Thema
1. Jg., Heft 1
Oktober 1996

Eduard Führ
Praktische Ästhetik


(zurück zur Einleitung)

 

I. Alltagswelten




Wieviel Engel sitzen können
auf der Spitze einer Nadel -
wolle dem dein Denken gönnen,
Leser sonder Furcht und Tadel!

`Alle!' wird's dein Hirn durchblitzen.
`Denn die Engel sind doch Geister!
Und ein ob auch noch so feister
Geist bedarf schier nichts zum Sitzen.'

Ich hingegen stell den Satz auf:
Keiner! - Denn die nie Erspähten
können einzig nehmen Platz auf
geistlichen Lokalitäten.

Kann ein Engel Berge steigen?
Nein. Er ist zu leicht dazu.
Menschenfuß und Menschenschuh
bleibt allein dies Können eigen.

Lockt ihn dennoch dieser Sport,
muß er wieder sich ver-erden
und ein Menschenfräulein werden
etwa namens Zuckertort.

Allerdings bemerkt man immer,
was darin steckt und von wo -
denn ein solches Frauenzimmer
schreitet anders als nur so.

Christian Morgenstern




1. Frl. Zuckertort

4/ Wenn man sich wissenschaftlich mit Architektur beschäftigt, so spricht man über sie. Man spricht über sie meist anhand von sekundären Medien, wie Plänen oder Fotos. Das geht nicht anders und wir sind geübt, die primäre dingliche Präsenz aus dieser sekundären Existenz mit Hilfe von Sprache und Begriffen zu re-präsentieren und dabei kognitiv zu re-konstruieren. Dabei besteht die Gefahr, die Architektur allzuschnell in einen intellektuellen, geistigen Raum zu heben und sie dann auch nur als Geistesinhalt zu nehmen.
Dies belegen die letzten Jahrzehnte immer stärker, wenn man sich etwa die Produktion der Postmoderne durch Jencks oder die Produktion des Dekonstruktivismus durch die MOMA - Ausstellung gleichen Titels oder die Erzeugung von Tschumis La Villette durch Derrida vergegenwärtigt.
Ich möchte deshalb in einem ersten Kapitel auf die materiale Präsenz von Architektur und Nutzer eingehen.

A. Dinglichkeit

5/ Menschen existieren als natürliche Körper, also als mechanische, elektrotechnische, chemische, physiologische Systeme; sie sind in das allgemeine physikalische Wirkungsgefüge gebunden, sie sind Ursache und Wirkung physikalischer Vorgänge.


6/ Die Dinglichkeit der Architektur ist für den Menschen nur insofern grundlegend, als er selbst fundamental Ding ist. Kein Engel paßt auf die Spitze einer Nadel "denn die nie Erspähten - können einzig nehmen Platz auf - geistlichen Lokalitäten."
Diese fundamentale Dinglichkeit wollte z. B. Hannes Meyer in seinen architekturtheoretischen Äußerungen und in seiner Architektur zum Ausdruck bringen: Bauen, so sagt er 1928 in der `bauhaus'-Zeitschrift, `ist ein biologischer Vorgang', Architektur ein `biologischer Apparat für seelische und körperliche Bedürfnisse' (Meyer 1928). Bios, Leben ist für ihn "... drang zur harmonie,. wachsen heißt das streben nach harmonischem genuß von sauerstoff + kohlenstoff+ zucker + stärke + eiweiß." (Meyer 1929)
Dieser Satz ist so einseitig, wie er richtig ist. Er spricht das nicht hintergehbare Fundament menschlichen Seins an.
Menschen sind nicht autonome, d. h. von den physikalischen Kräften der Umgebung unbeeinflußte Wesen, sondern sie sind physikalisch in ihr verankert. Die physikalische Wirklichkeit ist das Fundament, das uns Sein ermöglicht. Es nötigt uns Handeln (und das heißt auch wohnen) ab und ermöglicht es gleichermaßen.
Bauliche Anlagen sind somit nicht Schachtel für den Körper und nicht einfach Hülle, sondern sie sind ein Gefüge materieller Wirkungen, zu dem das Menschending als ein Element unter anderen gehört.


