerfenden
Architekturwissenschaft (neu) zu bestimmen.
Inwiefern eine solche Positionsbestimmung dazu führt, in der
Architektursemiotik auch eine konzeptuelle Ressource eines
Vermittlungsversuchs zwischen Systemtheorie und Architekturwissenschaft
freizusetzen, bleibt abzuwarten – zumal das Verhältnis von
Architekturtheorie und Systemtheorie eher als problematisch zu kennzeichnen
ist. Zeigten die Forschungen zu einer Architektursemiotik in den späten
1960er und frühen 70er Jahren noch keinerlei Berührungsängste zur
allgemeinen Systemtheorie,[4]
so waren sie doch schon mit Ende der 70er Jahre als rationalistische
Planungstheorie im Auftrag eines architektonischen Bau-Funktionalismus
diskreditiert. Die zweite und damit spezifisch Luhmann’sche Ebene der
Gesellschaftsanalyse – die Theorie sozialer Systeme – ist in der
Architektur entsprechend lange Zeit nicht wahrgenommen worden. Das hat
vielfältige Gründe und mag gerade in Bezug auf eine Rezeption der Schriften
Niklas Luhmanns nachvollziehbar sein, da dieser kaum einen Bezug zur
Architektur herstellte und sie erst 1995 in seiner Monografie über die Kunst
der Gesellschaft ganz am Rande gestreift hat.[5]
Andererseits lag schon 1990 mit dem Aufsatz des Soziologen und
Systemtheoretikers Dirk Baecker, Die Dekonstruktion der Box – Innen und
Außen in der Architektur, ein fundierter Versuch vor, die Architektur
einer formentheoretischen bzw. medientheoretischen Untersuchung zu
unterziehen. Die folgende Skizze eines formentheoretischen
Architekturmodells orientiert sich explizit an dieser frühesten
systemtheoretischen Auseinandersetzung mit der Architektur. Mit dieser
Referenz ist gleichzeitig die Entscheidung verbunden, im Folgenden
Architektur als Technik[6]
zu verstehen. Ob und unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen
Architektur als Teil des Kunstsystems[7]
oder als eigenständiges, soziales System[8]
beobachtbar ist, kann im Rahmen dieser Untersuchung zurückgestellt werden.
Auch geht es hier weder um eine Exegese des vielschichtigen und dichten
Aufsatzes von Dirk Baecker, noch werden dessen jüngere Überlegungen zur
Architektur und Stadt weiter thematisiert.[9]
Das Vorhaben ist rein strategischer Natur und konzentriert sich auf das
Herausarbeiten einer formentheoretischen Konzeption der architektonischen
Konkretion.
Innen – Außen
Entsprechend einer beobachtungstheoretischen Prämisse erfolgt eine
systemtheoretische Annäherung an die Architektur nicht über eine Beobachtung
der Bauwerke, sondern über eine Beobachtung der Beobachter von Architektur.
