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Einleitung
2 ZKDB: Jeder Wohnungssuchende weiß, welche Merkwürdigkeiten sich
hinter diesem Kürzel in Wohnungsanzeigen verbergen können. Selbst beigefügte,
scheinbar so dokumentarische Fotos erwecken bisweilen völlig andere Eindrücke,
als die eigene Besichtigung und Begehung der Wohnung schließlich ergibt.
Im Folgenden soll es nicht um eine Unterscheidung zwischen Darstellung
und 'Welt' gehen, sondern um die Interpretationen von Architektur, die
vorrangig durch Sprache und Bild angeboten werden. Was heißt es also,
mit Sprache und Bild in verschiedenen Darstellungstechniken und -praktiken,
eingebettet in soziokulturelle Handlungszusammenhänge, über Architekturen
nachzudenken? Damit ist die Frage verbunden, welche Funktionen diesen
Darstellungen in Bezug auf Architektur zukommen, und inwiefern damit auch
eine Welterzeugung und -erschließung verbunden ist.
Eine kulturwissenschaftliche Perspektive auf das Interpretieren
Bei einer Annäherung an das Thema 'Interpretieren von Architektur'
ist zunächst festzustellen, dass dieser Vorgang stets in bestimmten Formaten
stattfindet: in mündlichen Alltags- und Fachdiskursen, im Rahmen verschiedener
mehr oder weniger standardisierter und institutionalisierter Textsorten,
anhand von Fotografien der Architekturen, Skizzen, Grundrissen, Ansichten,
Isometrien, Animationen, Modellen usw. Diese Formate sollen im Folgenden
als mediale Produkte der Medien 'Sprache' und 'Bild' bezeichnet werden.
Das Medium Bild wird also sehr weit gefasst, um darunter sowohl zweidimensionale
als auch dreidimensionale Darstellungen wie etwa Modelle zu subsumieren.
Der Terminus 'Medium' verrät bereits, dass hier keine genuin architekturtheoretische
Betrachtung des Interpretierens verfolgt wird. Vielmehr sollen zwei zentrale
Schlagworte als Analyseinstrumente vorgestellt werden, die aus verschiedenen
geisteswissenschaftlichen Forschungszusammenhängen erwachsen sind und
über disziplinäre Grenzen hinweg eine kulturwissenschaftliche Perspektive
auf Verfahren der Interpretation ermöglichen: Medium und Performanz oder
auch Medialität und Performativität.
Der in den Medienwissenschaften profilierte Begriff des Mediums erlaubt
es, das Zusammenspiel und die Verknüpfung verschiedener medialer Formate
sowie ihre Rolle im Interpretationsvorgang genauer zu erfassen. Dabei
ist sowohl nach der Medialität der Interpretationspraktiken von Architektur
als auch nach der des Interpretierten selbst, der Architektur, zu fragen.
Diese Herangehensweise knüpft an die beispielsweise von Carsten Ruhl formulierte
Forderung an, die „Medialität der Architektur, die Mittel und Formen
ihrer Repräsentation“[1]
mehr in das Blickfeld der Architekturbetrachtung zu stellen.
Das Interpretieren von Architektur lässt sich weiterhin als ein Handeln,
als ein aktiver Prozess mit bestimmten Gelingensbedingungen und Konsequenzen
beschreiben, der mit dem Begriff der 'Performativität' beschreibbar ist.
Das Objekt des Interpretierens: Architektur
Zunächst ist zu klären, was überhaupt der Gegenstand einer Interpretation
von Architektur sein soll: Welche Art von Architektur wird analysiert?
Wo ist 'Architektur' zu verorten, im Entwurf, in digitalen Graphiken und
virtuellen Modellen, nur im fertig gestellten Bauwerk oder erst in den
Fotografien des Gebäudes?