7/ Der menschliche Körper ist - wie jedes andere Ding - zugleich auch Konstituent einer physikalischen Welt: Er kann nur bestimmte Kräfte rezipieren und produzieren, er kann nur bestimmte elektrische, und chemische Vorgänge durchführen und agiert und reagiert physiologisch und biologisch in bestimmter Weise.
Nehmen Sie als Beispiel physikalische Wellen. Aus der sehr differenzierten und umfangreichen Gesamtheit aller Wellen ist es nur eine Auswahl, auf die Menschen physikalisch reagieren (was man auf einer anderen Ebene, als diejenige, um die es jetzt geht, als Sehen, Hören und so weiter sinnhaft interpretiert); zugleich senden Menschen nur begrenzte Frequenzen und Amplituden aus.
Menschen haben somit einen genuinen physikalischen `Horizont', sie generieren ein bestimmtes physikalisches Seinsfeld, phänomenologisch gesehen eine physikalische `Welt'.
In der Architektur sind dies die Bereiche, mit denen sich Bauingenieure, Baumediziner und -physiologen beschäftigen. Dazu gehört etwa, daß ein Haus eine Öffnung haben muß, um es zu betreten, genauso wie das Fenster, wenn man denn hinaussehen können soll. Das Gewicht eines Menschen spielt eine Rolle für die Tragfähigkeit von Böden, der Luftumsatz beim Atmen für die Raumgröße und die Lüftungseinrichtungen. Dazu zählt aber auch die bestimmte Raumtemperatur, die sich zwischen 10/15 Grad Celsius bis zu 40/50 Grad Celsius bewegen darf, diese Grenzen aber auf keinen Fall länger überschreiten darf, wenn der biologische Apparat nicht kollabieren soll. Das gilt auch für die Akustik, was den Hall und Nachhall betrifft oder für bestimmte Eigenschaften der Wand (feuchtigkeits- und wärmebezogenes Verhalten) das für ein optimales Funktionieren des menschlichen Körpers und dessen `Wohlempfinden' von großer Bedeutung ist.


8/ Der jeweils spezifische Körper entwirft eine Welt, denken Sie etwa an die Welt der Blinden oder auch nur an die der Linkshänder. Veränderungen des Körpers können die Welt modifizieren, etwa bei veränderten quantitativen oder qualitativen Aktivitäts- oder Rezeptionsmöglichkeiten (körperlicher Behinderung oder Lähmung, Sehschwäche oder Blindheit, körperlicher Größe, Trainiertheit usw).

Dies möchte ich an der `Frankfurter Küche', einem Musterbeispiel für den `Funktionalismus' erläutern.


Abbildungen 1a-d: Frankfurter Küche
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9/ Sie wurde 1922-26 von Schütte - Lihotsky im Rahmen der Planungen von Satellitensiedlungen von Ernst May in Frankfurt/Main entwickelt (siehe etwa Mohr/Müller 1984, S. 122/123) und war eines der bedeutendsten architektonischen Experimente im Wohnungsbau in Deutschland vor dem 2. Weltkrieg.
Es gab sie in unterschiedlichen Varianten, von denen ich nur eine herausgreife.


10/ Uns interessiert hier die physikalische Ordnung.
Der Raum ist 1,90 m x 3,44 m groß, hat an der einen Schmalseite die Tür, an der anderen ein Fenster; er ist mit diversen Möbeln eingerichtet.
Ein Raum muß - wenn er Sinn machen soll - eingerichtet sein. Hier in der Küche sind es vorwiegend Arbeitsgeräte. Lassen Sie mich auf das eingebaute Bügelbrett näher eingehen.

Abbildung 2: Bügelbrett
(Klicken Sie auf das Bild für eine grössere Version. [40KB])


11/ Eine Möglichkeit, Wäsche zu plätten - was ja schon selbst eine kulturelle Norm ist - ist das Bügeln. Bügeleisen und Bügelbrett sind dabei physikalische Geräte, die das Bügeln prinzipiell ermöglichen und erleichtern sollen. Die Geräte müssen prinzipiell die Art der Wäsche (etwa Blusen- und Hosenschnitte), die zu erzielende Temperatur (nicht leicht brennbare Materialien) und die körperlichen Möglichkeiten der Menschen (etwa bezüglich der Höhe der Bügelplatte) berücksichtigen und in einer materialen Konkretisierung umsetzen.
Das konkrete Bügelbrett der `Frankfurter Küche' ist hinter der Eingangstür fest installiert. Man kann es zur Benutzung herunterklappen.