Sie konzentriert sich auf eine Untersuchung der Kommunikation über
Architektur, d. h. sie beobachtet die Reflexionstheorie der Architektur –
die Architekturtheorie. Und entsprechend einer differenztheoretischen
Prämisse zielt die Beobachtung der Beobachter der Architektur dabei nicht
darauf ab, ein bestimmtes Wesen, eine Idee oder einen architektonischen
Leitgedanken ausfindig zu machen, sondern nach einer Unterscheidung
zu suchen, „die getroffen werden muss, damit Architektur sich ereignet,
und die zu konstituieren erlaubt, was als Architektur konstruiert wird und
worüber als Architektur kommuniziert wird“.[10]
Dirk Baecker nun sieht in der Unterscheidung von Innen und Außen die
zentrale Unterscheidung, die als Unterscheidung sowohl in der
Hinsicht der Konstruktion von Architektur, wie auch in der Hinsicht der
Kommunikation über Architektur konstituierend ist:
„Wie
auch immer Architektur entworfen, dargestellt, benutzt und bewohnt werden
mag, man weiß nur, daß es sich um Architektur handelt, wenn man hineingehen
und wieder herauskommen kann und wenn sich bei diesem
Hineingehen-und-wieder-herauskommen-Können die Verhältnisse ändern, das
heißt drinnen anderes geschieht und erwartet werden kann als draußen.“[11]
Daraus folgt aber ein
Grundproblem, denn wenn die Unterscheidung von Innen und Außen als
konstitutiv für die Architektur gedacht würde, müsste die Architektur selbst
als Einheit der Differenz von Innen und Außen gedacht werden können, aber
„nur im Nacheinander kann man drinnen und draußen sein, kann man das Drinnen
oder das Draußen entwerfen, und das Nacheinander setzt die Zeit an die
Stelle der Welt“.[12]
Das Dilemma der Architekturtheorie bestand nun gerade darin, die Einheit der
Differenz von Innen und Außen nicht denken zu können. Anstelle der
Unterscheidung von Innen/Außen wurden andere Unterscheidungen gesetzt, wie
die von privat/öffentlich, oben/unten, vorher/nachher; und um sich die
Einheit des Entwerfens vorzustellen, bildeten die Architekten durch
Grundriss und Detail die Möglichkeit heraus, Außen und Innen sequentiell, d.
h. durch Inanspruchnahme von Zeit, zu bearbeiten. Die Wand als Abschirmung
setzt die Unterscheidung von Innen und Außen. Als diese Setzung ist sie
die Einheit der Unterscheidung:
„Sobald
es um eine Abschirmung geht, die Innen und Außen trennt, geht es um
Architektur, was auch immer diese Architektur bezwecken, welches Material
auch immer verwendet sein und wie auch immer sie aussehen mag. Die
Abschirmung ist es, die der Architektur ihre elementare Form gibt.“[13]
Den entscheidenden historischen Wendepunkt sieht Dirk Baecker in der Moderne
kommen, hier besonders beim Architekten Frank Lloyd Wright und dessen
Destruction of the box. Bei dieser
Destruction
treten die
Wände und Decken auseinander und werden in eine neue Konstellation gebracht.
Kurz bevor sie wieder zusammengesetzt werden, zeigen sie sich als
eigenständige Grundelemente der Architektur. Hier wäre natürlich aus
architekturtheoretischer Sicht zu fragen, ob Wrights Destruction of the
Box als Zäsur für die Erkenntnis, dass die Wand als das basale Element
der Architektur fungiert, tauglich ist; oder ob nicht schon in früheren
Architekturkonzeptionen die Abschirmung als zentrales Element und als
zentrale Operation thematisiert wurde. Es wäre auf jeden Fall an August
Schmarsow zu erinnern, der einerseits Sempers vier Elemente der Baukunst auf
eines – nämlich die Wand – reduzierte und andererseits Alois Riegls
Architekturmodell des geschlossen Einraums öffnete. Von hier aus müsste der
Blick in die 1960er und 70er Jahre gerichtet werden, denn erst dort wird das
Potential der Destruction of the box fruchtbar gemacht.
Eine interessante Forschungsaufgabe bestünde also darin, herauszuarbeiten,
wie die Thematisierung der Differenz von Innen/Außen bzw. der Wand als
zentrales Element der Architektur zur Grundlage unterschiedlichster
Architekturkonzeptionen wird. Zu erinnern wäre dabei an die eher
strukturalistischen Architekturkonzeptionen einer Philosophie der
Türschwelle der Smithsons (1953) und eines Gestalt gewordenen
Zwischen bei Aldo van Eyck (1959). Venturi wird 1966 in seinem Buch
Komplexität und Widerspruch in der Architektur ein zentrales Kapitel nur
der Differenz von Innen und Außen widmen und zusammenfassend die Wand als
architektonisches Ereignis betiteln. Rem Koolhaas wird schließlich noch
während seines Architekturstudiums an der AA School of Architecture 1971 die
befreiende Potentialität der Abschirmung in Form der Berliner Mauer
entdecken. In dieser befreienden Potentialität sieht Koolhaas die
Abschirmung als die eigentliche architektonische Strategie:
“Were not
division, enclosure (i.e. imprisonment), and exclusion – which defined the
wall’s performance and explained its efficiency – the essential stratagems
of any architecture?”[14]
Diese Hinweise sollen
genügen, um zu verdeutlichen, dass es sich bei der Frage nach dem Zeitpunkt
der Thematisierung der Wand als dem zentralen Element der Architektur um
eine komplexe aber interessante Forschungsaufgabe handelt. Im Rahmen dieses
Aufsatzes soll auf eine solche historische Betrachtung verzichtet werden und
eine Konzentration auf strukturelle Aspekte geschehen.