Generell lässt sich in den meisten Fällen keine stringente Entwicklungslinie
von den ersten Skizzen bis hin zum Gebäude ausmachen, die im Bauwerk als
Endpunkt kulminieren und damit nur letzteres als Architekturwerk zulassen
würde. Diese traditionelle Hierarchisierung von vorläufigem Bild und endgültigem,
vollendetem Bau als Kunstwerk wird beispielsweise nicht zuletzt von Herzog
& de Meuron in ihrem Konzept der „Architektur als Ausstellendes
und Ausgestelltes“[2]
in Frage gestellt, wie Carsten Ruhl erläutert. Stattdessen postulieren
die Architekten die „Emanzipation der ausgestellten Architektur von
der Architektur als gebauter Realität.“[3]
Das Kunstwerk liegt dann im künstlerischen Prozess, der in verschiedenen
Zuständen, unter anderem auch in der Form des Gebauten still gestellt,
vorliegen kann. Abgesehen von der Frage der Ausstellbarkeit von Architektur
und ihren Formaten sowie den speziellen ästhetischen Strategien Herzog
& de Meurons, steht weiterhin zur Diskussion, welcher Stellenwert
Bildern von Architektur zugesprochen wird.
In Folge der zunehmenden Bedeutung analoger und digitaler Bildtechniken
für die Produktion und auch Rezeption von Architektur hat sich eine Debatte
über die 'Bildlichkeit' von Architektur und über eine möglicherweise notwendige
Bildtheorie der Architektur entwickelt.[4]
Angesichts dieser Reaktionen auf den 'iconic turn' ist die Einstufung
des Bildlichen als Beiwerk im Dienste der Vollendung eines Bauwerkes nicht
mehr adäquat. So scheint es nicht hilfreich, Architektur ontologisch vorrangig
mit gebauter Materialität zu verbinden. Ruhl weist sogar mit Blick auf
den Entwurf der Elbphilharmonie in Hamburg von Herzog & de Meuron
auf die Problematik hin, inwiefern Bauten überhaupt ausgeführt werden
müssen, wenn spektakuläre Bilder und Animationen der Projekte bereits
in das kollektive Gedächtnis der Öffentlichkeit eingegangen sind und dabei
identitätsstiftende Funktionen übernehmen.
In diesem Beitrag sollen Bild und Bau in ihren diversen Variationen gleichberechtigt
als unterschiedliche mediale Erscheinungsformen von 'Architektur' konzeptualisiert
werden, die je Spezifisches hervorzubringen vermögen und sich durch differierende
Materialitäten auszeichnen. Dementsprechend erscheint Architektur in einigen
Fällen im Medium des gebauten Raumes, in anderen, in bildmedialen Darstellungsarten.
Architektur als Medium
Was ist nun in diesem Zusammenhang unter dem Schlagwort 'Medium' zu verstehen?
Der Medienbegriff ist in den Medienwissenschaften und angrenzenden Disziplinen
kontrovers diskutiert worden. Die Bandbreite dessen, was genau unter diesem
Terminus verhandelt werden soll, reicht von einer technisch-massenmedialen
Ausrichtung bis hin zu Positionen, die auch Licht oder Geld als Medium
betrachten.[5]
Hier soll ein Konzept von Siegfried J. Schmidt aufgegriffen werden, der
den Begriff Medium hinsichtlich vier Kategorien differenziert: Er unterscheidet
zwischen semiotischen Kommunikationsinstrumenten (als Prototyp wird die
natürliche Sprache genannt, aber auch Bilder, Töne, Schriften fallen darunter),
dem technisch-medialen Dispositiv bzw. den Medientechnologien (z. B. Druck-
und Bildtechniken), der sozialsystematischen Institutionalisierung eines
Mediums (Organisationen wie etwa Schulen, Verlage oder Medienanstalten)
sowie den konkreten Medienangeboten. Diese Medienangebote sind in ihrer
Produktion, Verbreitung und Rezeption von den anderen Komponenten abhängig
und durch sie bestimmt.
