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Autor: Schmarsow, August
In: Antrittsvorlesung, gehalten in der Aula der K. Universität Leipzig am 8. November 1893 / August Schmarsow - Leipzig: Hiersemann (1894); 30 S.
 
Das Wesen der architektonischen Schöpfung
 
ANTRITTSVORLESUNG
GEHALTEN IN DER AULA DER K. UNIVERSITÄT LEIPZIG
AM 8. NOVEMBER 1893
VON AUGUST SCHMARSOW
ORDENTLICHEM PROFESSOR DER KUNSTGESCHICHTE

Wer vor die Aufgabe gestellt wird, an einer der größten Universitäten Deutschlands die mittelalterliche und neuere Kunstgeschichte als Lehrfach zu vertreten, hat gewiß alle Ursache, die festen Gesichtspunkte, die seine Behandlung eines so ausgedehnten historischen Verlaufes bestimmen sollen, zu erneuter Prüfung ins Auge zu fassen.

Nach langer Lehrtätigkeit an andern Universitäten mochte sich  A n t o n  S p r i n g e r  die Frage vorlegen, wie weit in dem umfassenden Zeitraum, den er beherrschte, eine gesetzmäßige Entwicklung zu erkennen sei, und ob die greifbare Wiederkehr der nämlichen Wandlungen auch einen gleichmäßigen Zuschnitt der Darstellung gestatte. Oder die Frage nach dem Wesen der bildenden Kunst durfte mit den Worten eines Denkers und Dichters wie Dante, wenigstens für eine gewisse Periode der Vergangenheit, ihre Beantwortung finden, wie es  H u b e r t  J a n i t s c h e k  im Hinblick auf Giotto, doch nicht ohne Beziehung auf die Gegenwart versucht hat. Sonst freilich wäre das Wesen der Kunst überhaupt, das im weiten Umkreis ihrer Geschichte sich auseinanderlegt, wol allzuschwer in kurzen Zügen zu zeichnen, und gerade der Historiker, dem sich die ganze Fülle der Erscheinungen entgegendrängt, wird sich am wenigsten gern zu schnellfertiger Antwort entschliessen.

Allerdings bereit, sich bei dem engern Zusammenhang der  "b i l d e n d e n  K ü n s t e"  zu bescheiden, sieht er sich doch, schon angesichts der ersten Kunst, die gewöhnlich unter diesem Namen verstanden wird, einem Einwand des Philosophen gegenüber. Der Kunsthistoriker hat stets die  A r c h i t e k t u r  als die Grundlage der weitern Entwicklung betrachtet. Der Aesthetiker von heute hält ihm entgegen: "sie gehört nicht zu den bildenden Künsten, sondern ist eine bauende Kunst," und fügt sogar die strenge Abweisung hinzu: "die Baukunst gehört überhaupt nicht zu den freien Künsten, sie ist eine unfreie Kunst, und es liegt durchaus keine wissenschaftliche Berechtigung vor, sie als freie schöne Kunst von der Tektonik und den übrigen Kunsthandwerken zu trennen." 1) Und nicht besser steht es, wenn wir die denkenden Baumeister fragen: sie nennen die Architektur eine "Bekleidungskunst" und sehen in ihrer Tätigkeit kaum etwas Anderes als eine äußerliche Zusammensetzung rein technischer und dekorativer Art, ein Zusammenleimen ererbter Stilformen auf dem Gerüst zweckdienlicher Konstruktion, bei dem auch der Beste verzweifelt, woher ihm die schöpferische Begeisterung eigentlich kommen soll. 2)

Dem Historiker, der dem majestätischen Schritte der Baukunst durch die Jahrtausende hin mit Ehrfurcht und Bewunderung gefolgt ist, will es scheinen, als ob zeitweilig, im eifrigsten Bemühen um Einzelformen, Stile und Aufgaben der Vergangenheit, das geistige Band verloren gegangen sei, das alle Teile des Ganzen und alle Mittel zum Zwecke zusammenhält. Schon der Ausdruck "Bekleidungskunst", mag er auf die paradoxe Ansicht auch eines hochbegabten und gelehrten Künstlers wie Gottfried Semper zurückgehen, kann praktisch nur Veräußerlichung zur Folge haben. Und der Ausspruch Eduards von Hartmann "die Architektur sei Tektonik" ist schon ein wörtlicher Widerspruch, bei dem wir verwundert fragen, sollte der Grieche so völlig ohne Sinn und Verstand die Baukunst alsImage4.gif (1498 Byte) als grundlegendes, ursprüngliches, wir möchten sagen "uranfänglich reines Schaffen" von den technischen Leistungen des Handwerks unterschieden haben? In der Tat scheint es heute, als ob man nicht Antwort wisse, was die Architektur eigentlich sei. Bei aller Gelehrsamkeit unserer historischen Bildung fühlt man überall Entfremdung durch und vermisst den warmen Anteil des innern Menschen an ihren Werken und ein natürliches Verhältnis zu dieser Kunst.

Sollte es da nicht an der Zeit sein, einmal die Frage nach ihrem Ursprung und innersten Wesen zu stellen? Die genetische Betrachtungsweise, die der Geschichtswissenschaft so lange schon geläufig ist und heute auch die Naturwissenschaft durchdringt, könnte nicht minder in der Kunstwissenschaft, die zwischen beiden in der Mitte steht, ihre heilsamen Früchte tragen. Es gälte nur statt der Aesthetik "von Oben" und "von Unten", die man mit Fechner noch jetzt einander gegenüberstellt, vielmehr eine Aesthetik von Innen zu versuchen, und mit der Architektur, die solange durch eine Aesthetik von Außen veräußerlicht worden, den Anfang zu machen zu einem Gang von Innen her. Die aesthetische Betrachtung unsrer einfachsten linearen Gebilde und die psychologische Erklärung ihres unmittelbaren Eindrucks oder des Spiels associativer Faktoren nimmt ja schon heute vom schaffenden und genießenden Subjekt ihren Ausgang. 3) Dieser Untersuchung des Einzelnen und Kleinen, die so leicht den stetigen Zusammenhang mit dem Ganzen einbüßt, kommen wir nur helfend von der andern Seite entgegen, wenn wir nach dem Kern des Organismus suchen, dem alle Einzelformen und Glieder ihre Berechtigung danken. Es käme darauf an, in grundlegender Prüfung, dem psychischen Ursprung des schöpferischen Tuns sein natürliches Vorrecht zu sichern, und die Ueberzeugung zu bewähren, daß auch in dieser Kunst die eigentliche Hauptsache nur in der Seele des Erfinders ihren Ausgangspunkt und in der des Betrachters ihr Endziel finden kann.