Medium – Form
Um den architektonischen Entwurfsprozess als einen Formbildungsprozess
näher zu beschreiben, muss auf die medientheoretische Konstruktion des
Formbegriffs zurückgegriffen werden. Dieser Formbegriff unterscheidet sich
grundlegend von traditionellen Formbegriffen, da Form weder von
Materie noch von Inhalt, sondern von Medium unterschieden
wird. Die Unterscheidung Medium/Form bezieht sich auf den Aufsatz Ding
und Medium (1926) des Psychologen Fritz Heider.[15]
Die Systemtheorie hat diese Gedanken aufgenommen und weiterentwickelt, um
die für jede dingorientierte Ontologie zentrale Leitunterscheidung
Substanz/Akzidenz oder Ding/Eigenschaft zu ersetzen.[16]
Als Medium wird eine lose verknüpfte Menge von Elementen verstanden, die
eine Mehrzahl von Verbindungen untereinander eingehen können. Werden die
Elemente zu einer solchen Verbindung fest gekoppelt, spricht man von einer
Form. Dabei verweist der Begriff der Elemente nicht auf naturale Konstanten,
sondern auf Einheiten, die von einem Beobachter konstruiert, d. h.
unterschieden werden, wie zum Beispiel die Worte in einem Text. Der Text
kann dementsprechend als eine Form im Medium der Wörter betrachtet werden.
Das einzelne Wort wäre demnach ein Element und das Medium des Textes besteht
aus der Vielzahl von Worten. Die Aussage des Textes wird durch die Auswahl
und spezifische Kopplung der Worte erreicht.
Folgt man dieser medientheoretischen Konzeption, ist das basale Element der
Architektur die Abschirmung. Das Medium der Architektur wird durch die
Mannigfaltigkeit aller möglichen Abschirmungen gebildet: Architektur ist
Formbildung im Medium der Abschirmungen. Abschirmungen setzen die
Differenz von Innen und Außen und sind deshalb nicht mit der Herstellung
von Geschlossenheit zu verwechseln. Das Außen muss auch weiterhin erreichbar
bleiben, d. h. das Innen auch verlassen werden können. Die Abschirmung
beinhaltet also nicht nur das Schließen, sondern auch immer ihren Gegenpart,
das Öffnen. Diese Anforderungen an die Abschirmung weisen darauf hin, dass
erst Konstruktionselemente, die als Schließung oder Öffnung im Kontext einer
Abschirmung Verwendung finden können, das Medium der Architektur darstellen.
Bezogen auf das vorherige Beispiel, können also die abschirmenden
Konstruktionselemente in der Architektur wie die Worte im Medium der Sprache
betrachtet werden: Der Architekt wählt aus der Vielzahl möglicher
Abschirmungen einige bestimmte heraus und verdichtet sie zu einer Form.
Wie sieht nun die Verdichtung zu einer Form aus? Was macht der Architekt,
wenn er eine lose Kopplung in eine feste Kopplung überführt, wenn er eine
Form in einem Medium hervorbringt, d. h. wenn er entwirft? Nach Klärung
dessen, was aus medientheoretischer Sicht als Element, Medium und Form in
der Architektur zu bezeichnen ist, kann der Formbildungsprozess als ein
zweistufiger Selektionsprozess beschrieben werden. Bei der ersten Stufe
handelt es sich um das Hin- und Herwechseln zwischen Schließung und Öffnung.