Medien werden von Nutzern in konkreten soziokulturellen Kontexten genutzt;
im Laufe ihres Lebens und Sozialisationsprozesses erwerben die Nutzer
Medienkompetenzen, die in weiten Bereichen als implizites Nutzungswissen
vorhanden sind und nicht bewusst gemacht werden. Schmidts Gliederung des
Mediums in vier Kategorien erlaubt es, jede einzelne in ihren Wirkungen
zu untersuchen. Die entscheidende Wirkung von Medien, die jedoch schwer
auszumachen ist, ist die Hervorbringung von Sinn und die Konstruktion
von Wirklichkeit. Da Medien immer schon Teil der Lebensumwelt der Mediennutzer
sind, finden diese Konstruktionen größtenteils vor der Bewusstseinsschwelle
statt. Jedes Medium gibt, abhängig von seiner Materialität, gewisse Rahmenbedingungen
für die Möglichkeiten, in ihnen zu agieren, vor. In Anbetracht dieser
konstitutiven Rolle der Medien im Weltzugang der Nutzer plädiert Schmidt
dafür, Kognitions-, Kommunikations- und Gesellschaftsgeschichte als Mediengeschichte
zu überdenken, da der Umgang mit Medien z. B. Auswirkungen auf Raum- und
Zeiterfahrung, Kontaktformen, Körpererfahrungen oder Kommunikationsmöglichkeiten
hat.[6]
Diese Konzipierung von Medien lässt sich auch auf Architektur anwenden.
Benjamin Burkhardt nimmt eine solche Übertragung vor. Dabei bezeichnet
er als zeichenhaftes Kommunikationsinstrument gebaute Architektur, die
sich mithilfe von technischen Mitteln zu Medienangeboten (die konkreten
Bauwerke) entwickelt. Als beteiligte Organisationen werden Bauämter, Hochschulen
und Ingenieurbüros genannt, die Medienangebote herstellen und verbreiten.[7]
Ich möchte diese Anwendung auf den Bereich Architektur aufnehmen, jedoch
zwei Erweiterungen vorschlagen, die für die Thematik des Interpretierens
interessant sind. Dabei handelt es sich zum einen um die bereits angerissene
Diskussion, wie breit der Objektbereich und damit auch das Medium 'Architektur'
anzusetzen sind. Zum anderen wird eine Ergänzung in der Frage vorgenommen,
wie sich Rezeptionen von Architektur medial ausgestalten.
Zum ersten Punkt: Burkhardt berücksichtigt in seiner Medienkonzipierung
keine anderen Erscheinungsformen von Architektur, die außerhalb des Gebauten
liegen, so dass eine Verengung des Architekturbegriffs auf die raumfixierte
Materialität des Gebauten stattfindet. Diese Position wurde bereits in
den vorhergehenden Ausführungen in Frage gestellt. Wie beispielsweise
Juan Pablo Bonta ausführt, können auch nicht mehr existente Bauten, der
deutsche Pavillon von Mies van der Rohe, oder nie realisierte Bauwerke,
etwa Gropius' Entwurf für den Chicago Tribune Tower, stilbildend sein
und für Architekturrezeption und -kritik eine große Rolle spielen.[8]
[9]
Demzufolge soll der Medienbegriff hier so erweitert werden, dass er sowohl
Architektur im Medium des gebauten Raumes als auch Architektur im Medium
des Bildes umfasst. Gegenstand einer Interpretation können generell alle
Formen werden.
Dieses Medium des gebauten Raumes kann mit einer Unterscheidung von Gernot
Böhme noch genauer gefasst werden. Er stellt den Raum leiblicher Anwesenheit
und den Raum als Medium von Darstellungen gegenüber.[10]
Für den entwerfenden Architekten ist seiner Meinung nach der Raum in erster
Linie ein Medium von Darstellungen, der in Entwürfen, Modellen und abschließenden
Fotografien des Bauwerkes konzipiert wird. In diesem Raum sind z. B. Größenverhältnisse,
Volumina und Formen entscheidende Kategorien.
„Der
Raum, in den sie [die Architekten] ihre Entwürfe einzeichnen, ist der
euklidische Raum, metrisch, homogen, nahezu isotrop – nur die Richtung
oben/unten spielt wegen der Schwerkraft eine Rolle.“[11]
Der
Raum leiblicher Anwesenheit ist hingegen zentriert auf das Ich und besitzt
somit am Körper orientierte Richtungen (oben/unten, links/rechts, vorne/hinten);
dieser Raum ist charakterisiert durch Enge und Weite, durch die festgelegten
Möglichkeiten der Bewegung, Unterscheidungen von Helligkeit und Dunkel
usw. Zudem erscheint er stets als 'gestimmter Raum', der von einer bestimmten
Atmosphäre erfüllt ist.