Der Historiker freilich, der nach dem Wesen der architektonischen Schöpfung fragt, wird sich im Voraus sagen, daß die Antwort durchaus nichts Neues enthalten kann. Der triebkräftige Keim, nach dem wir forschen, muß in den unvollkommensten Versuchen, in denen kaum noch die Geschichte der eigentlichen Kunst ihre Zeugen sieht, ebenso notwendig vorhanden sein, wie in den Meisterwerken einer hochgestiegenen Blütezeit, die diesen Keim zum vielgestaltigen Organismus ausgebildet zeigen. Und dieses Alte, bewußt oder unbewußt immer Dagewesene, kann auch nur etwas Einfaches und Natürliches sein, eben weil es zu allen Zeiten in verborgner Stille oder voller Klarheit wirksam gewesen, in den schlichten Anfängen nicht minder gedeihen und Befriedigung gewähren mochte, als in den imposanten Leistungen einer vollendeten Monumentalkunst. - Fernab von allen begrifflichen Analysen und dialektischen Konstruktionen, mit denen die spekulative Ästhetik sich abmüht, muß es sich dem gesunden Menschenverstand, der sich nur etwas auf sich selber zu besinnen vermag, wie selbstverständlich darbieten. Wir wollen also nicht mehr, als eine verdunkelte Seite wieder beleuchten, etwas Vergessenes wieder hervorkehren, an eine ganz alte Geschichte erinnern, weil sie einen unveräußerlichen Wert hat. Zuweilen kommt es auch in der Wissenschaft nur darauf an: den Kreisel, der sich auf einer Spitze stumpf gelaufen hat, mit leichtem Finger herumzuschnellen auf die andre Spitze. Natürlich wird die leichte Hand, die spielend eine kleine Welt auf den Kopf zu stellen droht, von allen ruhigen Bewohnern des Mikrokosmos leichtfertig gescholten werden und viele Antipoden bekommen. Aber es will etwas heißen, wenn gerade dem Mann der Geschichte an einer Polveränderung gelegen wäre.

Wer nach dem Ursprung einer langen geschichtlichen Entwicklung zurückspäht, stößt gar bald auf vorgeschichtliche Tatbestände, deren Herkunft und Wachstum im Sinne der Geschichts-Wissenschaft festzustellen nicht mehr möglich ist. Er wird deshalb von vornherein dem Ethnologen und Anthropologen die Hand reichen und mit ihnen zusammen zur psychologischen Erkenntnis des Homo sapiens seine Zuflucht nehmen. Aber, damit diese Nachbarn verstehen, was er eigentlich will und sucht, muß er zuvor sich erdreisten, seine Sache vorzutragen, und zwar ein wenig nach ihrer Weise.

Nur die genetische Erklärung aus der innersten Organisation des menschlichen Wesens heraus, - das weiß er wol - vermag den Anhalt zu liefern, dessen wir zum Verständnis der mannichfaltigen Entwicklung bedürfen, und wahrhaft befriedigen wird nur ein Ansatz, der aus der ganzen Natur unserer psychischen Anlage wie mit Notwendigkeit hervortritt, sei es auch lange ohne Bewußtsein von der Tragweite und Ausbildungsfähigkeit des ersten "instinktiven" Tuns. Angesichts einer so hochgesteigerten Baukunst, wie die gewaltige Reihe vorhandener Denkmale sie vor Augen stellt, wird es schwer, uns zu ihren Anfängen zurückzudenken, und aus dem Reichtum der abgeleiteten, übertragenen, fast nirgends mehr ursprünglichen Erscheinungen den einfachen Kern herauszuschälen, von dem die Betätigung des Menschengeistes ausgegangen, oder in unserm Bewußtsein selbst einen festen Fußpunkt zu gewinnen, wo die Untersuchung einsetzen darf.

Was steckt in dieser Aula der Universität, in der wir versammelt sind, ebenso wie in der Klause des Gelehrten, der einsiedlerisch seinen Gedanken lebt? Was hat der Sitz des Reichsgerichtes drüben mit dem Konzerthaus oder der Bibliothek daneben, mit dem Pantheon in Rom und dem Dom zu Köln, mit der Schneehütte des Eskimo und dem Zelt des Nomaden gemein? - Wo liegt die Einheit der schöpferischen Tätigkeit, der sie alle entsprungen sind und noch entspringen?

Ein genialer Architekt wie Gottfried Semper, der die Hochschule in Zürich und das Hoftheater in Dresden erbaut hat, lehnt eine solche Zusammenfassung des Niedrigsten mit dem Höchsten einfach ab. 4) Die Hütte des Karaiben, meint er, habe nichts mit der Architektur als Kunst gemein, und könne unsere Aufmerksamkeit nur als höchst elementares Schema der Dachkonstruktion in Verbindung mit Matten als dem Elementarschema für vertikale Teilung beschäftigen. Unseres Erachtens wäre ein solcher Abweis der Frage ebenso unhistorisch wie unphilosophisch; denn der Entwicklungsgeschichte der Architektur gehört auch der primitivste Bau ebenso an, wie das Reichstagsgebäude, dem wir mit den höchsten Anforderungen an vollendete Kunst gegenübertreten. Und das Wegwerfen jeder Vergleichung schüttet das Kind mit dem Bade aus. Sollte der Monumentalpalast eines Sultans wirklich nichts mehr von dem innersten Wesen mit dem flüchtig aufgeschlagenen Zelt seines Stammvaters gemein haben?

Es fragt sich, ob eine leicht gefügte, nur für kurze Dauer aufgeführte Schöpfung nicht den selben Kern enthalte wie der dauerhafteste Bau aus festem und kostbarem Material? Die Folgerichtigkeit der Konstruktion, die Gliederung aller Teile, die Ausgestaltung aller Einzelformen in dem Letzteren mag eine viel mannichfaltigere aesthetische Befriedigung gewähren; aber das Eine, was Not tut, mag auch im Ersteren vorhanden sein. - Es fragt sich ferner, wie viel in architektonischen Zeichnungen, Plänen, Aufrissen, Durchschnitten und Ansichten verschiedener Art vom ursprünglichen Wesen der architektonischen Schöpfung enthalten sei, sodaß ein sachverständiges Auge und eine geschulte Phantasie mit diesen Hilfsmitteln sich das Ganze zu entwickeln vermag? Sollte es damit ebenso stehen, wie mit der Partitur eines Werkes der Tonkunst, dessen musikalische Wirkung der geübte Dirigent sich schon lesend vorauszunehmen weiß? - Es fragt sich endlich, - und diese Frage ist entscheidend für unsre Erwägungen, - ob die technisch vollendete Aufführung eines noch so monumentalen Baues für den Genuß dieses architektonischen Kunstwerkes eine fundamentalere Bedeutung habe, als die technisch vollendete Aufführung durch ein wolbesetztes Orchester für den Genuß des musikalischen Kunstwerks, - mit dem durchgreifenden Unterschied allerdings, daß die musikalische Aufführung vorüberrauscht und fast im Augenblick, wo sie ins Leben tritt, auch wieder verklingt, während die Aufführung eines Baues beharrt, ja zu dauerndem Beharren gefestigt werden kann, - nämlich wenn es darauf ankommt. Aber kommt es für unsere gegenwärtige Frage darauf an? - Ist die aufgeschichtete Masse zweckvoll behauener Steine, wolgefügter Balken und sicher gespannter Wölbungen das architektonische Kunstwerk, oder entsteht dies nur in jedem Augenblick, wo die aesthetische Betrachtung des Menschen beginnt, sich in das Ganze hineinzuversetzen und mit reiner freier Anschauung alle Teile verstehend und genießend zu durchdringen?