Dieser Akt beschreibt die Selbstreferenz der Architektur.
Die zweite Stufe begreift Dirk Baecker unter dem Begriff der
Konditionierung. Unter der Konditionierung der Selektionsvorgänge beim
Formbildungsprozess der Architektur werden alle Möglichkeiten verstanden,
den Umgang mit der Selbstreferenz der Architektur, also mit der Formbildung
im Medium der Abschirmungen, an Fremdreferenzen zu binden. So lassen sich
verschiedene Formen der Konditionierung unterscheiden: Konditionierung
durch Verweis auf Funktionalität, auf Solidität und auf Plastizität.[17]
Bei der Konditionierung der Architektur durch den Verweis auf Funktionalität
geht es um die Frage, welche Zwecke ein Gebäude, ein Stadtgebiet oder eine
ganze Stadt jeweils erfüllen soll. Es geht um „die soziale Anbindung der
Architektur an die Verwendungsweisen, die in der Gesellschaft von ihr
erwartet werden“.[18]
Unter der Konditionierung der Architektur durch den Verweis auf Solidität
fallen alle Arten der handwerklich-technischen Ausgestaltung von
Abschirmungen, die mit Problemen der Baukonstruktion, der Baustatik und des
Umgangs mit Materialien zu tun haben. Die Konditionierung der Architektur
durch Plastizität schließlich betrifft „die Art und Weise, wie sie sich
im Raum, und zwar künstlerisch, darstellt“.[19]
Hier geht es u. a. um die Wahrnehmung von Architektur.
Codierung – Konkretisierung
Wie dieses hier skizzierte Modell für die Frage nach dem Konkreten und der
Architektur einen interessanten Beitrag leisten kann wird spätestens
deutlich, wenn man es mit einer anderen Begrifflichkeit interpretiert, d. h.
eine andere Bezeichnung vornimmt: Zum einen möchte ich die
Konditionierung als Konkretisierung und das Hin und
Herwechseln von Schließung und Öffnung als Codierung bezeichnen.
Der architektonische Entwurfsprozess kann so als ein zweistufiger
Selektionsprozess von Codierung und Konkretisierung beobachtet werden.
Während mit der Codierung sichergestellt wird, dass es sich um Architektur
handelt, gibt die Konkretisierung Kriterien an die Hand, wie etwas
geschlossen und geöffnet werden soll. Architektur spezifiziert sich mit
Hilfe der Differenz von Codierung und Konkretisierung.[20]
Aus diesem Zusammenspiel von Codierung und Konkretisierung wird nun
deutlich, warum es so viele Anwärter auf das Konkrete in der Architektur
gibt: Da allein die Codierung sicherstellt, dass es sich um Architektur
handelt, kann als Konkretisierung alles herangezogen werden. Deshalb
macht es keinen Sinn von dem Konkreten in der Architektur zu
sprechen, sondern von verschiedenen Konkretisierungen. Um einen Überblick zu
gewinnen, hat die Architekturtheorie verschiedene Kategorien oder Typen
konstruiert. Die älteste Kategorisierung findet man natürlich in den drei
vitruvianischen Kategorien utilitas, firmitas und venustas.