Im Medium des gebauten Raumes – in der Form leiblicher Anwesenheit sowie
als Darstellungsmedium – wird Architektur wiederum medial rezipiert, und
zwar vorwiegend in sprachlichen und bildlichen Interpretationen. Hier
kommen wir zur zweiten Erweiterung der Burkhardtschen Medienkonzeption
von Architektur. In dieser Betrachtungsweise erscheint Architektur als
Solitärmedium. Die Bedeutung von Architektur, vor allem ihr erinnerungsstiftendes
Potenzial, das im Vordergrund seiner Untersuchung von Architektur als
Medium des kollektiven Gedächtnisses steht, beschreibt Burkhardt zwar
als von öffentlichen Rezeptionen abhängig. Dabei findet jedoch die
Medialität dieser Rezeptionsdiskurse selbst keine Beachtung. Ich vertrete
die Position, dass der Medienbegriff sowohl einen konstruktiven Beitrag
zur Untersuchung verschiedener Repräsentationen von Architektur (Bild
und Bau) als auch der Formate, in denen Architektur interpretiert wird
(Sprache und Bild), leisten kann. Insbesondere der konstitutive Beitrag
der Interpretationsmedien zur Wahrnehmung von Architektur lässt sich hierbei
diskutieren.
Mediale Interpretationen
Kommen wir nun zu diesen Mitteln und Verfahren des Interpretierens. Je
nach Rezeptionszusammenhang wird eine bestimmte Darstellungsweise in den
Vordergrund gerückt und zum Ausgangspunkt einer Interpretation. Bilder,
Texte usw. sind Repräsentationen, sie konstituieren den Gegenstand Architektur,
sie 'vermitteln' und stellen in bestimmter Weise dar. Dabei geben sie
verschiedene Erkenntnismöglichkeiten und Perspektiven auf das Untersuchungsobjekt.
Alle medialen Produkte mit ihrer spezifischen Materialität stellen somit
eine bestimmte Sicht auf eine Architektur her. Je nach Textsorte (Architekturkritik,
Feuilletonartikel, Wohnungsanzeige usw.) entstehen unterschiedliche Beschreibungen,
die Verschiedenes hervorheben und so verschiedene Erkenntnisgegenstände
konstituieren.
Mit Martin Seel lässt sich die Funktion dieser Interpretationsmedien folgendermaßen
erläutern:
„Medien
sind also keine Instrumente, mit denen etwas erreicht oder zugänglich
wird, das auch anders erreicht werden könnte. Medien sind konstitutiv
für die Handlung, die in ihrem Element ausgeführt wird. […] Medien […]
sind Elemente, ohne die es das in einem Medium Artikulierte nicht gibt.“[12]
Mit
anderen Worten, die Medien Sprache und Bild ermöglichen je spezifische
Zugangsweisen zu Architektur, die ohne sie nicht existierten. Weitergehend
konstituieren sie den Gegenstand, die Architektur, als solchen auf eine
bestimmte Weise. Das bedeutet: „Nicht Leistungssteigerung, sondern
Welterzeugung ist der produktive Sinn von Medientechnologien.“[13]
Medien fungieren also nicht einfach als neutrale, nachträgliche Techniken,
die fertige Inhalte lediglich übermitteln – vielmehr erzeugen und prägen
sie diese.
