Thema 1. Jg., Heft 1
Oktober 1996

Eduard Führ
Praktische Ästhetik

(zurück zur Einleitung)
(zurück I. Alltagswelten)

II: Über die Symmetrie der Welt

 

"1. Die Baukunst besteht aus Ordinatio, die griechisch Taxis genannt wird, Disposito, die die Griechen Diathesis nennen, Eurythmia, Symetria, Decor und Distributio, die griechisch Oikonomia genannt wird.
2. Ordinatio ist die nach Maß berechnete angemessene Abmessung (der Größenverhältnisse) der Glieder eines Bauwerks im einzelnen und die Herausarbeitung der proportionalen Verhältnisse im ganzen zur Symmetrie....


Dispositio ist die passende Zusammenstellung der Dinge und die durch die Zusammenstellung schöne Ausführung des Baues mit Qualitas....

3. Eurythmia ist das anmutige Aussehn und der in der Zusammensetzung der Glieder symmetrische Anblick. Sie wird erzielt, wenn die Glieder des Bauwerks in zusammenstimmenden Verhältnis von Höhe zu Breite und von Breite zu Länge stehen, überhaupt alle Teile der ihnen zukommenden Symmetrie entsprechen.
4. Symmetria ferner ist der sich aus den Gliedern des Bauwerks selbst ergebende Einklang und die auf einen berechneten Teil (modulos) beruhende Wechselbeziehung der einzelnen Teile für sich gesondert zur Gestalt des Bauwerks als Ganzem. Wie beim menschlichen Körper aus Ellenbogen, Fuß, Hand, Finger und den übrigen Körperteilen die Eigenschaft der Eurythmie symmetrisch ist, so ist es auch bei der Ausführung von Bauwerken."
(Vitruv; de architectura libri decem; übersetzt von Fensterbusch, Darmstadt 1976, S. 37, 39)


42/ Es geht in der `Praktischen Ästhetik' stets um die Frage, was Schönheit, insbesonders dabei auch, was Proportion und was ästhetische Ordnung ist und wie sie in Verbindung zum Alltag steht.
Der Begriff der `Praktischen Ästhetik' erscheint in der Philosophie als Überschrift zum zweiten, nicht ausgeführten Teil der Baumgartschen Ästhetik. In der Architektur wird der Begriff zu Ende des vergangenen Jahrhunderts vor allem im Zusammenhang mit Fragen der Verwissenschaftlichung der Disziplin, etwa bei Semper (Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik; München 1878/79) und mit der Entwicklung einer ästhetischen Position zur Stadt etwa von Camillo Sitte (Siehe das Vorwort zu `Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889), von Heinrich Maertens (Praktische Ästhetik der Baukunst und der gewerblichen Künste; Bonn 1885) und von Karl Henrici (Beiträge zur praktischen Ästhetik im Städtebau; München 1904; enthält einzelne zwischen 1891 und 1904 geschriebene Aufsätze) benutzt.

43/ Es geht mir in diesem Kapitel nicht darum, eine philosophische Geschichte des Konzepts der `Praktischen Ästhetik' vorzustellen, das ist weder möglich, da es sehr viele unterschiedliche Ansätze dazu gibt, die philosophiehistorisch keineswegs nur annähernd aufgearbeitet wurden, noch steht bei mir die philosphische Analyse im Vordergrund. Es geht mir vielmehr aus architekturtheoretischer Sicht darum, deutlich zu machen, daß die `Praktische Ästhetik' das zweite Bein - wenn man so will - der philosophisch entwickelten Ästhetik ist, eine sehr lange Tradition hat und gerade für das Medium Architektur geeignet ist.
Die Geschichte der Ästhetik in der Architektur reduziert sich bisher auf die Geschichte der idealistischen Ästhetik, wobei auch nur dann die Frage einer Einheit oder Trennung von Kunst und Alltag, bzw. von Baukunst und Funktion auftritt.


1. Vitruv

44/ In diesem zweiten Teil geht es also um Kunst in der Architektur, genauer um Symmetrie, um Proportion, also um die ästhetische Ordnung.
Wer besser könnte hier Gewährsmann sein als Vitruv. Er steht für den Anfang des Nachdenkens über Architektur. Letztlich beziehen sich alle Verständnisse von Kunst in der Architektur als Harmonie, als Proportion, auf ihn. Zwar gibt es im Laufe der Zeit unterschiedliche Verständnisse darüber, was eine gute Proportion ist. Manche beziehen sie mehr auf das eigene subjektive Gefühl, manche auf kalkulierbare Gleichungen. Daß Baukunst Proportion ist, ist aber unbestritten und wird architekturtheoretisch auf Vitruv zurückgeführt, wobei in Vitruvs Definitionen das damalige allgemeine Verständnis zum Ausdruck kommt.