12/ Was erzeugt die konkrete physikalische Konstellation des Raumes und des Bügelbrettes für eine physikalische Welt?
Diese physikalische Konstellation des Raumes und die physikalischen Bestimmungen der Menschen bewirken, daß nur 1 Person in der Küche tätig sein kann (wenn man sich nicht total behindern will).
Das Bügelbrett ist, so wie es installiert ist, nur für einen Rechtshänder und von seiner Höhe her nur für einen Menschen von einer bestimmten Größe geeignet. Es bringt den Benutzer dazu, mit dem Gesicht zur Wand zu stehen. Durch die physikalischen Eigenschaften der Wand und die physikalischen Vermögen des Menschen (Maximum an rezipierender und produzierender Lautstärke und Kraftaufwendung), durch seine biologische Konstellation (z. B. Augen nur nach vorne) und durch die Stellung vor der Wand wird er selbst als Richtig- oder Falschhänder, als richtig groß oder falsch groß definiert und zugleich werden ihm bestimmte Aktionen ermöglicht und verunmöglicht (er kann nur auf die Wäsche oder gegen die Wand sehen und er kann nicht oder nur sehr schwer kommunizieren).
Damit wird das Bügeln in diesem kleinen Raum und an dieser Stelle sowohl den Körper isolieren, seine sensorischen Erlebnisse reduzieren und ihn normativ bewerten.


13/ Ich habe deutlich zu machen versucht, daß es keine sachlich neutrale technische Wirklichkeit gibt, die unabhängig vom menschlichen Körper betrachtet werden kann. Schon die physikalische Umgebung der Menschen ist eine menschliche Welt.
Ich habe bei der Erläuterung aber noch einen Fehler gemacht. Ich habe noch nicht deutlich gemacht, daß der Körper der Menschen nicht durch Natur gegeben ist, in gewisser Weise nicht geboren wird, sondern durch die Menschen hergestellt wird. Der Körper der Menschen ist ein `Leib'.


B. Leiblichkeit


14/ 'Leib' ist ein Begriff aus der Phänomenologie; er meint, externe Dinge in das, was ich `meinen Körper' nenne, zu integrieren, sie zu inkorporieren, aber zugleich auch, mich selbst in die Dinge meiner Umgebung zu projizieren, mich zu exkorporieren.Mit dem Leib hat man auch eine Welt.
Der Begriff `Leib' geht letztlich auf Husserl zurück, in den letzten Jahrzehnten ist Vieles dazu geschrieben und im Detail analysiert worden. Ich selbst werde hier nur die wichtigsten Aspekte skizzieren und mein eigenes Verständnis darstellen.


15/ Jeder arbeitet an der Herstellung seines Körpers - er muß nicht unbedingt Bodybuilder sein. Ich trage eine bestimmte Frisur, rasiere mich oder nicht, treibe diesen oder jenen Sport oder gerade keinen, esse Fleisch oder keins, rauche, trinke Alkohol oder nicht. Dies ist Arbeit am Körper.


16/ Das, was mein gegenständliches `Ich' ausmacht, ist nicht nicht notwendig identisch mit meinem Körper. Manche dicken Leute meinen, sie haben einen normalen Körper, auf dem Fettpolster angebracht sind, die nicht zum Körper gehören, daß sie mehr wie Kleider sind, aber leider nicht wie Kleider ausgezogen werden können. Ihr Leib ist in dieser Hinsicht weitaus kleiner als ihr Körper.
Andererseits gilt für Brillenträger, daß sie morgens erst dann komplett sind, wenn sie die Brille aufgesetzt haben. Als Mensch der Neuzeit ist man zudem erst dann Mensch, wenn man sich angekleidet hat; die Art der Kleidung wechselt zwar, Kleidung überhaupt ist aber zur Herstellung des körperlichen `Ich' äußerst wichtig. Das merkt man, wenn man durch einen Raub oder durch ein Feuer seine ganze Kleidung verloren hat. Ein Stück `Ich' ist verloren und muß erst mühselig wieder von einem selbst hergestellt werden; es geht nicht, daß irgendwer losläuft und für einen eine Anzahl Hosen und Hemden kauft.

17/ Wenn man also angekleidet ist, so merkt man daran, daß auch die Kleider Teil des eigenen körperlichen `Ichs' sind, daß man z. B. beim Gehen ja nicht auf die Schuhe, oder auf die Strümpfe tritt, sondern auf den Asphalt; die Schuhe gehören zum eigenen Körper, die Außenseite des Körpers ist die Außensohle der Schuhe. Die Schuhe sind in meinen Körper inkorporiert, mein Körper ist bis in die Schuhe exkorporiert.


