2. Jg., Heft 1
Mai 1997 |
Olaf Weber
Die 815. Moderne.
Nieder mit dem
Beschleunigungsgesetz!
oder:
Die Architektur
der Nähe - eine ferne Utopie
1. Der grobe Keil:
Heinrich Klotz und die Zweite Moderne
2. Die Wiener Moderne
3. Multiplikation und Division
4. Das ästhetische Pendel
5. Die Zweite ist die 0815.
6. Beschleunigung
7. Architektur der Nähe - eine ferne Utopie
1 Ein appellativer Satz, ein Ausrufezeichen in
der Überschrift - das paßt so gar nicht in unser
vornehmes deskriptives Wissenschaftsverständnis, wonach
die in sich ruhenden Beschreibungen immer weitere
analytische Schritte bedingen, aber kein
wirklichkeitsveränderndes Potential initiieren.
1. Der grobe Keil: Heinrich
Klotz und die Zweite Moderne
2 Schon das Datum war festgelegt: Im Jahre
1972 - so Charles Jencks - wäre kurz nach Drei mit dem
Fall mehrerer Hochhausscheiben in St. Louis/ Missouri die
moderne Architektur gestorben und zwar endgültig
und vollständig". Damals hätte das Zeitalter der
Postmoderne begonnen, über das in Deutschland schon viel
und kritisch debattiert worden ist.
3 Die postmoderne Architektur hatte sich mit
Epochencharakter inszeniert, sie stellte sich als die
große Perspektive nach dem Irrweg des asketischen
Rationalismus dar. Nun ist sie selbst gescheitert und
Heinrich Klotz ruft das Zeitalter der Zweiten
Moderne" aus. Den ursprünglichen euphorischen
Anspruch der Postmoderne, eine wirkliche Nach-Moderne zu
sein, hatte er nicht nur zu einer Revision der
Moderne" abgeschwächt, nun wird sie gar zu einem
nur zwei Dekaden währendem Baustil degradiert. Diese
Rücknahme der Postmoderne auf eine baugeschichtliche
Episode deutet nun allerdings auch auf eine Rücknahme
wesentlicher Einwände gegen die Moderne hin, letztlich
auf ein Versagen der Kritik. Die konsequente Absage an
die Postmoderne müßte eigentlich auch eine Abkehr vom
Modernismus sein.
4 Doch offensichtlich sind die Voraussetzungen
für diese Überwindung der Moderne nicht da. Die Moderne
sei insgesamt das Gestaltungsprinzip des 20.
Jahrhunderts, stellt Klotz fest. Mir scheint aber, daß
nicht nur ihr Ende, sondern auch ihr Beginn neu
festgelegt werden muß. Weder die erste verglaste Ecke am
Fagus-Werk (1910) noch der würdelose Abriß von 1972
markierten die entscheidenden historischen Wendepunkte,
und mit den falschen Daten wird in der
Baugeschichtsschreibung auch inhaltlich der ästhetische
Charakter unserer Epoche verfehlt. Die Moderne war und
ist das ästhetische Programm des Industrialismus, der
mit den Polen von Kapital und Arbeit auch ganz
unterschiedliche Bewertungsmuster der Moderne
hervorgebracht hat: Wirtschaftlichkeitsfunktionalismus
versus emanzipatorischer Rationalismus. Neben dieser
sozialen Dimension verblassen die augenfälligsten
Unterscheidungsmerkmale von Schnörkeln und glatten
Kuben.
5 Die Annahme, der Stilpluralismus sei ein
Ende, der Vorläufer oder ein Antipode der Moderne, ist
einer der tragischsten Irrtümer unserer Zeit. Er läßt
sich nicht durch grobe Keile aus dem ästhetischen
Kontinuum des Industriezeitalters besondern. Die
peinliche Ausklammerung des Eklektizismus aus der
modernen Bewegung hat eine schlüssige Periodisierung der
neueren Baugeschichte unmöglich gemacht. Seine
Einbeziehung könnte uns aber dazu verhelfen, sowohl die
Gründerzeit als auch die Postmoderne mühelos als das zu
identifizieren, was sie waren: Zwei Moden der Moderne.
2. Die Wiener Moderne
6 Schon 1898 galt Adolf Loos als
Ornamenttöter. Die Ornamentlosigkeit hatte er für ein
Zeichen geistiger Kraft", für
Menschsein" überhaupt gehalten. Die Nähe, in
die er 1908 Ornament und Verbrechen stellte, mußte
derweil überraschen, denn er wußte, daß die
Kulturgeschichte auch eine Geschichte des Ornamentes war
und daß sie auch eine des Verbrechens ist, schließt
beide nicht kurz. Im Gegenteil ist anzunehmen, daß
Ornamente im Umgang der Menschen untereinander eher der
Verständigung als der Gewalt dienten.