Sowie wir in diesem schauenden Genuß die eigentliche Hauptsache erblicken, eine Aufführung, die gleich der musikalischen beliebig wiederholt werden kann, so sinkt das technische Gerüst, der ganze Aufwand an massigem Material zu einer sekundären Bedeutung herab, nämlich des Mittels zum aesthetischen Zweck, und die Kostbarkeit des Stoffes, der Schimmer polirter Säulen und vergoldeter Kapitelle, stellt sich auf eine Stufe mit der Qualität und dem Charakter, beziehungsweise der Klangfarbe der Instrumente, die im Orchester zusammenwirken. Die ganze Konstruktion des Gebäudes erwiese sich ebenso als Herstellungsmittel, wie wir die Bekleidung des Gerüstes, die tektonische Gliederung und die Durchbildung der Kunstformen als Darstellungsmittel betrachten. Damit wäre die ganze Wucht der Materie in ihrer erdrückenden, durch die Jahrhunderte vervielfachten Formenfülle, wenigstens für einen Augenblick abgestreift, und vor dem geistigen Auge stünde die architektonische Schöpfung, noch immer in mannichfaltigen Formen, aber doch rein, der Frage zugänglich, die wir stellen.

Und um weiter zu kommen hätten wir uns nur des einen Grundsatzes für alles menschliche Schaffen zu erinnern, daß Nichts zu sinnlich wahrnehmbarer Erscheinung gebracht werden kann, was nicht vorher der Phantasie als Ahnung des gewünschten Erfolges vorgeschwebt hat und der Seele so wenigstens den Antrieb zur schöpferischen Betätigung der Kräfte eingegeben.

Versuchen wir darnach die verschiedenartigsten Erscheinungen, die beim ersten Gedanken an unser Thema vor uns aufstiegen, unter einen gemeinsamen Gesichtspunkt zu fassen: von der Höhle des Troglodyten zu dem Zelt des Arabers, vom langen Straßenzug des aegyptischen Wallfahrtstempels bis zum säulengetragenen herrlichen Dach des Hellenengottes, von der Karaibenhütte bis zum Reichstagsgebäude, - so können wir, möglichst allgemein ausgedrückt, sagen, sie sind samt und sonders  R a u m g e b i l d e,  und zwar gleichgültig aus welchem Material, von welcher Dauer und Konstruktion, oder welcher Durchbildung der tragenden und getragenen Teile. "Wesentlich ist nur die Raumabschließung" sagt auch Eduard von Hartmann; aber seine nähere Bestimmung "für einen realen Zweck der Raumbenutzung" schießt über das nächste Ziel eben schon hinaus. Der Hinweis auf das Schutzbedürfnis des Menschen gegen die Unbilden der Aussenwelt, wie jeder andre Hinweis auf einen realen Zweck ist verfrüht, solange es sich um aesthetische Untersuchung handelt. Die von außen kommenden Anregungen geben nur die Gelegenheitsursache, den Anlass zur Betätigung des menschlichen Könnens. Jeder leiseste Versuch des Menschen zur Herstellung einer Raumumschließung setzt zunächst in dem Subjekt die Vorstellung des gewollten Raumausschnittes voraus, und damit kommen wir auf die letzte Voraussetzung, die Anlage zu der Anschauungsform, die wir Raum nennen.

Die psychologische Tatsache, daß durch die Erfahrungen unseres Gesichtssinnes, sei es auch unter Beihülfe andrer leiblicher Faktoren, die Anschauungsform des dreidimensionalen Raumes zu Stande kommt, nach der sich alle Wahrnehmungen des Auges und alle anschaulichen Vorstellungen der Phantasie richten, ordnen und entfalten, - dieser Tatbestand ist auch der Mutterboden der Kunst, deren Ursprung und Wesen wir suchen.

Sobald aus den Residuen sinnlicher Erfahrung, zu denen auch die Muskelgefühle unseres Leibes, die Empfindlichkeit unserer Haut wie der Bau unseres ganzen Körpers ihre Beiträge liefern, das Resultat zusammenschießt, das wir unsere räumliche Anschauungsform nennen, - der Raum, der uns umgiebt, wo wir auch seien, den wir fortan stets um uns aufrichten und notwendig vorstellen, notwendiger als die Form unsers Leibes, - sobald wir uns selbst und uns allein als Centrum dieses Raumes fühlen gelernt, dessen Richtungsaxen sich in uns schneiden, so ist auch der wertvolle Kern gegeben, das Kapital gleichsam des architektonischen Schaffens begründet, wenn es zunächst auch nicht ansehnlicher als ein Heckpfennig scheint. Bemächtigt sich erst die nimmerruhende Phantasie dieses Keimes zur Weiterbildung nach dem innewohnenden Gesetz der drei Richtungsaxen, die auch im kleinsten Zellenkern jedes Raumgedankens beschlossen sind , so erwächst aus dem Senfkorn ein Baum, eine ganze Welt um uns her. Raumgefühl und Raumphantasie drängen zur Raumgestaltung und suchen ihre Befriedigung in einer Kunst; wir nennen sie Architektur und können sie deutsch kurzweg als  R a u m g e s t a l t e r i n  bezeichnen.

Ihre Wurzeln liegen ebenda, wo der Ursprung unseres mathematischen Denkens, die psychologischen Grundlagen der Raumwissenschaft zu suchen sind, nur daß die Kunst sofort darnach strebt, die innere Anschauung irgendwie in wirkliche Erscheinung umzusetzen, die sinnlich sichtbare Andeutung, Bezeichnung, Umgränzung eines Raumausschnittes im allgemeinen Raume will, während die Wissenschaft nur in reinen möglichst abstrakten Formen denkt, rechnet, schließt, aber nichts zu schaffen unternimmt. Die schwesterliche Verwandtschaft beider erkennen wir überall in ihrem ferneren Gebaren.