18/ Merleau-Ponty, auf den ich mich hier verstärkt beziehe, erläutert die Leiblichkeit anhand eines Blindenstocks.
Die Benutzung eines Stocks durch einen Blinden zur Ertastung der Umwelt führt nach einer Zeit der Gewöhnung dazu, daß der Blinde mit der Spitze des Stockes fühlt; also er tastet nicht mit der Handfläche den Griff des Stockes ab, sondern in ihm seine Umgebung. Der Blinde hat damit durch Handeln und durch die Benutzung von Instrumenten in gewisser Weise ein Sinnesorgan, den Tastsinn weiter nach außen verlegt und dadurch das Auge substituiert. Er hat seine Körpergrenzen in den Stock ausgeweitet oder - andersherum gesagt - den Stock einverleibt.


19/ Der Blinde ist dabei an die Handlungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten des Stocks gebunden (er hat eine bestimmte Länge, er informiert über plastische Eigenschaften des abgetasteten Objekts und über dessen Lage im Raum; er ermittelt auch indirekt - durch Geräusche - Informationen über die Materialbeschaffenheit, leitet jedoch keine Wärme und übermittelt keine Farben usw.)
Der Blindenstock ist eine Ausweitung des Leibes, er ist aber keine Verlängerung des Körpers.


20/ In diesem Vorgang verschwindet der physikalische Unterschied zwischen Ding und Raum
Raum ist nicht länger mathematisch oder physikalisch definiert. d. h. er ist nicht länger leer, isotrop
und homogen. Vielmehr hat er phänomonologische Eigenschaften (dazu etwa Ströker 1976)


20/ Der phänomenale Raum ist niemals leer, er wird vielmehr durch die Dinge konstituiert. Es ist immer eine Welt der Dinge in bestimmter Ordnung und mit bestimmter Sinnhaftigkeit. Da die Dinge eine eigene exkorporierte Subjektivität erlangt haben, bilden sie eine eigene phänomenale Welt, die nicht mehr der aktuellen Präsenz eines konkreten Subjekts bedarf.


21/ Die konkrete Sinnhaftigkeit eines bestimmten Raums entsteht in der jeweiligen Ordnung der Dinge. Ich möchte das wiederum an der `Frankfurter Küche' erläutern. (Merleau-Ponty nahm ein Piano als Beispiel und zeigte, daß ein geübter Klavierspieler sich die räumliche Anordnung der Tastatur einverleibt haben muß. Denn wegen der Geschwindigkeit mancher Stücke ist es physiologisch unmöglich, zuerst die richtige Taste visuell zu suchen und dann den Finger an die entsprechende Stelle zu bewegen. Vielemehr `weiß' man, wo die Note anzuschlagen ist, das Sehen gibt dazu nur eine gewisse Hilfestellung.) Der leibliche Sinn des an dieser Stelle angebrachten Bügelbrettes ist es, das Bügeln zu erleichtern, indem man etwa eine Chance zum Bügeln im Stehen bietet. Das Bügelbrett wird bespielt wie ein Klavier, die in ihm angelegte räumliche und dingliche Konstellation inkorporiert.


22/ Dabei konstituiert sich Sinn: das Bügeln wird zu einer den oder die Bügelnden isolierenden Tätigkeit. Man kann dabei keine Kinder betreuen und mit niemanden kommunizieren. Wie gut könnte man etwa bei dieser langweiligen Tätigkeit des Bügelns plaudern. Dies ist weitgehend ausgeschlossen. Alternativen, wie etwa das gemeinsame Bügeln in einem von mehreren Wohnungen genutzten Waschraum, werden unterlassen. Die Frauen werden also familialisiert, wobei sie innerhalb der Familie dann noch zu Küchen-Eremitinnen gemacht werden.
Das Bügelbrettes definiert also letztlich das Bügeln als eine einsame, a-soziale und unkommunikative Tätigkeit. Die Reduktion der Bewegungsfläche führt zu einer Destruktion des Sozial- und Handlungsraumes. Die arbeitende Person wird - mehr oder weniger - zu einer biologischen Arbeitsmaschine. Die Küche entlastet die anderen Räume von der Küchenarbeit und gibt ihnen den Charakter von arbeitsfreien reinen Sozialräumen. Und das wiederum definiert Familie als Freizeitsozialität.