45/ Proportion ist für Vitruv eine Relation einfacher ganzer Zahlen, wobei jede einzelne Zahl an sich schon einen bestimmten Wert hat, wie etwa die Zahl 6, die die vollkommenste ist. Vitruv stellt dies bei griechischen Tempeln ebenso wie bei den Relationen der einzelnen Körperteile der Menschen dar. (das kann man bei ihm in Buch III, Kapitel 1 nachlesen)

46/ Hervorzuheben ist dabei, daß die Äußerungen zur Proportion bei Vitruv sich nicht nur auf die Architektur beziehen. Denn Vitruvs `de architectura libri decem' handeln nicht nur über das Bauwesen, sondern auch ganz allgemein über Maschinen, über Uhren und über Astronomie. Dies alles definiert Vitruv als `architectura'.
Im 10. Buch etwa geht Vitruv auf Waffen ein und versucht auch hier, Proportionen als inhärente Gesetzmäßigkeiten zu entdecken bzw. beim Entwurf zur Anwendung zu bringen.

47/ Nehmen wir als Beispiel ein Katapult (10. Buch Kap. 10)
Alle Maße werden von der Länge des Pfeiles her abgeleitet (Länge = 10 Module); die Bohrung für den Pfeil soll 9 Module betragen. Die Länge des Bogenarmes soll 7 Module, die Dicke am inneren Ende 5/8 und am äußeren Ende 1/2 Module betragen. Im Weiteren wird jedes konstruktive Element, egal wie sehr es unter Krafteinwirkung steht, entsprechend berechnet.

48/ Nicht nur visuelle Ordnungen, sondern auch physikalische Zusammenhänge in der Welt sind also bei Vitruv (und natürlich vielen anderen Autoren der Antike) als arithmetische Proportionen formuliert. Proportionen sind - und nun ganz allgemein gesagt - rationale Erkenntnisse über die Ordnung der Welt. Die richtigen Zahlenbeziehungen entsprechen den den Gegenständen inneseienden wahren Gesetzmäßigkeiten. Die (ästhetischen) Prinzipien der Ordnung der Architektur sind die gleichen wie die der (ontologischen) Ordnung der Welt.


2. Die Entstehung der reinen Architekturästhetik
49/ Was wäre nun zu erwarten, wenn es im Laufe der Zeit zu einer Weiterentwicklung von Welterkenntis käme? Es hieße, daß dann auch die Ordnungsprinzipen innerhalb der Architektur entsprechend verändert werden müßten.
Nun haben sich dann im Laufe der Zeit tatsächlich die Verfahren, Methoden und Ergebnisse einer Erforschung der Ordnung der Welt im Rahmen der Ausdifferenzierung der Wissenschaften und der immensen methodischen Fortschritte der einzelnen Sparten weit über die Relationen einfacher ganzer Zahlen hinausbewegt.
Auch Vitruvs Einzelwissen und seine wissenschaftliche Methode, seine in Regeln und Gesetzen formulierte Gesamterkenntnis waren da nicht ausgenommen. Ganz im Vordergrund standen natürlich Wissen und Methoden in den Militärwissenschaft und der Astronomie. Niemand nimmt heute an, daß die physikalischen Regeln und Gesetze, nach denen man eine Waffe baut, in einfachen Beziehungen ganzer Zahlen bestehen kann.
Aber auch der Erkenntnisstand in der Architektur etwa zur Bauphysik, zur Statik und zur Baukonstruktion - um die modernen Begriffe zu nennen - wurden sehr schnell verbessert und als neue wissenschaftliche Erkenntnisse umformuliert.
50/ Niemand nimmt heute mehr an, daß sich die Länge und Dicke eines Spannseils nach einer Formel berechnen kann, die sich aus einem einfachen ganz-zahligen Vielfachen einer Bezugsgröße ergibt.

Dennoch wurde die antike `physikalische' Formel gerettet. Man hat sie aus dem Alltag ausgegrenzt und zu einer universalen idealistischen Bestimmung von Ästhetik permutiert. Durch diese Vergeistigung eines unreflektierte Bodensatz längst überholter, antiker Welterkenntnis zum Fundament einer universalen Architekturästhetik wird eine `Baukunst' definiert, die sich ebenfalls im Gegensatz zum Alltag definiert.

(Ich bin mir bewußt, daß man die Definition von Baukunst nicht auf den Begriff Proportion beschränken kann. Hinzukommen noch weitere Aspekte, wie etwa eine ideale Architektursprache (Säulenordnung) und das typologische Denken. Das möchte ich jedoch hier aus der Überlegung ausklammern.)