Die ersten Versuche, eine räumliche Vorstellung in die Wirklichkeit zu setzen, geben sofort weiteres Zeugnis von der Organisation des menschlichen Intellekts. Ein paar sichtbare Zeichen für das Auge, das die Umgebung mit seinem Blick überschaut, genügen als Anhaltspunkte für die Phantasie, die Projektion in die Außenwelt anzuerkennen und sie befriedigt als Tatsache wieder zu erproben. Diese Abgränzung irgend eines nähern übersehbaren Bezirkes geht kaum über die Anordnungen des Kindes hinaus; aber der Machtspruch der Einbildungskraft richtet Wände auf, wo nur Striche sind, und der Glaube macht selig, so skeptisch und überlegen auch der Erwachsene auf dies symbolische Verfahren herabsieht. Die Spuren der Fußsohlen im Sande, die schmale Furche mit dem Stecken gezogen, sind schon weitere Schritte zu kontinuierlicher Darstellung der Gränze. Wenn der Wind sie verweht, der Regen sie verwaschen, wird erst zu einer dauerhaftern Bezeichnung durch eine Reihe von Feldsteinen, durch eine Hecke oder Hürde geschritten. Die wachsende Handfertigkeit und die Fortschritte im Bearbeiten des Vorhandenen bringen weitere Anlagen zum Vorschein: die angedeuteten Gränzen nähern sich immer mehr der graden Linie, die Abstände der aufgepflanzten Feldsteine oder sonstigen Merkzeichen verraten die Neigung zum Gleichmaß, das Ganze der gewollten Umschließung den Grundzug einer regelmäßigen Figur. Je übersichtlicher der Umriß dieser Gemarkung, desto sicherer wird der parallele Verlauf der Seiten, die symmetrische Gleichheit ihrer Länge durchgeführt, selbst örtliche Hindernisse von der menschlichen Regel überwunden. Auch hier also wirkt die natürliche Organisation des Menschen unbewußt und notwendig wie auf alle Erzeugnisse seiner Hand ebenso, wie in seinen Geräten und deren Verzierung oder im Schmuck seines eigenen Leibes die gleichartige oder abwechselnde Reihung, die symmetrische Wiederkehr, die regelmäßigen Formen des Rechtecks, des Kreises u.s.w. hervortreten. Die weite Mulde eines Tales oder die enge Schlucht im Gebirge, die zufällig entstandene Höhle oder der Spalt im Felsen sind Raumeindrücke, die die Wirklichkeit dem Menschen bietet, und Anregungen für seine Raumphantasie; aber die Nachbildung im eigenen Schaffen regelt alle Linien und reinigt alle Formen nach der gesetzmäßigen Organisation unseres Kopfes. In der geschichtlichen Entwicklung, die wir zu überblicken gewohnt sind, gehen Architektur und Mathematik unzweifelhaft Hand in Hand. Als Ideal schwebt immer die reine Form vor, wie sie sein soll, deren Gesetze die Raumwissenschaft ergründet, während die Raumkunst, die ihre Gestaltung in wirklichem Materiale durchführt, auch mit den Faktoren der natürlichen Umgebung, den physischen Gesetzen der Wirklichkeit sich abfinden muß. Aber in beiden waltet das Grundgesetz des Menschengeistes, kraft dessen er auch in der Außenwelt Ordnung sieht und Ordnung will. Ueberall bei seinem Tun ist deutlich, daß die Klarheit des Gesetzmäßigen, die Uebersichtlichkeit der wiederkehrenden Teile, die Regelmäßigkeit und Reinheit ihm die eigentliche Befriedigung gewähren. So bevorzugt der Mensch sehr bald die gradgewachsenen Stämme vor den krummen, beseitigt vorsätzlich die Spuren des zufälligen Wachstums und der Abhängigkeit von wechselnden Einflüssen der Umgebung, indem er die Rinde abschält und die Borke glättet oder zurechthaut, und so bleibt in den Ebenen, die er als Wände aufrichtet, in den Pfosten und Pfeilern, die sie halten, wie in allen Einzelformen der spätern tektonischen Gestaltung die Vorliebe für abstrakte Regelrichtigkeit der Linien, Flächen und Körper als charakteristisches Wirkungsmittel der Architektur bestehen, ja es weckt wol gar jede Abweichung davon das Gefühl der Abirrung in andre Gattungen der Kunst. Die Architektur ist also Raumgestalterin nach den Idealformen der menschlichen Raumanschauung.

Es ist die Befriedigung eines tiefinnerlichen Bedürfnisses, wenn die menschliche Hand ordnend und gestaltend eingreift in die wirkliche Umgebung; aber die Notwendigkeit ihres Verfahrens kommt uns erst zum Bewußtsein, wenn wir sehen, wie es aus dem Innersten unserer Organisation entspringt. Mit der fühlbaren Aufrichtung - wenn ich so sagen darf - des Rückgrats unserer Anschauung beginnt das architektonische Schaffen in uns. In dem Axensystem der Koordinaten ist das natürliche Bildungsgesetz aller räumlichen Produktion des Menschen wie in einer zwingenden Formel vorgezeichnet. Es äußert sich mit Notwendigkeit sofort in ganz besonderem Sinne, und zwar vor allen Dingen in der wichtigen Tatsache, daß die Raumschöpfung sich zunächst garnicht loslöst vom Subjekt, sondern immer den Zusammenhang mit dem anschauenden Urheber voraussetzt. Jede Gestaltung des Raumes ist zunächst Umschließung eines Subjekts, und dadurch unterscheidet sich die Architektur als menschliche Kunst wesentlich von allen Bestrebungen des Kunsthandwerks. Schaffendes und genießendes Subjekt sind zunächst dasselbe und deshalb der Ausgangspunkt unserer genetischen Erklärung.

In sich selber trägt ja das Subjekt die Dominante des Axensystemes, das Höhenlot vom Scheitel an die Sohlen. Das heißt, solange eine Umschließung des Subjekts gewollt wird, bedarf der Meridian unseres Leibes keiner sinnlich sichtbaren Herstellung: wir selber sind seine Ausgestaltung in Person. Die Architektur als unsere Raumgestalterin schafft als ihr Eigenstes, das keine andre Kunst zu leisten vermag, Umschließungen unserer selbst, in denen die senkrechte Mittelaxe nicht körperlich hingestellt wird, sondern leer bleibt, nur idealiter wirkt und bestimmt ist als Ort des Subjektes. Deshalb bleiben solche Innenräume noch weithinein in ihrer Entwicklung als Kunst die Hauptsache. Das Raumgebilde ist eine Ausstralung gleichsam des gegenwärtigen Menschen, eine Projektion aus dem Innern des Subjekts, gleichviel ob es leibhaftig darinnen ist oder sich geistig hineinversetzt, also auch gleichviel ob eine Statue nach dem Ebenbilde des Menschen seine Stelle einnimmt oder der Schatten eines Abgeschiedenen hineingedacht wird. Ja, auf höheren Stufen der Supposition schafft die Kunst Ausstralungen einer idealen Einheit; die juristische Person, die Körperschaft, die Gemeinde, oder gar eine abstrakte, aus der staatlichen, sozialen, religiösen Gemeinschaft abgeordnete Idee, ein Faktor der vorhandenen Civilisation, der herrschenden Kulturarbeit vertritt die Stelle des ursprünglich menschlichen Subjekts wie z. B. im Justizpalast, im christlichen Gotteshaus, in der Universitas literarum.