Im Kontext dieser Betonung der sinnstiftenden Funktion von Rezeptionsakten
lässt sich auch der Begriff des Originals im Bezug auf Architektur in
einer veränderten Weise konzeptualisieren: In diesem Fall ist 'Originalität'
keine ontologische Qualität eines architektonischen Werkes mehr, sondern
Originalität wird gestiftet durch Interpretationen. Demnach ist ein Original
nicht einfach gegeben; vielmehr ist es in gewisser Weise erst das nachträgliche
Produkt von Zuschreibungsprozessen. Das Werk wird als Original konstituiert
durch Kommentare, Kritiken, Beschreibungen, Analysen, die Bedeutungen
und Interpretationen des Werks verhandeln. Diese als „Praktiken des
Sekundären“[14]
zu bezeichnenden Techniken eröffnen Aneignungs- und Aktualisierungsmöglichkeiten
von Architektur für ein Publikum. Originalität und was sie ausmacht, ist
demnach ein Status, der im Rezeptionsdiskurs zu- und abgesprochen wird,
somit veränderlich ist und immer wieder neu zur Disposition steht. In
dieser Reformulierung des Verhältnisses von Original und Aneignungsformen
wird deutlich, welcher kulturelle Stellenwert Interpretationen von Architektur
als unendlich fortzuspinnenden Bedeutungsbehauptungen und Neuadressierungen
zukommt.
Medienverbände
Am Beispiel der Architektur zeigt sich im besonderen Maße, wie Medien
miteinander verknüpft und aufeinander angewiesen sind. Wir operieren in
den seltensten Fällen in Einzelmedien, meistens in variantenreichen Ausformungen
von Medienkombinationen.
Architektur
geht verschiedenste mediale Verbindungen zu anderen Medien ein. In der
Produktion von Architektur können Auseinandersetzungen mit Medienangeboten
wie Sprache, Bildwerk, Musik oder auch Skulptur Inspirationsquelle für
das Entwerfen sein; gleichzeitig gibt es auch Beispiele, auf intermediale
Weise andere Medienformate konkret in gebaute Form zu übersetzen. Das
Spektrum der medialen Verflechtungen reicht von der 'Architecture parlante'[15]
über Daniel Libeskinds Ansinnen, im Entwurf des Jüdischen Museums in Berlin
die Schönberg-Oper 'Moses und Aaron' ins Architektonische zu übersetzen[16]
bis hin zu Bauwerken, die konzeptuell zwischen Architektur und Skulptur[17]
anzusiedeln sind. Auch in der Rezeption werden Verbindungen zu anderen
Medien gezogen; so werden häufig sprachliche, bildliche, skulpturale oder
musikalische Metaphern verwendet und Strukturähnlichkeiten zu anderen
Medienangeboten hergestellt, um die Wirkung von Architekturen zu beschreiben.[18]
Interpretation: Zwischen Gebrauch und Lektüre
Nachdem nun das Objekt der Interpretation sowie seine Interpretationsformate
in Ansätzen bestimmt wurden, ist zu klären, wie Interpretieren im Bereich
der Architektur zu konzeptualisieren ist. Ich möchte hier vorschlagen,
'Interpretieren' als Oberbegriff für den Umgang mit gebauter Architektur
zu verwenden. Generell kann Interpretieren als Akt der Bedeutungszuschreibung
gefasst werden, der mehr oder weniger zielgerichtet, bewusst und reflektiert
abläuft. Dabei können zwei Arten des Interpretierens ausgemacht werden,
die ich als 'Gebrauch' und 'Lektüre' benenne. Obwohl der Begriff der Lektüre
aus einem schriftsprachlichen Kontext stammt, soll er hier nicht als auf
den sprachlichen Rahmen beschränkte Lektüre gedacht werden, sondern auf
verschiedene mediale Lektüren bezogen werden.
Beide (Gebrauch und Lektüre) sind aktive Formen der Auseinandersetzung
mit Architektur. Gebrauch und Lektüre unterscheiden sich in einem wesentlichen
Punkt, in ihren divergierenden Zielsetzungen; im ersten Fall geht es um
Bewohnen und Nutzbarmachen von gebautem Raum für die eigenen Bedürfnisse.
Der Gebrauch eines Gebäudes kann im Einklang mit den durch die Architektur
vorgegebenen Bewegungs-, Verhaltensmustern und Lebensweisen stehen oder
ihnen widersprechen oder auch eine kreative Erweiterung darstellen.[19]
Eduard Führ beschreibt den Gebrauch so:
„Gelingendes
Gebrauchen ist eine Kunst, nicht simple behavioristische Reaktion auf
eine Gebrauchszumutung. Gebrauchen kann nur gelingen, wenn ich [...] das
Unvorherbedachte bastelnd in das System zurückführen kann, wenn ich beim
Gebrauchen als flexibles, entscheidungstreffendes und kognitiv präsentes
Subjekt agiere, wenn ich kreativ in und mit Situationen umgehen kann.“[20]
Bei
der Architekturlektüre steht das 'Lesen', Vermitteln und Verstehen von
Architektur im Vordergrund, um ihr Funktion, Bedeutung und Wirkung zuzusprechen.