51/ Ich möchte nun zum Beleg der Behauptung der Verbreitetheit der `Praktischen Ästhetik', und mehr als Grundlage für spätere weitergehende Überlegungen denn als eine moderne abgeschlossene Theorie zwei philosphische Konkretisierungen einer `Praktischen Ästhetik' angeben. Ich habe gerade diese beiden Autoren ausgewählt, weil es neben den Überlegungen zu der Einheit von Kunst und Leben, wie sie im Zusammenhang mit der Russ. Revolution, etwa durch Tretjakov oder Meyerhold formuliert und umgesetzt wurden, bei denen es sich eher um postulative Aussagen geht, sich hier um eher analysierende und in einen phänomenologischen Zusammenhang einzuordnende Ansätze handelt.


3. Anthony Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury (The Moralists, 1709)

52/ Lord Shaftesbury (1671 - 1713), Schüler Lockes, wird im englischsprachigen Raum als Vater der Ästhetik verstanden (für den deutschsprachigen Raum ist dies Baumgarten).
Der Text `Die Moralisten' handelt in Dialogform über Fragen der Moral und des Schönen, wobei unter Moral hier nicht der gehobene Zeigefinger, sondern das richtige Tun verstanden wird.

Ästhetik als Kosmologie
53/ Es kann nicht darum gehen, das Schöne in seiner Vereinzelung zu fassen. Die ganze Schönheit kann auch nicht in einzelnen Subsystemen liegen.
Man muß die ganze Menschheit einbeziehen:
    "Gesetze, Verfassungen, bürgerliche und gottesdienstliche Bräuche, alles was die rohe Menschheit bessert und verfeinert, Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Moral, Tugend, der Wohlstand der Menschen und die Vervollkommnung der menschlichen Natur, das sind herrliche Aussichten und reizende Schönheiten..." (S. 59)
Aber auch das ist noch beschränkt. Sie geht auf das Ganze, auf die `versöhnende Ursache', `welche alles zusammenhält' (S. 59), sie geht auf die Natur (60). Dabei ist diese Idylle keine Schäferidylle (E.F.), sondern eine `Ordnung des Höheren und Niederen' und `gründet sich auf Gegensätzen' (60).
    "So wird in den verschiedenen Klassen irdischer Wesen Hingabe und Selbstaufopferung, ein gegenseitiges Nachgeben und Anpassen aneinander gefordert. Der Tod der Pflanze erhält das Tier, doch in der Erde löst sich wieder der tierische Körper und erweckt aufs neue die Welt der Pflanzen...Hier herrschen die Gesetze, welche nicht zugunsten irgend eines beliebigen Dinges geändert werden können ... Die Luft, ..., die Dünste, ..., die Wolken über unserem Haupt, oder was sonst der Erhaltung der Erde dient, muß nach dem Laufe der Natur wirken, und die anderen Einrichtungen müssen sich der Ordnung und den Gesetzen des allerhaltenden Weltkörpers anpassen." (60/61)
54/ Die einzelnen Elemente des Kosmos stehen in Verbindung zueinander, der Baum ist einerseits mit der Erde, mit Luft und Wasser verbunden. Andererseits dient er als Futter für Tiere, die sich wiederum in ihrem Körperbau den Elementen, in denen sie leben, anpassen. (S. 108)

In diesem Ganzen der aneinanderangepaßten Elemente richtet Shaftesbury nun seine Aufmerksamkeit auf dessen Ordnung und Vollkommenheit.
    "Nichts ist gewiß stärker unserem Verstande eingeprägt oder tiefer in unserer Seele verwoben als die Idee von Ordnung und Ebenmaß. Daher die große Gewalt der Zahl und aller jener mächtigen Künste, die sich auf ihre Handhabung und ihren Gebrauch gründen.Welch ein Unterschied zwischen Harmonie und Mißklang, Rhythmus und Willkür! Welch ein Unterschied zwischen wohl abgemessener, ordentlicher und wilder und willkürlicher Bewegung, zwischen dem regelmäßigen, gleichförmigen Bau eines edlen Architekten und einem Sand- und Steinhaufen, zwischen einem organisierten Körper und einem vom Winde umhergetriebenen Nebelgewölk!
    Wie nun dieser Unterschied unmittelbar durch eine klare, innere Empfindung wahrgenommen wird, so läßt sich auch aus der Vernunft noch folgender Grund davon angeben: alle Dinge, in denen sich Ordnung findet, haben auch Einheit des Zweckes und treffen in einem gemeinschaftlichen Punkt zusammen, sind entweder Teile eines einzigen Ganzen oder bilden für sich selbst ganze Systeme. Ein solches ist z. B. ein Baum mit allen seinen Zweigen, ein Tier mit allen seinen Gliedern, ein Gebäude mit allen seinen äußeren und inneren Verzierungen..." (107)
55/ Der Kosmos besteht nicht in einem statischen System, sondern hat eine prozessuale Ordnung (68) "Daher kann es kein Gut geben, das dauert und bleibt. Das Glück ist etwas, das außerhalb des Weges liegt und nur beim Umherwandern gefunden werden kann." (68)