Entsprechend wird hier zwischen funktionaler, konstruktiver und
künstlerischer Konkretisierung unterschieden. Innerhalb der künstlerischen
Konkretisierungs-Kategorie ließen sich weitere Unterteilungen finden, z. B.
für das 19. Jahrhundert entlang von Stilen. Für heutige Verhältnisse muss
man sich die Konkretisierungen des architektonischen Codes als
Entwurfsstrategien vorstellen. Entwurfsstrategien sind als
Konkretisierungsstrategien zu verstehen. Sie funktionieren im Sinne
eines concrescere, eines Selektionsverfahrens: Wenn der Entwerfer
sich für eine Strategie entschieden hat, ist nicht mehr alles möglich, der
Raum möglicher Entwurfsentscheidungen ist eingeschränkt. In der Kategorie
der künstlerischen Konkretisierungen kann man dann zum Beispiel genauer
zwischen minimalistischen, konzeptuellen oder pop-artistischen
Konkretisierungen unterscheiden. Die architektonische Konkretisierung ist
jedoch nicht nur plural, sondern auch egalitär. Strukturell
betrachtet gibt es keinen Konkretisierungstyp mit einer privilegierten
Position innerhalb der Vielzahl von Konkretisierungen. Alle so genannten
Leitideen wie der Raum, die Funktion, die Konstruktion, das Material sind
deshalb als Konstruktionen zu beobachten, die eine Hierarchisierung in die a
priori egalitären Konkretisierungen einbauen. Da der binäre Code historisch
invariabel ist, sind es die Konkretisierungen, die ihn mit einer
historischen Variabilität ausstatten. Anders formuliert: Der Code kann auf
unterschiedlicher Art und Weise konkretisiert werden, je nachdem welche
Prioritäten in einer bestimmten Zeit eine Rolle spielen. Indem sich die
Architektur an wechselnde Gegebenheiten, die sich in der Gesellschaft, der
Technik und der Kunst vollziehen, anpassen kann, wird Architektur selbst zu
einem Medium. Das bedeutet, dass man an der Architektur den jeweiligen Stand
der Gesellschaft, der Technik und der Ästhetik ablesen kann. Es ist die
Architektursemiotik, die als Wissenschaftsdisziplin dieses Lesen zu ihrer
Aufgabe gemacht hat. Sie unternimmt die Lektüre der Architektur im Hinblick
auf ihre Konkretisierungen.
Diese kurze Skizze zeigt, wie mittels eines formentheoretischen
Entwurfsmodells der architektonische Entwurfsprozess analytisch sauber in
Codierung und Konkretisierung getrennt werden kann. Erst durch diese
Verfeinerung des analytischen Instrumentariums erweist sich, dass das
Konkrete der Architektur nur als plurales, egalitäres und
variables Phänomen in Erscheinung treten kann.
Literatur:
Baecker, Dirk: Die
Dekonstruktion der Box – Innen und Außen in der Architektur, in:
Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, hg. von Niklas Luhmann,
Frederick D. Bunsen, Dirk Baecker, Bielefeld 1990, S. 67-104.
Baecker,
Dirk: Platon, oder die Form der Stadt, in: Wozu Soziologie?,
Berlin 2004a, S. 189-212.
Baecker,
Dirk: Fraktaler Raum, in:
Wozu Soziologie?, Berlin 2004b, S. 215-235.
Baecker,
Dirk: Am Anfang war das Dach,
in: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt/M. 2007, S. 73-80.
Brauns, Jörg (Hg.): Form und Medium,
Weimar 2002.
Dreyer,
Claus: Semiotische Grundlagen der Architekturästhetik, Stuttgart
1979.
Dürfeld,
Michael: Das Ornamentale und die architektonische Form.
Systemtheoretische Irritationen, Bielefeld 2008.
Heidingsfelder, Markus; Tesch, Min: Rem
Koolhaas – A Kind of Architect, DVD, Absolut Medien 2007.
Krüger,
Reinhard: Aufruf: Das Konkrete als Zeichen, in: Katalog zum 12.
internationalen Kongress der deutschen Gesellschaft für Semiotik,
Stuttgart 2008.
Lippuner, Roland: Objekte und Stellen. Eine systemtheoretische
Interpretation von Raum und Architektur, in:
Wolkenkuckucksheim –
Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok,
12. Jg., H. 2, Dezember 2008;
/journal1996-2013/inhalt/de/heft/ausgaben/207/Lippuner/lippuner.php
(Stand 23.06.2009).