Immer ist die Raumumschließung dieses Subjektes die erste Hauptangelegenheit, d. h. die Einfriedigung oder Umwandung nach den Seiten zu, nicht die Bedachung nach oben oder gar die Bezeichnung und Ausbildung des Höhenlotes. Lange mag sich die Einfriedigung, Umhegung und Umwandung unter freiem Himmel bewegen. Die Raumgebilde dieser Art, wie der griechische Hypaethraltempel und der aegyptische Wallfahrtstempel, gehören nicht minder zur Architektur als unsere vier Wände, von denen wir noch heute als Hauptsache reden.

Nächst dem Höhenlot, dessen lebendiger Träger mit seiner leiblichen Orientierung nach oben und unten, vorn und hinten, links und rechts bestimmend weiter wirkt 5), ist die wichtigste Ausdehnung für das eigentliche Raumgebilde vielmehr die Richtung unserer freien Bewegung, also nach vorwärts, und zugleich unsers Blickes, durch Ort und Stellung unserer Augen bestimmt, also die Tiefenausdehnung. Ihre Länge bedeutet für das anschauende Subjekt das Maß seiner freien Bewegung im gegebenen Raume so notwendig, wie es gewohnt ist vorwärts zu gehen und zu sehen. Erst mit der freiern Ausdehnung der Tiefenaxe wird das Gehäuse, das Schlupfloch zum Wohnraum, in dem man sich nicht gefangen fühlt, sondern aus eigener Wahl sich aufhält und lebt. Es ist auch ein geistiges Bedürfnis, das befriedigt wird, indem wir genügenden "Spielraum" gewinnen. Und die Gegenprobe bestätigt diesen Sachverhalt: legt sich der Körper zu Boden, so daß das Höhenlot aus der aufrechten Stellung in die horizontale Richtungsaxe fällt, so liegt darin sofort der Anlaß, die Höhenaxe des Raumgebildes herabzumindern. Wo ein Zelt nur als Schutz für den Schlafenden errichtet wird, darf es niedriger sein, da drängt sich die Tiefenaxe, nach des Leibes Länge, als Dominante der Raumform hervor. Und wo sonst die Ausdehnung des Innenraumes in die Tiefe vorherrscht, da liegt in ihr zweifellos der entscheidende Charakter dieser Bauten, wie in der Basilikenform der abendländischen Kirchen und ihrer Ausbildung des perspektivischen Durchblicks vom Eintritt bis zum Hochaltar im Chore.

Für die Breitendimension ergiebt die Ausspannung unserer Arme nach links und rechts einen Minimalmaßstab, solange nicht das Auge mit der Weite des Blickes und dem Wechsel seiner Richtung einen größeren Abstand von Wand zu Wand auch in dieser Axe fordert. So unterscheidet sich wiederum der Unterschlupf von der Wohnung, das Bedürfnis des Schlafenden von dem des Wachenden, die Bergung in dunkler Höhle von dem Leben im hellen Gemach. Die Betrachtung der beiden Horizontalaxen kann ferner miteinander abwechseln. Wenn ich die Längswand in gehörigem Abstand nach ihrer ganzen Breite überschaue, so treten sofort auch hier die Abmessungen nach links und rechts von mir als Mittelaxe in Kraft, während ich in der Richtung der Tiefenaxe schauend die beiden Langseiten des Raumes in paralleler Perspektive absehe und ermesse. Je näher die Ausdehnung beider Horizontalaxen übereinkommt, der Grundriß also dem Quadrat oder dem Kreise sich nähert desto centraler wird die Vorherrschaft des Aufblicks in die Höhe, und während in der Breitenausdehnung auf allen Seiten oder ringsum die Symmetrie sich geltend macht, herrscht in der Höhenaxe das Gesetz der Proportion, stets in Beziehung auf das Subjekt und seinen optischen Maßstab.

Werden endlich beide Horizontalaxen auf das geringste Maß der Ausdehnung eingeschränkt, so erscheint der Aufenthalt in solchem Gemach gar bald dem Wachenden als Strafe, sodaß er an den Wänden in die Höhe gehen möchte, und die Strafe steigert sich für jeden nicht Raumblinden noch empfindlicher, wenn die Zelle einen dreieckigen Grundriß hat oder sonst abnorme Verschiebung der Wände. Ein grader Charakter wie Lessing erklärte, in einem schiefwinkligen Gemaches nicht aushalten zu können.

Legt sich aber die Höhenaxe zu Boden in die Richtungsaxe, so gewinnt die Breitendimension an Bedeutung was die Höhenaxe verliert. Gewöhnlich bleibt allerdings die Breite fühlbar untergeordnet, soviel wie die Richtung unseres Blickes und unsrer Ortsbewegung nach vorwärts überwiegt.

Dies Verhältnis erfährt indeß sofort einen fühlbaren Umschwung, sowie das Subjekt aus dem Innenraum heraustritt, und das Aeußere des Raumgebildes überschaut. Nun wirkt das Subjekt mit seinem Meridian als Mittelaxe der Ausdehnung nach links und rechts, verlangt also die Befriedigung seines symmetrischen Gesetzes, und sieht sich selbst der Höhenaxe des Raumgebildes gegenüber, mit seinen Ansprüchen an Proportion aller Verhältnisse. Das ganze Raumgebilde erscheint ihm nun als  K ö r p e r  a u ß e r  ihm im allgemeinen Raum, und damit verschieben sich alle Grundsätze für den Außenbau, im Vergleich zu dem Innenraum, d. h. zur Umschließung des Subjekts, von der wir ausgegangen.

Doch bevor noch vom Außenbau die Rede sein kann, muß für den Zusammenhang des Subjekts mit dem umschließenden Innenraum noch das Princip der weiteren Einzelbildung begründet werden. Schon die sprachlichen Bezeichnungen räumlicher Weite, die wir gebrauchen, wie "Ausdehnung", "Erstreckung", "Richtung" deuten auf die fortwirkende Tätigkeit des Subjektes, das sofort sein eigenes Gefühl der Bewegung auf die ruhende Raumform überträgt, und ihre Beziehungen zu ihm nicht anders ausdrücken kann, als wenn es sich selbst, die Länge, Breite, Tiefe ermessend, in Bewegung vorstellt, oder den starren Linien, Flächen, Körpern die Bewegung andichtet, die seine Augen, seine Muskelgefühle ihm anzeigen, auch wenn er stillstehend die Maße absieht. Das Raumgebilde ist Menschenwerk und kann dem schaffenden und genießenden Subjekt nicht als kalte Krystallisation gegenüber stehen bleiben.