Welt, Natur und Gott sind eins. Die natürliche Welt hat eine "bewunderungswürdige Einfachheit und Ordnung, aus welcher das eine unendliche und vollkommene Urwesen erkannt wird." (S. 140)

56/ Ebenfalls besteht ein enger Zusammenhang zwischen Leib und Seele (62)
Zwar sei es richtig, daß die Materie
    "nie aus sich selbst den kleinsten Gedanken bilden, nie einen Schatten von Empfindung oder Erkenntnis erzeugen" (S. 114) könne, wie ebenfalls aber auch der Geist, die immaterielle Substanz, "macht mit ihr, was ihr wollt, ändert sie auf tausenderlei Art, läutert sie, erhöht sie, verherrlicht sie, quält sie oder foltert sie mit Denken; nie werdet ihr imstande sein, die entgegengesetzte Substanz aus ihr hervorzubringen." (S. 114)
    "Der armselige Kehricht verächtlicher Materie kann ebensowenig aus der reinen, einfachen Substanz des immateriellen Gedankens entspringen, als der hohe Geist des Gedankens und der Vernunft sich aus der groben Substanz der schweren Materie extrahieren läßt." (S. 114)
57/ Das Dilemma bleibe bestehen, es kommt aber Shaftesbury gar nicht darauf an, dies genetisch zu erklären, sonder er geht von Beispiel des Menschen aus und fragt, warum der Mensch nicht etwa Flügel hätte, um zu fliegen. Er untersucht dann in Analogie zu den Vögeln sehr detailliert, wie der Mensch dann körperlich beschaffen wäre, daß er dann vorwiegend aus zwei großen Muskeln bestünde und dies eben zu Kosten des Gehirns ginge. Die spezielle Lebensfunktion, der bestimmte Ort in der Ordnung der Welt ist mit einer spezifischen körperlicher Konstitution verbunden; deshalb ist der Mensch mit dieser körperlichen Konstitution Mensch, mit Flügeln wäre er ein Vogel.
58/ Wenn Shaftesbury auch weiß, daß er den Zusammenhang von Körper und Seele nicht stichhaltig beweist, so gibt er damit doch Hinweise auf ein Zusammenwirken.
Es sei eben
    "die bewundernswerte Verteilung der Natur, daß sich nicht nur Stoff oder Materie mit der Gestalt und mit dem Bau, und diese Gestalt und den Bau selbst mit äußeren Umständen, dem Ort, dem Element, dem Klima, harmonisch übereinstimmend einrichtet, sondern auch die Neigungen, Begierden, Empfindungen wechselseitig eine mit der anderen sowohl als auch mit der Materie, dem Bau, den Handlungen." (S. 121)
Die Menschen sind gesellige Wesen. Gegen Hobbes gewendet, bemerkt Shaftesbury, daß der Wolf nur Wolf gegen Schafe, gegen Artgenossen aber das sozialste Lebewesen sei, das man sich vorstellen könne.

Ordnung
59/ Das Sein des Seienden liegt nicht in der Substanz, sondern in seiner Ordnung.
Um dies zu belegen, stellt Shaftesbury sich eine völlig identische Kopie eines Baumes in Wachs, also in einer gänzlich anderen Substanz, vor und fragt, was denn die Selbigkeit des Baumes ausmache.

60/ Baum und Wachsbaum seien im Aussehen gleich, dehalb könne die Selbigkeit nicht in der Form liegen.
Die Identität liegt aber auch nicht in der Substanz. Dies beweist sich nach Shaftesbury an den Menschen, von denen er angibt, daß sich die körperliche Substanz der einzelnen Menschen alle 7 Jahre völlig erneuert (siehe S. 148f).
61/ Die Selbigkeit liegt in der Ordnung der Teile zueinander, in der Sympathie der Teile füreinander. Die Teile eines Seienden wirken zu einem gemeinsamen Zweck und zur Erhaltung, Ernährung und Fortpflanzung bei. Dieses Zusammenwirken macht ihre Identität aus.
"Nur dadurch ist unser Baum ein echter Baum, lebt, blüht und ist stets ein und derselbe, selbst wenn durch Vegetation und Veränderung der Substanz kein Teilchen in ihm dasselbe bleibt." (S. 149)
Auch wenn von uns "nicht ein einziges Atom ...übrig bleibt, so sind wir doch noch Wir selbst, so gut wie zuvor." (S. 150)
Allerdings ist diese Ordnung nicht ablösbar von der Materie, von der Körperlichkeit der Welt, es ist kein Dämon, sondern eine Sympathie der Dinge (S. 157). Die Natur ist nicht Chaos, der ein Geist seine akzidentelle Ordnung verleiht, sondern die Natur selbst ist die göttliche Ordnung der Körper.