Luhmann, Niklas:
Zeichen der Freiheit – oder Freiheit der Zeichen?, in: Zeichen der
Freiheit, hg. von Gerhard Johann Lischka, Bern 1992, S. 54-77.
Luhmann, Niklas: Zeichen als Form,
in: Probleme der Form, hg. von Dirk Baecker, Frankfurt/M. 1993, S.
45-69.
Luhmann,
Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995.
Lampugnani, Vittorio Magnago: Ästhetische Grundlagen der
architektonischen Sprache, Stuttgart 1977.
Anmerkungen:
[1]
Krüger 2008, S. 11.
[2]
Ebd.
[3]
Vgl. Luhmann 1992 und 1993.
[4]
Vgl. Lampugnani 1977 und Dreyer 1979.
[5]
Für eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von
Architektur und Systemtheorie und einer Möglichkeit, die
Architekturtheorie mit der Systemtheorie über das Scharnier des
luhmannschen Ornamentbegriffs in Bezug zu bringen, vgl. Dürfeld
2008.
[6]
Vgl. dazu auch das Gespräch „Mechanismus“ zwischen Rem Koolhaas und
Dirk Baecker, in: Heidingsfelder, Tesch 2007.
[7]
Vgl. Luhmann 1995.
[8]
Vgl. Lippuner 2008.
[9]
Vgl. Baecker 2004a, 2004b und 2007.
[10]
Baecker 1990, S. 82.
[11]
Ebd., S. 83.
[12]
Ebd., S. 85.
[13]
Ebd., S. 90.
[14]
Koolhaas 1997, S. 226.
Bei
Koolhaas erwächst aus dieser Erkenntnis geradezu eine Faszination
für die Mauer: “The wall was heartbreakingly
beautiful”.
[15]
Vgl. Heider 2005.
[16]
Zur Auseinandersetzung mit dem Medienbegriff bei Fritz Heider und
der Adaption durch Niklas Luhmann vgl. Brauns 2002.
[17]
Zusätzlich führt Dirk Baecker mit dem Verweis auf den menschlichen
Maßstab eine vierte Konditionierung ein. Dieser Hinweis sei
notwendig, „um die Abschirmungen der Architektur von anderen
Setzungen der Innen/Außen-Differenz im Medium des Raumes
unterscheiden zu können, etwa von Schränken, Futteralen und
Kassetten einerseits oder vom Ozonschirm und von militärischen
Abwehrschirmen andererseits [...]“ (Baecker 1990, S. 102). Ich
schlage stattdessen vor, den menschlichen Maßstab nicht als
Konditionierung, sondern als ein symbiotisches Symbol zu verstehen.
Als solches ist es im Rahmen eines symbiotischen Mechanismus’ ein
Absicherungs- oder Kontrollmechanismus, der aspekthaft Momente von
Körperlichkeit aufgreift und damit auch dem völlig abstrakt
operierenden Funktionssystem einen Realitätsbezug sicherstellt.
[18]
Baecker 1990, S. 98.
[19]
Ebd., S. 100.
[20]
An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass der Begriff
Codierung hier in einem systemtheoretischen und nicht in einem
semiotischen Sinne verwendet wird: Während in der Semiotik unter
einem Code eine ganze Sammlung von Kommunikationskonventionen,
Regeln und Beschränkungen verstanden wird, bezeichnet der Code im
systemtheoretischen Sinn einen streng binären Schematismus, der nur
zwei Werte kennt und auf der Ebene der Codierung dritte Werte
ausschließt. Des Weiteren ist auch kurz anzumerken, dass die
Systemtheorie die Unterscheidung Codierung/Konkretisierung – dann
meist unter der Firmierung von Codierung/Programmierung – als
Mechanismus benutzt, um die Autopoiesis von sozialen Systemen
zu beschreiben. An dieser Stelle müsste die hier anvisierte
formentheoretische Untersuchung zu einer systemtheoretischen
ausgeweitet werden.
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