Hier zeigt sich die grundsätzliche Verschiedenheit der Raumkunst von der Raumwissenschaft, selbst wenn man sie mit Recht als kosmische Kunst bezeichnet. Das mathematische Denken abstrahiert von allen Zufälligkeiten des irdischen Schauplatzes, erhebt sich immer konsequenter zu den Regionen, wo die reinen Formen wohnen, und berechnet in der Sicherheit seines Verfahrens die Gesetze fernster Fernen im Weltall ebenso, wie auf unserm Grund und Boden, soweit ihn das menschliche Auge mit seinem Horizont umspannt. Die Raumkunst dagegen, auf sinnlich sichtbare Erscheinung ihres Tuns erpicht, ist auch an den Erdboden als feste Grundlage für den Menschen gebunden, und vermag auch bei den kühnsten Gebilden nicht auf den leiblich fühlenden Menschen und seines Gleichen zu verzichten. Sie vermag freilich weit hinauszugehen über die Anregungen der wirklichen Naturumgebung, aber stets nur im Einverständnis mit den unentrinnbaren Gesetzen der Wirklichkeit, der Kohäsion ihres Materials, der Statik und Mechanik, der Gravitation, den kosmischen Gesetzen des Alls. Eben daraus aber gewinnt sie die mannichfaltigste Beziehung zu menschlichen Erfahrungen, menschlichem Leben in der Erdenwelt, in die wir gestellt sind, und diese helfen ihr das Kunstwerk, das auch im höchsten Gelingen Menschenwerk bleibt, mit neuem Leben zu erfüllen. Die starre reine Form allein wäre bei aller ausgesprochenen Vorliebe für Gesetzmäßigkeit und Regel dem Menschen auf die Dauer als seine tägliche Umschließung ein unerträglicher Zwang.

Sie muß sich durchdringen mit Leben von seinem Leben, wenn sie vollauf befriedigen und beglücken soll. Daher bekommt die Projektion der dreidimensionalen Raumanschauung, die fest und fertig aus dem Haupt des Menschen entspringt, noch eine andre Mitgabe ins Dasein auf den Weg, das ist die Anlage zu eigenem Leben, der Trieb, zum selbständigen Organismus sich auszubilden und abzuschließen. Daher das Gegenspiel der Kräfte, der tragenden und getragenen Teile, welche die Raumabschließung mit der schlichten Ausdehnung ihrer Wände durch innern Aufbau erst zu unabhängiger Existenz bringen, ihr Dasein und ihr Sosein für das menschliche Subjekt motivieren, und ihm damit eine neue Quelle genußreicher aesthetischer Betrachtung eröffnen. So sind unsere Kunstphilosophen gar auf den Irrtum verfallen, als sei die Architektur selbst die ideale Darstellung der das Weltall erhaltenden Gesetze der Schwere, eine Darstellung der Begriffe Kraft und Last für unser Gefühl, 6) als sei diese doch offenbar lehrhafte Aufgabe die Hauptsache an ihr, während sie doch höchstens in dem Gliederbau ihre Rechnung findet, d. h. erst der spätern Durchführung des Organismus angehören könnte.

Deshalb wollen diese Aesthetiker der Architektur auch erst ein Bauwerk als solches gelten lassen, wenn es durch feste Dachkonstruktion die klare Gegenüberstellung von Kraft und Last, tragenden und getragenen Teilen aufweist, 7) d. h. wenn der Raumausschnitt als fest beharrender Raumkörper erscheint, und sie verweilen deshalb nur beim Aufbau und beim Außenbau mit Vorliebe, laßen aber die Raumerfindung als solche, die Raumentfaltung, die Raumperspektive und Raumkomposition völlig außer Acht. Die Innenseite des architektonischen Schaffens und ihre psychologische Erklärung aus einem immer lebendigen Motiv geht ihnen damit verloren.

Wie nämlich die Regungen des Gemeingefühls als Ergebnis der äußern Ereignisse sich zu Stimmungen verdichten, in ihrem Steigen und Sinken, in ihrem Anschwellen zu wonniger Lust oder erschütterndem Schmerz dazu drängen, sich nach Außen weiter zu bewegen und die nächste Umgebung mit den Schwingungen des Innern zu erfüllen, sie mitzubestimmen, sei es auch nur durch den schnellverhallenden Laut der menschlichen Stimme, - so drängen auch die rein anschaulichen Eindrücke und ihre Einordnung oder Zusammenschiebung in die dreidimensionale Anschauungsform unwillkürlich zu einer Projektion nach Außen, zu einer Weiterbildung in sinnlich wahrnehmbarer Realität. Wie die Musik als Kunst dann ein schöpferisches Durchverfolgen von Gehörswahrnehmungen wird und eine gesetzliche Bewältigung der Tonwelt nach Analogie der Bewegungsgefühle des Menschen, zu seiner eigenen tausendfältigen Bereicherung, so beruht die Architektur als Raumgestalterin auf einer systematischen Bewältigung des räumlichen Anschauungsmateriales und ist ein schöpferisches Durchverfolgen des dreidimensionalen Gesichtsbildes zu eigenem Genügen und Genuß des Menschen. Wie dort im Zeitlichen die Bewegung in ihrer mannichfaltigen Abstufung und dynamischen Wirkung, so herrscht hier im Räumlichen die beharrende Ausdehnung und die ruhige Macht ihrer Verhältnisse. Aber worauf anders als auf Raumdichtung beruht der Reiz perspektivischer Durchblicke, der Raumentfaltung im wirklichen Gebäude, die erhebend und befreiend wirkt wie Ausweitung und Aufschwung unserer Seele, und in gemalten Architekturprospekten auf der Fläche noch im bloßen Schauen einen Teil ihres Zaubers ausübt?

Auch bei der Ueberschau eines abgeschlossenen Bauwerks von Außen her gewinnen wir das Verständnis seiner gesetzmäßigen Bildung nur durch den Einblick in die Raumgestaltung von Innen her. Hier trennt sich schaffendes und genießendes Subjekt, Erfinder und Betrachter.

Es ist ein Akt freier aesthetischer Betrachtung, wenn wir uns mit Hülfe der Phantasie hineinversetzen in das Centrum des Innenraumes, dessen Außenseite sich vor uns aufbaut, und durch die Frage nach dem Axensystem da drüben die Ausgestaltung des fremden Organismus dem analogen Gefühl in uns zu erschließen streben. Solange wir diese Verdoppelung unseres Bewußtseins, die Ergänzung des Standpunkts draußen durch den Standpunkt drinnen nicht zu vollziehen vermögen, solange bleibt das Bauwerk für uns eine starre Krystallisation, wie der Felsblock der vor uns aufsteigt, mögen wir ihn von vorn oder von andern Seiten, oder gar von oben her beschauen. 8)