23/ Im hier gezeigten Beispiel, der Frankfurter Küche, zeigt sich im Extrem das eingeschränkte Verständnis der Funktionalisten vom Alltag. Körper und Geist werden getrennt gedacht. Das Körperliche soll reduziert werden, damit der Geist frei werde.
Tatsächlich jedoch ist die Reduktion des Körpers eine Zerstörung der sozialen Beziehungen und der Möglichkeiten der kognitiven Welthabe. Menschen sind eben keine sachlichen, technischen Maschinen, keine Techneme (Baudrillard 1968), sondern sogar in der einzelnen Zelle und im einzelnen Atom ein kultureller Entwurf, in dem sich Sozialität und Intellektualität ermöglicht und Geschichte präsentiert.
Der Leib ist das Medium der Welthabe. Er ist immer eine kulturelle und damit weltanschauliche Konstruktion schon auf der Basis seiner Dinglichkeit. Der Leib als Medium der Welthabe gibt die Bedingungen der Wirklichkeit der Welt; d. h., daß es einerseits keine Welt ohne Leib gibt, andererseits sich aber auch nicht die Dinge aus der Dinglichkeit des Leibes deduzieren lassen, wie etwa die Form einer Wohnung aus der Größe eines englischen Bobby mit ausgestrecktem Arm (Le Corbusiers Basis für den Modulor)


C. Sinnlichkeit und Kognitionen (Erinnerung, Erfahrung, Emotionen, Erkenntnis, Abstraktion)


24/ Die Sinne (die übrigens nicht nur aus Sehen besteht) sind keine Instrumente, Außeninformationen ins Hirn zu transportieren, sondern Teile von Körper und Leib. Am sensorischen Vorgang ist immer der gesamte Körper, Herz, Hirn und Verstand beteiligt. Der sensorische Vorgang ist niemals nur rezeptiv, sondern besteht immer auch in subjektiver Aktivität.
Er hat seine eigenen Bedürfnisse (Stichwort: sensorische Deprivation) und kann Frustration, Verarmung, `Taubheit', aber auch Freude und Lust erzeugen.


25/ Menschen können sich aber auch erinnern, Zukunften entwerfen und abstrakt denken. Menschen haben ein Gehirn im Kopf, das Gehirn ist Teil ihres Körpers.
Es kann keine Welt geben ohne intellektuelle Verarbeitung. Schon das Fallen eines Apfels ist eine intellektuelle Interpretation, die setzt, daß der Apfel in einem bestimmten Moment des Falles der gleiche ist wie in dem vorhergehenden und in dem nächsten und daß es eine ganz bestimmte Kohärenz gibt zwischen diesen Momenten. Jedes Ereignis hat einen Verstehensraum, ist in die Gegenwart mündende Vergangenheit und aus ihr entspringende Zukunft.
Erinnerung und Erfahrung führen über den isolierten Gegenstand hinaus auf Verlaufs- oder auch auf Ordnungsregelmäßigkeiten, sie werden zu begrifflicher Erkenntnis abstrahiert.
Mit den Repräsentationen der realen Außenwelt kann in wissenschaftlich formalisierter Weise operiert werden.


26/ Da das vereinzelte Objekt oder die konkrete Handlung zumeist Teil in einem weitreichenden Zusammenhang ist, müssen die Resultate der unmittelbaren Erfahrung immer ein- oder zugeordnet, allgemeiner gesagt: interpretiert werden; Erfahrung und Reflektion werden zu einem mehr oder weniger beständigen System, zu einer alltäglichen Wissenschaftswelt gefügt.
Dabei besteht ein fließender Übergang zu einer systematischen Wissenschaftswelt; Alltagsmensch und Wissenschaftler, Betroffener und Fachmann schließen sich als Existenzweise nicht gegenseitig aus.


27/ Die Ausdifferenzierung der Wissenschaften in die Fachwissenschaften, und der Fachwissenschaften in ihren Wissenschaftstheorien sind historische Vorgänge. Das ist auch sicher sinnvoll und wissenschaftstheoretisch nicht zu kritisieren. Die dabei faktisch aber aufgetretene Autonomisierung und Ausgrenzung einzelner Wissenschafts und Wissensbereiche sind aber wissenschafttheoretisch nicht zu halten.