ästhetische Aneignung (Enthusiasmus)
62/ Ein Mittel, die intellektuelle Unzulänglichkeit der Menschen in der Erfassung der Gesamtheit der Ordnung zu umgehen, eine Möglichkeit, sich der göttlichen Unendlichkeit zu nähern, ist die poetische Schwärmerei, der Enthusiasmus.
Die poetische Schwärmerei ist nicht mit Besitz verbunden, so etwa hat der ästhetische Genuß der Schönheit des Ozeans nichts mit dem Beherrschen des Ozeans (etwa als Admiral einer Flotte) zu tun (S. 179).

63/ Zudem ist die ganze Ordnung - wegen der Unendlichkeit der Elemente und wegen der Situationalität - nicht als Ganze faßbar, es bleiben immer Bereiche weiterhin unverstanden. (S. 109)
    ""...so stellen sie sich einmal einen Menschen vor, dem die Schiffahrt vollständig unbekannt ist, der die Natur des Meeres oder Wassers nicht kennt: wie groß müßte dessen Erstaunen sein, wenn er sich auf einem Schiff befände, welches bei vollkommener Windstille, fern vom Lande, mitten in der See vor Anker läge, und er die schwerfällige Maschine fest und unbeweglich mitten auf dem ruhigsten Ozean erblickte und es von oben bis unten, nebst dem Tauwerk, den Masten und Segeln betrachtete...würde er wohl , da er die Absicht oder Bestimmung aller Teile ... nicht kennt, die Masten und das Tauwerk für nutzlos und hinderlich erklären und deswegen auch die Einrichtung und den Baumeister verachten? o, mein Freund, wir dürfen unsere Unwissenheit auf diese Weise nicht verraten, sondern müssen bedenken, wo wir sind, in welchem Universum wir uns befinden..." (S. 110)
64/ Die Schönheit ist tief versteckt und verborgen (S. 183). Es fällt nicht unmittelbar zu, sondern muß erarbeitet werden, wozu auch Talent, Arbeit und Mühe und Zeitaufwand gehören (S. 182).
Die Menschen müssen sich deshalb auch permanent fortbilden.
    "Sagen Sie mir, haben Sie diese Ihre Vernunft gehörig gepflegt, verfeinert, die nötige Mühe auf sie verwandt und sie in diesen Dingen geübt? Odre wird sie ohne alle Übung ebensogut urteilen, als wenn Sie vollkommen geübt oder erfahren wäre? Vergleichen Sie bitte einmal zwei Mathematiker; wessen Vernunft geben Sie den Vorzug und würden Sie am ehesten trauen? Der Vernunft des Erfahrenen oder der des Ungeübten?... Sollte das nicht der beste Richter des Lebens sein, der das Leben studiert und sich bemüht, es nach den Regeln zu formen?" (S. 210)
65/ Schönheit ist kein Gegenstand der Sinne (S. 197). Zwar gibt es eine flüchtige, schale Schönheit, die an der Oberfläche liegt (S. 183). Schönheit ist nicht Gegenstand der Sinne, nicht purer Genuß (S. 197) "Nicht an dem Aussehen erfreut.. (man, E. F.) sich, sondern an dem, was dahinter liegt." (S. 198)
Schönheit entsteht durch menschliches Handeln, Schönheit besteht im menschlichen Handeln (S. 185)


4. Adam Müllers 'Lehre von der allgemeinen Schönheit der Welt'

66/ Adam Müller (1779 - 1829) wird als das 'Haupt der politischen Romantik' (Langner 1988, S. 9) bezeichnet. Vor allem in seinem Hauptwerk, 'Die Elemente der Staatskunst' (1809) entwickelt er eine organische Gesellschaftslehre und begründet damit einen sozialethischen, christlichen Konservatismus (Langen 1988, S. 13). Er versteht den Staat als einen 'Körper', der aus Ständen und Institutionen (Familie) besteht und der sich von Natur aus balanciert.
67/ In seiner 'Prolegomena einer Kunst-Philosophie', auf die ich mich hier im wesentlichen beziehen möchte, behandelt Müller den Zusammenhang von Kunst und Wissenschaft und von beiden mit der Praxis.