Die Selbständigkeit des Gebildes tritt uns um so überzeugender entgegen, je stärker die Senkrechte als Dominante des Ganzen entwickelt worden; denn eben dies Gefühl, daß ein zweiter Meridian als Mittelaxe dort, uns gegenüber vorhanden ist, bedingt die Anerkennung des Raumgebildes als Körper eigner Organisation außer uns selbst.  D i e  B e t r a c h t u n g  d e s  g e s c h l o s s e n e n  B a u w e r k s  a l s  e i n e s  G a n z e n  a u ß e r  u n s  i m  a l l g e m e i n e n  R a u m e  b e d e u t e t  s c h o n  e i n e n  b e t r ä c h t l i c h e n  S c h r i t t  a u f  d e m  W e g e  z u r  N a c h b a r k u n s t,  n ä m l i c h  z u r  P l a s t i k .  Sobald in dem fremden Koordinatensystem, das uns gegenübersteht, das Mittellot, das eigentliche Rückgrat feste Form gewinnt, sobald es die Ausdehnung der beiden Horizontalaxen absorbiert, so schrumpft der Innenraum des architektonischen Gebilds zusammen, und dieses verändert seine ganze Natur, indem wir es nun als massiven Körper verstehen.  E s  b l e i b t  z u n ä c h s t  n u r  e i n e  t e k t o n i s c h e  G e s t a l t u n g  d e r M a s s e . 9)

Hier muß der durchgreifende Unterschied einleuchten, den wir gewonnen haben, indem wir von der Vorstellung des architektonischen Kunstwerkes die ganze Ausführung in dauerhaftem Material einmal abzustreifen versuchten. Im Außenbau und seiner wesentlich tektonischen Gliederung vermöchten wir von den Bedingungen des konstruktiven Gerüstes und der technischen Behandlung des Baumateriales viel weniger zu abstrahieren, weil im Spiel der Kräfte diese Bedingengen des Wirklichen viel unmittelbarer mitwirken. Alle artikulierten Formen und tektonischen Glieder sind vom menschlichen Kraftgefühl belebt und durchdrungen, jemehr sie sich aus der abstrakten Regelmäßigkeit ihrer Grundform, welche ihre Funktion im Ganzen vorschreibt, der plastischen Gestaltung nähern.

Sowie sich aber mehrere solcher Raumkörper mit abgeschlossenem Außenbau zusammenfinden, so tritt die Architektur als Raumgestalterin wieder in ihr volles Recht, indem sie diese Baukörper zu größeren Raumumschließungen ordnet und in neue organische Beziehung setzt, seien es die Häuserfassaden einer Straße, die Baugruppen um einen Platz, vielleicht mit einem Denkmal in der Mitte und mit Straßenprospekten auf dieses Centrum hin. Das Alles nehmen wir mit vollem Bewußtsein, bis auf die künst¬lerische Organisation eines Stadtplanes, ausdrücklich für die Architektur als Kunst in Anspruch. Als Städtebauerin reicht sie erstrecht dem Wegebau, denn Ackerbau und dem Gartenbau die Hand, die soweit das Auge dringt die Zeichen menschlicher Kulturarbeit hinausrücken. Sie alle erbauen und erweitern das Regnum hominis und schaffen dem Menschengeist in der Durchführung seines eigenen gesetzmäßigen Wesens ein Genüge, das schließlich in dem Glauben an eine sittliche Weltordnung gipfelt. Deshalb lieben die alten Kulturvölker, die dem Zustand roherer Nachbarn gegenüber, von dem Wert der menschlichen Gesittung noch lebendig durchdrungen sind, nur das wolbestellte Land, nur Garten und Feld mit regelmäßigen Baumreihen und Furchen, nicht Berge und Wälder und Haidestrecken, während die spätgeborenen Geschlechter, übersättigt von der Civilisation und erschöpft von menschlicher Arbeit aller Art, sich hinaussehnen in die ursprüngliche, vom Menschenfuß noch unbetretene, von Menschenhand noch unentweihte Natur, auf die Alpen, in die Wildnis, zum endlosen Ozean.

In diesem Sinne können wir nicht zugeben, daß die Entwicklungsgeschichte der Architektur auf die Errichtung fester Gebäude, geschlossener Bausysteme beschränkt werde. Wir dürfen nicht vergessen, welche Wichtigkeit die altasiatischen Lager und Burgen, das römische Castrum und Castellum für den Städtebau und die Palastanlagen ganzer Kulturperioden besitzen, wie wenig die Einrichtung christlicher Klöster im Heidenland, wie wenig die Vorhöfe der Basiliken, die Kreuzgänge und Wandelbahnen, die Laubengänge der Lustschlösser, der Binnenhof eines italienischen Hauses oder die Hypaethralcella eines griechischen Tempels für das ganze Verständnis dieser Raumgebilde entbehrt werden können, und was auch uns heute, im Zeitalter der Bahnhöfe und Markthallen, solche Anknüpfungspunkte der historischen Entwicklung bedeuten. Wenn wir damit eine Erweiterung der herrschenden Lehre gewinnen, so befreien wir die Architektur als Kunst von manchem beschränkenden Vorurteil. 10)

Wol aber unterscheiden auch wir in dem weiten Umkreis ihres Wirkens eine engere Zone, wo sich der Uebergang zur strengen vollausgebildeten Monumentalkunst vollzieht, die als solche stets den Mittelpunkt und Gipfel des ganzen Gebiets behaupten darf. In jenen Anfängen draußen ist es gleichgiltig, ob eine Einhegung mit grünender Hecke, mit hölzernem Gatter oder Pallisaden, mit aufgeschichteten Feldsteinen oder mit festgefügtem Mauerwerk hergestellt wird, ob man eine Hütte aus lebendigen Zweigen mit frischen Blättern bedeckt oder ein Gerüst aus Bambusrohr mit Matten und Tierfellen bekleidet. Später dringt die Kunst zu dem Bewußtsein durch, daß die Wand nicht durchsichtig sein darf, wenn sie einen Innenraum abschließen soll als Raumganzes für sich, daß weder die fast unsichtbare Glasscheibe noch die Säulenreihe mit offenen Intervallen als Aequivalent fungiert und nicht leistet, was schon der Teppich vermag. Sie handelt dann ebenso konsequent in der festen Abschließung nach oben: das übergespannte Tuch, das vor Sonne, höchstens vor leichtem Regen noch schützt, wird zur flachen Holzdecke, zur steinernen Querlage, zur festen Wand nach oben, oder als Gewölbe noch inniger mit dem Stützwerk verbunden, wol gar als Kuppel dem Firmament im Kleinen vergleichbar. Mit der allgemeinen Festigung der Kultur, mit der Ausgestaltung einer Lebens- und Weltanschauung auf Grund ererbter Traditionen oder systematischer Lehre hat auch die Architektur als künstlerische Gestaltung der Grundlage und des dauernden Schauplatzes, als treue Bundesgenossin und Verkünderin menschlicher Gesittung sich fühlen und verhalten gelernt, und passt seitdem ihr Herstellungsmaterial und ihre Darstellungsmittel immer bewußter dem Geiste an, der in ihrem Werke seinen Ausdruck sucht.