28/ Das führt auch dazu, den historisch entstandenen, aber noch gar nicht so alten Begriff des `Funktionalismus' infragezustellen. Da der Begriff des Menschen und der seiner Bedürfnisse gegenüber der im alten `Funktionalismusbegriff' zugrundegelgten auszuweiten ist, ist der `Funktionalismus' ebenfalls auszuweiten. Denn ich sehe keinen Grund, die Bedürfnisse nur auf den Bereich des instrumentalen und sozialen Handelns sowie auf einen Teil des Körperlichen zu beschränken; Bedürfnisse bestehen ebenfalls in den kognitiven Bereichen. Ohne geistige Anregung, ohne Möglichkeiten der Welterfassung und Welterklärung sind Menschen als Menschen nicht existenzfähig.

Es gibt keine prinzipielle Trennung von physikalischem Sein, instrumentalem und sozialem Handeln sowie Kognitionen; Merleau-Ponty nennt dies `Praktognosie'.


2. Interaktionen
Ich möchte nun noch einmal in einem besonderen Abschnitt die Interaktion zwischen dem körperlichen und leiblichen Subjekt und der körperlichen und phänomenalen Welt betrachten.

A. Die Objekte lauern
    "O, das Objekt lauert. Ich setze mich nach dem Frühstück frisch, wohlgemut an die Arbeit., ahne den Feind nicht. Ich tunke ein, zu schreiben, schreibe: ein Härchen in der Feder, damit beginnt es. Der Teufel will nicht heraus, ich beflecke die Finger mit Tinte, ein Flecken kommt aufs Papier, - dann muß ich ein Blatt suchen, dann ein Buch und so weiter, kurz, der schöne Morgen ist hin. Von Tagesanbruch bis in die späte Nacht, so lang irgend ein Mensch um den Weg ist, denkt das Objekt auf Unarten, auf Tücke .... So lauert alles Objekt, Bleistift, Feder, Tintenfaß, Papier, Zigarre, Glas, Lampe - alles, alles auf den Augenblick, wo man nicht Acht gibt. ... Wie der Tiger im ersten Moment, wo er sich unbeobachtet sieht, mit Wutsprung auf den Unglücklichen stürzt, so das verfluchte Objekt..."
    Friedrich Theodor Vischer; Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft; 1879
    (zit. nach insel taschenbuch; Ffm 1987, S. 30)
29/ Architekturen haben Faktizität; sie sind primär nicht Widerspiegelung, mehr und anderes als nur Intention, mehr und anderes als ihre Wahrnehmung. Sie sind eigenständig, selbtätig, und möglicherweise destruktiv. Sie `lauern'. Diesen Begriff hat Friedrich Theodor Vischer im Rahmen seiner Abwendung vom Hegelianismus im Roman über einen Hegelianer benutzt, den die Materialität der Welt permanent bedroht.
Natürlich lauert das Ding nicht in dem aktiven und volutativen Sinne, den Vischer herausstellt.
In dem Arbeitsvorgang `Wohnen' haben aber die Dinge und die dingliche Welt durchaus ihre Eigenständigkeit und die Menschen bedrängende Aktivität


30/ Niemand hindert mich, eine Achse im Zick-zack-gang entlangzugehen, und doch tue ich es in der Regel nicht. Natürlich ist es auch nicht sehr effektiv. Aber das ist nicht das Kriterium. Denn ich folge ja - sehr uneffektiv - auch dem sich durch die Wiesen mäandernden Weg in einer englischen Gartenanlage und gehe nicht gerade aus über die Wiese zu meinem Ziel.
Ich könnte auch (bei der `Frankfurter Wohnung') auf dem Wohnzimmertisch bügeln. Aber ich ziehe die Küche vor, weil das Bügelbrett lauert, weil es mit der Versprechung lockt, mir das Tun und somit das Leben zu erleichtern. Und, mit einem Sprung hat es mich in seine Welt geschlungen.
Dinge wollen richtig gemacht sein und nicht nur, wenn es sozial kontrolliert wird.