Die Menschen sind für Müller nicht ausschließlich denkende Wesen, sie werden vielmehr komplex leiblich verstanden. Sie sind physische, d. h. "tätige(.), der Natur gebietende(.) und als leidende(.), der naturgehorchende(.)" (S. 161) Wesen, die subjektiv fühlen, hören, sehen usw und zugleich Gegenstand von Fühlen, Hören und Sehen usw. sind. Sie sind als aktive Subjekte in ein aktiv tätiges Feld eingebunden, in dem sie - wie Müller sagt - 'gegentätig' werden müssen. (S. 167). Das Aktivitätsfeld ihrer Umgebung ist die Bedingung ihrer eigenen Tätigkeit.

68/ So wie die Menschen eingebunden sind in das synchrone Umfeld, so auch in das diachrone.
    "Von dem Augenblicke, in dem er den Leib der Mutter verläßt, können wir die Existenz des Menschen oder seine Geschichte nicht anfangen lassen, er selbst in seiner Eigentümlichkeit wurde durch die ganze Weltgeschichte vorbereitet. Für unsere oder seine eigene Betrachtung seiner Individualität gibt es also keine Grenzen in der Zeit, jedes noch so entfernte Ereignis der Vergangenheit, gehörig abgeleitet auf ihn, bestimmt diese Individualität schärfer, jeder Mensch, jedes Wort, jede Pflanze, in dem entlegensten Teil der Erde, gehörig zu ihm herübergeführt und auf ihn bezogen, macht ihn deutlicher und kenntlicher, er selbst oder unsere Betrachtung seines Wesens hat also auch keine Grenzen im Raum. Wenn er sich selbst, d. h. seine Geschichte, denn ohne seine Geschichte ist er nichts, also betrachtet, so verschwindet die alte Grenze des Inneren und Äußeren von selbst. ... Dieser Körper umfaßt den gemeinen Körper, ... ferner alle Personen, die in unserem Leben entweder unmittelbar oder aus der Ferne oder aus früheren Zeiträumen der Geschichte ... auf uns gewirkt haben..." (Müller 1804 in einem Brief an Brinkmann; zit nach Baxa 1966 S. 138 - 141)
69/ Müller entgrenzt den biologischen Körper:
    "Von der ersten Blume, von der ersten Puppe an, die das Kind ergreift, spielend und bildend herzt und sich aneignet, lasse ich den Körper des kleinen Wesens über das unmittelbare Fleisch hinauswachsen, bis der Mann endlich als bildender Künstler, Staatsmann oder Soldat große Heere, Staaten, ganze Epochen der Kunstgeschichte in seinen höheren erweiterten Körper hineinzieht. (S. 182) und versteht ihn (was dann später Merleau-Ponty wieder formulieren wird) als Medium des je eigenen Lebens: "Ziehen wir jetzt einen Schluß aus unseren Betrachtungen: der Wirkungskreis des Menschen, die Sphäre seines Lebens, ... , das ist sein wahrer Körper. Was ist der Meißel, was ist der schön geformte Marmor anders als die erweiterte Hand." (S 185)
70/ Körper und Seele, 'Fleisch' und Geist sind untrennbar, die Menschen gehören Himmel und Erde zugleich an. Eine gute und schöne Handlung wird nicht dadurch erzeugt, daß man sich des Irdischen entäußert. Mensch und Umwelt sind integriert, Kunst ist Ordnung des Alltags

71/ Es gibt zudem keine Trennung von Kunst und rationaler Wissenschaft. Kunst ist für Müller synthetisierendes, Wissenschaft dagegen analysierendes Handeln. Zwar sei Kunst auf die Zukunft, auf das was geschehen wird, und Wissenschaft auf die Vergangenheit, auf das Geschehen ist, gerichtet. Aber analysierendes und entwerfendes Handeln seien aufeinander angewiesen. Das eine gehe ohne das andere nicht. Wissenschaft bedürfe der Kunst, der praktischen Umsetzung, Denken allein sei "der Tod der Philosophie" (163).