Es ist ja das Bleibende und Ausgemachte im Glauben eines Volkes, einer Zeit, dem die Architektur die Stätte bereitet, und oft im gewaltsamen Wechsel, wenn alles Uebrige zu wanken droht, durch die erhabene Sprache, die ihre Steine reden, noch einen Rückhalt giebt.

Da stehen sie noch heute "die fossilen Gehäuse ausgestorbener Gesellschaftsorganismen", wie man die Monumente der Vergangenheit bezeichnend genannt hat. Aber wir Menschen des neunzehnten Jahrhunderts haben bei all unsrer historischen Bildung Mühe, den Wert zu ermessen, den jede solche Raumgestaltung für den Menschen von damals haben mußte, der sie schuf und drinnen lebte. Nur unvollkommen gelingt es, die Genugtuung solchen Aufbaues auch uns zu Gemüt zu führen und damit den rein aesthetischen Inhalt dieser Kunstwerke aufzuweisen oder gar aufs Neue zum Genuß zu bringen. Das liegt daran, daß dieser Kunst eine Verkörperung konkreter Ideen ebenso wenig gegeben ist wie der Musik, deren alten oder altmodischen Kompositionen auch unsre moderne Phantasie nicht genügend entgegen kommt, um leicht und schnell die Brücke zwischen Hören und Fühlen hinüber und herüber zu schlagen.

Aber aus der grauen Vorzeit klingt auch zu uns noch die Sage von Prometheus, von dem Gewaltigen, den Zeus mit Demantbanden an den Felsen geschmiedet, um friedliche Ordnung zu stiften unter dem Menschengeschlecht, trotz dem gefangenen Riesen, den die Wellen beklagen und befreien möchten in brausender Umarmung. Und wenn wir dann an die Tempel der Olympischen denken, begreifen wir, weshalb der Grieche, der so schwungvoll gedichtet, den Schöpfer der Bauwerke als Image5.gif (2071 Byte) neben den Poeten und Philosophen stellt, der ihm seine Weltanschauung aufbaut, und weshalb der Denker vor dem Angesicht des Weltschöpfers selber keinen höheren Ehrentitel zu stammeln weiß, als "summus architectus".

Sollte es wirklich anders stehen mit uns, wenn heutigen Tages sich vor unsern Augen ein Hochsitz der Rechtsgewalt erhebt, die das deutsche Volk sich aufgerichtet als feste Burg der bessern Ueberzeugung, selbst gegen die Anwandlungen persönlichen Rechtsgefühls und seine Schwankungen bei den Einzelnen? -

Sollte die Architektur auch heute noch, sich selbst besinnend auf die uralte ewige Innenseite all ihres Schaffens, nicht als  R a u m g e s t a l t e r i n  sich selber wiederfinden, und damit auch den Weg zum Herzen des Laienvolks? Es ist der Geist, der sich den Körper baut, sagt man wol.  D i e  G e s c h i c h t e  d e r  B a u k u n s t  i s t  e i n e  G e s c h i c h t e  d e s  R a u m g e f ü h l s,  und damit bewußt oder unbewußt ein grundlegender Bestandteil in der Geschichte der  W e l t a n s c h a u u n g e n.

Dem wahren künstlerischen Ausdruck unsers eigensten Raumgefühles von heute an allen bleibenden Stätten unsrer Kulturarbeit, bis hinein in die wohnliche Umschließung und trauliche Fassung unsers persönlichen Daseins, wird es gewiß auch in der Gegenwart an freudigem Entgegenkommen und geniessender Dankbarkeit nicht fehlen.

Dem Historiker geziemt es, sich bei sachlicher Erkenntnis zu bescheiden, auch wenn sie auf dem künftigen Wege nur einen ersten Ausgangspunkt bedeuten kann.

Er reicht der alten ehrwürdigen Freundin Architektur aufs Neue die Hand, trotz Allem was man über diese Wahl zu rechten finde!

Anmerkungen.

1) E. v. Hartmann: Gehört die Baukunst zu den freien Künsten? (Gegenwart 1887. S. 391 ff.) antwortet, daß gar keine wissenschaftliche Berechtigung vorliege, die Architektur von der Tektonik und den übrigen Kunsthandwerken zu trennen. Vergl. desselben Verfassers Aesthetik, Berlin 1887. I, 461 ff. u. 600. Dagegen stellt Wundt gerade die Architektur mit der Musik als "freischaffende Künste" zusammen.

2) H. Schliepmann, Betrachtungen über Baukunst. Berlin 1891. S. 22. Daselbst auch die Klage (S. 31): "Durch eine eigentlich ganz erstaunliche Stumpfsinnigkeit der Kunstempfindung hat die Architektur seit etwa 400 Jahren im Gegensatze zu allen übrigen Künsten meist eine Entwicklung von außen nach innen, statt von innen nach außen eingeschlagen Statt der Idee die entsprechende Form zu geben, hat man die Idee in die fertige Form eingezwängt. Wie ein modischer Schneider hat der Architekt für allerlei Körper allerlei Tuch verwertet...."

3) Th. Lipps, Aesthetische Faktoren der Raumanschauung (Beiträge zur Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Festgruß für H. v. Helmholtz, Hamburg u. Leipzig 1891). Vergl. Aesthet. Lit. Bericht, Philos. Monatshefte XXVI 1890.

4) Gottfr. Semper, Kl. Schriften. Berlin 1884. S. 294.

5) Daß auch diese Orientierung sich physiologisch aus der innern und äußern Organisation des Menschen erklärt, bedarf hier keiner Ausführung.

6) Adamy, Architektonik I, Die Architektur als Kunst, Hannover 1881. S.74 f: "In der Architektur haben wir es mit der Darstellung der Begriffe Kraft und Last für das Gefühl zu tun." Vgl. auch Schnaase, Gesch. d. bild. Künste I, S. 32 f.

7) Lotze, Grundzüge der Aesthetik. Leipzig 1884. S. 33 f.·Redtenbacher, Tektonik, Wien 1881. S. 230 f.

8) Vgl. Schleiermachers Ausspruch: "ein Gebäude ist wie eine Krystallisation zu betrachten" u. s. w.

9) So z. B. der Obelisk. Er ist nur ein tektonisches, noch kein plasttisches Gebilde, das Symbol eines andern Wesens außer uns, das aufgerichtete Wahrzeichen eines eigenen Gedankenkreises, die Dominante einer Welt für sich.

10) So fordert auch Schliepmann a. a. O. S.31, man sollte davon abkommen "alle Räume unter einen Hut zu bringen". Welche Grundgesetze der Raumkomposition sich aus unserm Princip, der Raumumschließung eines wirklichen oder idealen Subjekts, ergeben, ist Sache einer spätern Nutzanwendung, die wir vorbehalten. Die ganze Durchführung dieser Lehre habe ich schon seit zehn Jahren in Göttingen und Breslau als Bestandteile meiner Einleitung in die Kunstgeschichte vorgetragen.