B. Vom Wohnen in den Dingen


31/ Ich war schon bei der Analyse der Frankfurter Küche auf das handelnde Aneignen, also das Wohnen in der körperlichen und phänomenalen Welt eingegangen.
Ich hatte auch - glaube ich - deutlich machen können, daß dieses instrumentale Handeln imgleichen soziale Qualitäten hat.
Ich habe aber bisher sehr stark den einzelnen Menschen betrachtet. Aber - wie Norbert Elias gesagt hat - es gibt nicht den Menschen. Menschen kommen immer nur in der Mehrzahl vor.
Instrumentales Handeln ist auch soziales Handeln. Handeln ist nur in Grenzfällen individuell; von der Geburt bis zum Tod ist es sozial, es findet entweder in einem sozial vorbestimmten Umfeld statt oder ist eine direkte soziale Interaktion.
Sowenig Menschen unabhängig von der konkreten Ausstattung ihrer materiellen Umwelt verstanden werden können - wie ich gerade dargelegt habe - sowenig ist die soziale Welt, sind soziales Handeln und soziale Strukturen, von Körper der Handelnden, der Dinglichkeit der materiellen Welt und der instrumentalen Umwelt zu trennen.

C. Polyversum

32/ Es ist mir wichtig hervorzuheben, daß Dinglichkeit, Körper, Leib, Sinne und Kognitionen der Menschen keine separaten aufeinander aufbauenden Schichten sind. Es sind eigenständige Seinsaspekte, die ineinander integriert sind. Sie können durchaus konfligieren; hier wäre etwa der - traditionelle - Phantomarm zu erwähnen als Konflikt zwischen Körperwelt und Leibwelt oder der Unterschied der Inhalte von klassischer Architekturgeschichte und lebensweltlicher Aneignung von Architektur als Konflikt zwischen Lebenswelt und einer nach wissenschaftstheoretischen und architekturtheoretischen Kriterien geordneten Wissenschaftswelt.

33/ In der Regel arbeiten Viele an unterschiedlichen Konzepten. Es gibt synchrone und diachrone soziale Welten, eine Mitwelt und eine Vorwelt. Vorwelt und Mitwelt vermischen sich in der Regel, die Mitwelt ist in der Regel nicht von grund auf neu entworfen und die Vorwelt ist zum Teil immer in der Mitwelt enthalten.

34/ In der Regel hat man es mit einem Wust von unterschiedlichen geschichtlichen mit unterschiedlichen von anderen entworfenen Stückwelten und mit sich im Prozeß der Realisierung befindlichen eigenen Welt zu tun. Das macht die phänomenologische Lebenswelt heterogen, widersprüchlich und stückhaft.

35/ Nur ein toter Mensch könnte seine eigene und einheitliche Welt haben, wie Adolf Loos es in der Geschichte `vom armen, reichen manne' erzählt (Loos 1921)
Welt muß immer realisiert werden. Man muß die Gegebenheiten nutzen, sie umzusetzen. Deshalb auch ist die Herstellung der eigenen Welt immer eine Auseinandersetzung mit Weltzumutungen. Wohnen ist immer ein Verändern, ein Zurechtstellen und ein Umordnen. Das Wohnen als Welt verändernde Aktivität gelingt nie vollständig.


D. Der Spielcharakter der Architektur
Ich habe mich bisher vorwiegend auf Gebäude als die architektoniche Einheit bezogen. Tatsächlich ist es jedoch die Stadt. (Dabei verstehe ich `Stadt' als wissenschaftstheoretische Einheit, also sowohl als Großstadt, Kleinstadt, Siedlung, ländliche Agglomeration.)


36/ Wichtig ist, daß diese Einheit nicht ein einzelnes Basiselement ist, sondern vielmehr das hierarchische Gefüge als Ganzes faßt, das in sich ausdifferenziert ist. Stadt ist ein Gefüge von Gebäuden, Räumen, Plätzen, Straßen usw., ein Gebäude ist ein Gefüge von Zimmern, Gängen, Erschließungen, ein Zimmer ist ein Gefüge von baulichen Gegebenheiten und Einrichtungsgegenständen usw. Architektur ist materiale, konkrete, statische Ordnung der jeweiligen Teile.