72/ Wissenschaft und Kunst, d. h. für Müller Spekulation und Praxis haben sich wechselseitig zu durchdringen (S. 166). Wenn sich denn beides durchdringe und sich somit das Wahre und das Gute vereinten, dann entstehe das Schöne. (S. 166)

73/ Das Schöne sei weder Gegenstandsqualität noch aber subjektive Empfindung, sondern bestehe in der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt: "Die Schönheit wohnt weder allein in dem schönen Gegenstande, der unser Wohlgefallen erweckt, noch wohnt sie allein in der Brust des Betrachters...Sie ist weder bloß objektiv noch bloß subjektiv.." (S. 18) Sie besteht vielmehr in der Beziehung zwischen Welt und Subjekt. "...der Betrachter des Kunstwerkes (müsse; E. F.) sich gerade verhalten ... wie der Künstler; ...zwischen dem Betrachten und Machen (sei, E. F.) kein Unterschied." (S. 90). Der Rezipient müsse das Kunstwerk re - produzieren. (S. 102)

74/ Müller wendet sich gegen eine Aufsplittung in einzelne Künste. Er unterscheidet zwar Künste, die "für die Bedürfnisse des ganzen Menschen arbeiten" (S. 86) wie die Literatur, die Bildende Kunst, die Staatskunst und die Wissenschaftskunst, und Künste, die einzelne Bedürfnisse befriedigen, wie die Schneiderkunst und die Schusterkunst. Aber letztlich würden sie alle zusammen wirken. Deshalb auch ist für ihn die Staatskunst, da sie allesumfassend ist, die höchste Kunst, der Staatsmann der größte Künstler. (S. 126)


75/ Wenn ich hier die historischen Skizzen einer praktischen Ästhetik zusammenfassen darf:
Kunst ist also schon bei Vitruv und dann später auch in vielen philosophisch begründeten Konzepten von Ästhetik eine inhärente Ordnung des Alltags.

76/ Vitruv hatte die Ordnung der Architektur aus der Ordnung der Welt abgeleitet, aus der damals bekannten - mathematischen, pythagoreischen - Ordnung der Welt. Die Ordnung mag metaphysisch gedacht gewesen sein, sie existierte jedoch ebenfalls in der äußeren Natur und im menschlichen Körper. Die Ordnung bei Vitruv ist simpel gedacht. Die Ordnung der Welt und die Ordnung des Menschen lassen sich auf eine übergeordnete mathematische Ordnung zurückführen.

77/ Für Shaftesbury und Adam Müller gilt im Prinzip das gleiche; die Ordnung ist wie bei Vitruv existentiell. Allerdings entsteht die Ordnung durch eine wechselseitige Konstitution von Mensch und Welt und nicht aus einer mathematischen Formel. Die Erkenntnisse über das Sein sind Vitruv gegenüber vertieft und differenziert und nicht mehr in ganzen Zahlen und in simplen quantitativen Formeln ausdrückbar. Ordnung ist insofern oberflächlich nicht mehr faßbar.

78/ Folgt man dieser Prämisse, so hat man sich mit allen Mitteln der Wissenschaften zu bemühen, diese Ordnung immer besser zu erkennen und im praktischen Tun umzusetzen. Dabei hat man von der leiblichen Einheit von Körper und Geist auszugehen und anzuerkennen, daß Menschen gleichermaßen als Körper unter Körpern eingebunden sind in den Umraum. Eine grundlegende Löslösung vom Alltag würde nicht etwa die Freiheit des Menschen, sondern die Zerstörung seiner Seinsfundamente bedeuten.

79/ Die Reihe der Theoretiker einer praktischen Ästhetik ließe sich hier noch weiterführen, ich darf vielleicht noch (Adam Müller), Jakob Burckhardt, Tschernyschewsky, die Theoretiker der Diskussion über die Einheit von Kunst und Leben in der frühen Sowjetunion, also etwa Tretjakov, oder bestimmte neuere Vertreter der Phänomenologie, etwa Dufrenne nennen. Und natürlich können die Theoreme nicht so unkritisiert wie hier stehen bleiben.
Es war mir aber hier das Ziel, die Intellektualität des Alltags und seine komplexe Ordnung auf der einen Seite gegen die `Funktionalisten' und die an den Alltag und an den Körper der Menschen gebundene ästhetische Ordnung gegen die `Baukünstler' herauszustellen.

80/ Unter Kunst bzw. Baukunst immer noch simple Relationen einfacher Zahlen zu verstehen - wie dies die Architekturkünstler tun - ist die Reifizierung eines gewissen, lange überholten Erkenntnisstandes über die Welt zu einer Formel. Es ist eine Mißachtung von Vitruvs Absichten und zugleich eine Negation jeglicher ästhetischer Theorie seit dem 18. Jahrhundert, die an Vitruv anknüpfen.
Die Berufung auf Vitruv ist die Zerstörung von Vitruv.