Dies findet in verschiedenen institutionellen Kontexten (Fachzeitschrift,
Feuilleton, Beiträge in Radio, Film, Fernsehen und Internet sowie universitären
Veranstaltungen) statt.
Gebrauchen ist kein Verbrauchen von Bauwerken. „Der Gebrauch von Architektur
ist Entwurf neuer Handlungen, neuer Strukturen, neuer Narrationen.“[21]
Weder ist also Gebrauch einfach Vollzug von architektonischen Vorgaben
und Ordnungen, noch ist die Lektüre ein Ablesen vorhandener, dem Architekturwerk
anhaftender Bedeutungen. Vielmehr sind die Interpretationsarten immer
wieder neue Konstruktionen und Stiftungen von Sinn und erscheinen damit
als aktives Handeln der Rezipienten.
Dieses Interpretieren als Handlung kann als performativer Akt tituliert
werden. Der Performanzterminus stammt ursprünglich aus der Sprechakttheorie
von John L. Austin und bezeichnet solche Sprechakte, in denen eine Äußerung
gleichzeitig den Vollzug einer Handlung bedeutet – etwa bei ritualisierten
Akten der Taufe oder Verheiratung, bei denen mit der Äußerung „Hiermit
taufe ich dich auf den Namen X“ diese Handlung auch zur Ausführung kommt.[22]
Der Performanzbegriff ist in letzter Zeit in den Kulturwissenschaften
zu einem Basisbegriff avanciert. Damit wird der Handlungsaspekt sowie
der Aufführungs- und Inszenierungscharakter unterschiedlichster kultureller
Hervorbringungen sowie von Kultur allgemein in den Blick genommen.[23]
Im Kontrast zur bisher vorherrschenden Vorstellung von 'Kultur als Text'
führte der 'performative turn' in den Kulturwissenschaften zu einer Hinwendung
zu 'Kultur als Performance' und zur Untersuchung ihrer Prozesshaftigkeit.[24]
Interpretationsvorgänge von Architektur als 'performativ' zu benennen,
bedeutet erstens, die Handlungsdimension des Rezipierens zu betonen. Zweitens
kann damit aber auch die weltverändernde und weltkonstituierende Funktion
von Interpretationen akzentuiert werden.
Aus einer medialen Perspektive ist Lektüre im Gegensatz zu Gebrauch folgendermaßen
zu fassen. „Medien […] bleiben der blinde Fleck im Mediengebrauch.“[25]
Im Normalfall taucht der Mediennutzer so in das genutzte Medium ein, dass
er beispielsweise nicht die Oberflächen als solche wahrnimmt, damit keine
Buchstaben oder Striche sieht, sondern Texte und Bilder. Das Medium tritt
für den Nutzer nur im Störungsmoment oder dann, wenn das Medium selbst
zum Thema gemacht wird, in Erscheinung. In der Lektüre wird quasi der
Blick festgestellt auf die Medialität und Materialität von Architektur,
und so werden Aussagen über ihre Bedeutung gemacht. Dabei wird die Medialität
der zur Rezeption verwendeten Medien (Sprache und Bild) wiederum meist
nicht reflektiert und diskutiert. Es ist jedoch wichtig, sich deren konstitutive
Funktion bewusst zu machen.
Wer sind die Akteure eines Interpretationsverfahrens? Gebrauch und Lektüre
als Interpretation zu begreifen, bedeutet auch, die klassische Trennung
im Umgang mit Architektur zwischen Entwerfendem, Kritiker und Nutzer,
denen jeweils nur spezifische Handlungsoptionen offen stehen, aufzulösen.