37/ Der Umgang mit ihr vergegenwärtigt sie, stellt ihre Präsenz her. Mit dieser Präsenz wird aus der statischen Ordnung ein Gefüge von Ereignissen und von Dauern.
Konkrete materiale Architektur und das komplexe Handlungsereignis stehen zueinander wie ein Spielfeld mit seinen Spielregeln zum konkreten Spiel oder wie eine Partitur zu einer bestimmten Aufführung.
`Spiel', das heißt, daß es material determinierende Gesetze ebenso wie sozial verbindliche allgemeine Konventionen gibt, wobei es jedoch konkrete performative Freiheiten gibt, die das Spiel zu einem jeweiligen machen. Das Spiel kann grundsätzlich geändert werden, wenn man die Konventionen durchbricht oder wenn man die materiale Ausstattung ändert.
Dies kann bisweilen schon durch eine singuläre bauliche Intervention geschehen (nehmen Sie als Beispiel die Öffnung der `Mauer'.)


E. Engagement und Distanz


38/ Damit das alltägliche Handeln gelingt, muß ich vorwiegend in Welten handeln, die nicht meine sind. Ich muß mich auf fremde Welten einlassen, um meine eigene Welt zu realisieren. Damit ich dies kann, muß ich mich zugleich von den fremden Welten distanzieren. Ich kann mich jedoch auch auf die Welten einlassen, um mich von meiner bisherigen eigenen Welt zu distanzieren oder aber um sie weiterzuentwickeln.

39/ Ich muß zur Verwirklichung meiner Ziele Dinge benutzen, die für anderes Tun geeignet wurden. Ich muß mich einerseits auf sie einlassen, um überhaupt mit ihnen handeln zu können. Wenn ich mich ihnen jedoch ausliefere, werde ich in eine andere Welt gezogen. Wenn ich sie also zur Verwirklichung meiner Welt benutze, muß ich mich zugleich einlassen und distanzieren. Wenn ich jenes mehr tue, so werde ich mich stärker in die fremde Welt inkorporieren, wenn ich das andere mehr tue, werde ich meine eigene Welt stärken oder aber - im Extremfall - den Gegenstand überhaupt nicht als ein mir hilfreiches Instrument erkennen und nutzen können.
Handeln im Alltag ist immer auch `basteln', um diesen von Levi-Strauss in die Handlungs- und Planungstheorie eingebrachten Begriff zu benutzen.


40/ Es ließe sich noch viel über den Alltag sagen, ich möchte dieses Kapitel jedoch hier abschließen mit zwei Anmerkungen, die das bisher Gesagte in gewisser Weise zusammenfassen:
- Der Alltag kann nicht grundsäzlich als banal und simpel verteufelt werden. Er ist nicht apriori geistlos, perpetuativ und subjektfeindlich, er steht nicht im Gegensatz zur geistvollen, innovativen und subjektivistischen Kunst. Der Alltag der Menschen ist - wenn er denn gelingt (und er scheitert gerne) und mit Bewußtsein erfolgreich durchgeführt wird - vielleicht das intelligenteste und spannendste Kunstwerk, das geschaffen werden kann.
- Das Ziel des alltäglichen Handelns ist nicht die Herstellung einer einzigen in sich harmonischen Welt, ist kein eindimensionaler (Marcuse) Alltag. Der Alltag gewinnt, wenn er sich ausdifferenziert, wenn er aus mehr oder weniger getrennten oder miteinander verschliffenen Welten besteht. Der Arbeitsalltag, den ich möglicherweise mit viel Glück tatsächlich so gefunden habe, wie ich ihn mir vorgestellt habe, den ich ideal gestalten kann, und bei dem ich auch noch die richtigen Kollegen vorfinde, der also meine Welt ist, in der ich mich selbst verwirklichen kann, muß doch nicht apriori mit der Welt meiner Reproduktions- und Freizeit übereinstimmen. Meine Arbeitswelt muß sich doch nicht als die eine Lebenswelt verallgemeinern.(Ich arbeite in der Fabrik, wohne in der Arbeitersiedlung und spiele in der Freizeit Fußball. Oder ich bin Akademiker, wohne in der uninahen Bungalowsiedlung und gehe in der Freizeit ins Museum.)

41/ Es hat die Menschen immer dazu getrieben, mehrere Welten zu haben und diese miteinander zu vernetzen. Fußballplatz, Museum, Kirche, Ferienhaus das alles waren und sind utopische Inseln, die sich innerhalb des Alltags mit Arbeitsplatz, Wohnung, U-Bahn und Kneipe verbinden. Jedes eine Welt für sich, jedes eine Welt für mich.

Ich möchte mich nun dem Zweiten Teil zuwenden und den Komplex von Kunst und Alltag von der anderen, von der Kunstseite her, betrachten:

II. Über die Symmetrie der Welt