Wann aber ist Architektur schön, wann ist Architektur Kunst?
Lassen Sie mich diese Fragen abschließend noch kurz beantworten:


5. Schönheit und Kunst in der Architektur
A. Wann ist Architektur schön?
Was macht ein Gebäude schön?
In bezug auf die Malerei wäre dies eine Frage nach dem Unterschied zwischen einer Ansammlung von Farbflecken und einem Bild, zwischen Unordnung und Ordnung.

81/ Normalerweise stellt man gerade die Distanz zum Alltag als konstitutiv für Schönheit heraus. Aber Distanz - so habe ich gezeigt - ist bereits auch schon eine lebenswichtige Einstellung im Alltag.
Was ist Distanz? Es ist in beiden Fällen ein Verfahren, die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Welt zu lenken und von allem anderen abzusehen.
Gewöhnlich ist die materiale Welt das Spielfeld für mein Spiel, auf das ich mich konzentriere um es erfolgreich durchzuführen. Ich versuche es konstant durchzuhalten, auch über unterschiedliche Welten hinweg. Normalerweise konzentriere ich mich auf das Spiel.

82/ Aber ich kann mich auch auf das Spielfeld konzentrieren. Ich entdecke dann unmittelbar die Heterogenität der Welten. Ich könnte mich auf eine davon konzentrieren und versuchen, dessen Ordnung zu erfassen. Das Ergebnis wird sein, daß ich in Distanz zu dem Spiel und zu den anderen Welten gerate. An einem bestimmten Punkt der Konzentration auf das Spielfeld wird das Spiel abbrechen.
Je mehr ich mich auf eine Welt konzentriere desto mehr kann ich dessen Ordnung und Schönheit entdecken. Ich grenze sie aus und identifiziere mich mit ihr.


B. Wann ist Architektur Baukunst?
83/ Diese Frage möchte ich - zum Abschluß meines Vortrages - mit Peter Weiß beantworten. Er hat in seiner `Ästhetik des Widerstands' an mehreren Schlüsselstellen die praktische Aneignung von mit traditionellen Kunstmitteln realisierten Kunstwerken (Fries des Pergamon-Altars, Picassos `Guernica', Gericaults `Floß der Medusa' u. a.) dargestellt.
84/ Ich möchte hier seine Aussagen generalisieren und auf die Architektur übertragen:
Die Kunstwerke existieren eigenständig im Alltag. Der Rezipient, oder richtiger die Rezipienten eignen sich die Kunstwerke im intellektuellen und sozialen Diskurs dialogisch an, d. h. sie gehen von ihrer Erfahrung im Alltag aus, lassen sich auf die Substanz und Ordnung des Werkes ein und versuchen, es so zu verstehen. Dabei dient die Alltagserfahrung der Rezipienten als Basis des Verstehens.
Dieser einfache Verstehensvorgang wird jedoch ausgeweitet. Denn durch das Einbringen der eigenen Alltagserfahrung kann das Werk gegen den Strich, d.h. gegen die Intentionen der Produzenten oder Auftraggeber des Werkes, subversiv gelesen werden. Dabei wiederum bringt das Werk den Rezipienten zur Reflexion seiner selbst.
Wenn Werk und Rezipient, Architektur und Nutzer sich in der Aneignung dialogisch konstituieren, würde ich von Baukunst sprechen..

85/ Architektur darf einerseits nicht die Tautologisierung des Alltags (schlüsselfertiges Einfamilienfertighaus), andererseits nicht esoterische Literatur oder abgehobenes Symbol oder rein destruktiv (Eisenmanns Stütze im Schlafzimmer anstelle des Doppelbettes) sein.

Es muß ein Spiel gelingen, der Spieler muß sich ins Spiel gebracht haben. Kunst entsteht, wenn er durch vereinzelte Interventionen, in begrenzten Spielräumen ein neues Spiel und sich selbst als neuen Spieler entwirft.

86/ Baukunst als Dialog zwischen Architektur und Nutzer entsteht - eigenartigerweise - im Moment vorwiegend in der Nutzung und Umnutzung reichhaltiger alter Bausubstanz. Denn hier wird eine Architektur vorgegeben, die zum Eingriff nötigt, die Residuen anderer Spiele enthält und für ein neues Spiel hergerichtet werden muß.
Ich bedauere dies, da es mit einer Gleichsetzung von Vergangenheit und Kunst einhergeht.

87/ Dieses kreative Spiel könnte auch bei Neubauten erzielt werden, wenn die Gebäude einerseits die ästhetische und praktische Reichhaltigkeit und Eigenständigkeit besäßen und andererseits die Bewohner die Chance erhielten, diesen Dialog beim Einziehen auch zu führen, wobei `Chance' hier heißt: ökonomisches Kapital, Bildungskapital, Zeitkapital und die Lust zur Exploration und zur Subversion.