Alle Personenkreise führen Interpretationsvorgänge durch, so dass Prozesse
der Aushandlung von Bedeutungen entstehen. Sie liefern unterschiedliche
Interpretationen, die untereinander konkurrieren, sich ergänzen und befruchten
oder um die Deutungshoheit über ein Bauwerk ringen.
Architekturlektüren können als stetiger, unabschließbarer Prozess der
Bedeutungserzeugungen verstanden werden: Manche Lektüren wetteifern miteinander,
einige gehen im Laufe der Zeit verloren, andere werden aufgegriffen und
re-aktualisiert. Sowohl Experten als auch Laien nehmen Bedeutungszuschreibungen
vor, die in den jeweiligen Diskurskontexten, die durch spezifische Anforderungen,
mehr oder weniger standardisierte Formen und bestimmte Kriterien charakterisiert
sind, ihre Berechtigung haben oder angemessen sind. Konflikte und Missverstehen
ereignen sich meist an den Rändern zu anderen Diskursen oder bei diskursübergreifenden
Kommunikationen (etwa Expertendarlegungen in einem Laienkreis und umgekehrt),
in denen dann Kategorisierungen nicht funktionieren.
Schluss
Im Rahmen dieses Beitrages sollte die Medialität von Architektur in ihren
unterschiedlichen Erscheinungsformen ins Blickfeld gerückt werden und
damit auch die Einbindung von Architektur in ein Mediennetz, das näher
zu konturieren wäre. Das Interpretieren von Architektur wurde als medial
und performativ charakterisiert und so der bedeutungsstiftende und weltkonstituierende
Beitrag von Interpretationen hervorgehoben. Daran anschließend wäre eine
detailliertere Betrachtung des Zusammenhangs von Architektur und Performanz
interessant; inwiefern also dieser Terminus zu einer differenzierten Analyse
von Architektur beitragen könnte.
Am Ende dieser Ausführungen zum Interpretieren von Architektur sollte
ihre Gebrauchsdimension nicht aus dem Blick geraten:
„In
meiner Vorstellung ist sie [die Architektur] zunächst [...] Hülle und
Hintergrund des vorbeiziehenden Lebens, ein sensibles Gefäss für den Rhythmus
der Schritte auf dem Boden, für die Konzentration der Arbeit, für die
Stille des Schlafes.“[26]
Literatur:
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von Bauwerken, in: Architektur und Sprache, hg. von Carlpeter Braegger,
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Sybille: Das Medium als Spur und als Apparat, in: Medien, Computer,
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Krämer, Frankfurt a. M. 1998, S. 73-94.
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Carsten: Die Vermittlung ist das Werk. Zur Verselbstständigung des
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Zumthor,
Peter: Architektur denken, Basel 1999.
Anmerkungen:
[4]
Zur Verhältnis von Architektur und Bild vgl. etwa Gleiter 2005 und
auch Ruhl 2007.
[5]
Vgl. zu letzterer Position etwa Seel 1998.
[6]
Vgl. Schmidt 2000, S. 94 ff.
[7]
Vgl. Burkhardt 2004, S. 238 f.
[9]
Burkhardt führt selbst in seiner Beschreibung nationalsozialistischer
Erinnerungskultur an, dass viele der geplanten Denkmal-Ensembles nie
zur Ausführung kamen. Dennoch besaßen sie als visionäre Leitbilder
in der nationalsozialistischen Propaganda eine wichtige Funktion und
Bedeutung.
[14]
Fehrmann u. a. 2004, S. 7.
[15]
Vgl. dazu etwa Hauser 1982.
[16]
Vgl. Franck 2004, S. 14.
[17]
Vgl. Brüderlin 2005.
[18]
Zu Musik und Architektur vgl. etwa Böhme 2006, S. 83 ff.
Zu Architekturinterpretationen in Metaphern vgl. etwa Dreyer 1997.
[19]
Vgl. zu vorgegebenen Funktionalitäten von Architektur und aktuellem
Gebrauch etwa Führ 2002.
[22]
Vgl. Austin 1962, S. 33 ff.
[23]
Vgl. Wirth 2002, S. 9 ff.
[24]
Bachmann-Medick 2006, S. 104.
[26]
Zumthor 1999, S. 12.
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