7 Was Loos bekämpfte, war die verflachte,
geistlose und verschnörkelte Dutzentware
Ornament", welche die Maschine besinnungslos
ausspuckte. Im Ornament bekämpfte er das verspießte
Imperium der Habsburger und seine Verzichtsästhetik
richtete sich gegen die von der Maschine bereits
plattgemachte Verzierung, gegenüber welcher
Ornamentlosigkeit tatsächlich als neue
Köstlichkeit" und als sublimierte
Sinnlichkeit" erscheinen konnte. Doch der von der
Maschine erfundene rechte Winkel war bald nicht mehr
köstlich, nur noch zweckmäßig oder selbst leere
Dekoration. Loos argumentierte auch gar nicht
ästhetisch: Ornament ist vergeudete Arbeitskraft
und dadurch vergeudete Gesundheit, ... aber auch
vergeudetes Material und ... vergeudetes Kapital".
Das Weglassen des platten, seriell produzierten
Ornamentes am Loos-Haus" war natürlich eine
ästhetische Provokation, doch den essentiellen,
produktionstechnischen Bruch hatten schon die vielen
namenlosen Baumeister der engen Gründerzeitquartiere und
auch Otto Wagner vollzogen, als er die plastischen
Mauerwerksbauten des Neobarock durch flächige, aber
ornamentierte Fassaden ersetzte. Das war der Übergang
vom qualifizierten Handwerker zum Vormaurer und
Hilfsarbeiter, also zur Industrie. Wagner und Loos hatten
eine Bauweise und mithin eine Ästhetik gefunden, die den
arbeitsteiligen Prozessen in der Wirschaft und der
gesamten kapitalistischen Gesellschaft entsprach. Das
industrielle Ornament störte darin eigentlich nicht, es
war nur ästhetisch verbraucht.
7 Der Eklektizismus ist ein Verfahren, das auf
der Montage heterogener, aber serieller Elemente beruht.
Solche industriellen Partikel der Gründerzeit wie die
Dekorationen aus Kunststein, Gips und Pappmaschee hatten
die Produktionsästhetik des Industriezeitalters
eingeleitet. Das heißt, daß die Gleichheit und
Exaktheit der Elemente sowie die aus der Arbeitsteilung
hervorgegangenen Strukturen die Merkmale der Moderne
darstellen, nicht aber die Ornamentlosigkeit und der
rechte Winkel.
3. Multiplikation und Division
8 Die Ästhetik des Industriezeitalters ist
vollständig von der seriellen Produktion geprägt -
wenngleich diese Enflüsse nicht nur den direkten Weg,
sondern auch extrem verschlungene Pfade wählen.
Lebensweise und Kultur der Industriegesellschaft
durchdringen mit ihrem arbeitsteiligen Charakter alle
Aspekte des Entwurfes - von der Raumorganisation bis zu
Baustoffen und Fenstergrößen.
9 Dagegen ist die Industrialisierung der
Baustelle selbst nur ein zusätzliches und stärkendes
Moment seines industriellen Charakters. Trotz der
komplizierten Bedingungsstruktur des architektonischen
Entwurfes muß man deshalb die eigentümliche Wirkweise
der Maschine als Urquell der modernen Architektur
bezeichnen. Die extreme Gleichheit der Exemplare einer
Serie und die prinzipielle Unverträglichkeit der Serien
untereinander sind die Wahrnehmungen der
Maschinenästhetik und des Kapitalismus. Übergroße
Vereinheitlichung, Vermassung und Langeweile paaren sich
mit unüberschaubarer Vielfalt, Chaos und Extase. Die
Serie ist das uniformierende Pendant zum Chaos der Dinge.
10 Der Erfindungsgeist, der als kreatives
Potential und genetische Information einem Produkt
zugehört, verteilt sich durch die Multiplikation der
Maschine auf alle Exemplare der Serie. Das Produkt wirkt
im individuellen Gebrauch kalt und geistlos, weil die
Maschine das Ausdruckspotential um die Losgröße
dividiert hat. Die scharfen Werkzeuge fügen der
prinzipiellen Gleichheit die reale Exaktheit der
Maschinenästhetik hinzu.
11 Daraus erklärt sich auch die harte
Unverträglichkeit der Neostile des 19. Jahrhunderts
gegenüber ihren Vorbildern aus handwerklicher Tradition.
Im Neo" dieser Stile verbirgt sich ihr
industrielles Wesen, das dafür sorgt, daß Gotik und
Neogotik nichts, Neogotik und Neorenaissance aber (fast)
alles gemein haben. Der Bruch zur Moderne findet also mit
dem Erscheinen des Neo", in der Mitte des 19.
Jahrhunderts statt.
12 Die Uniformität der Serienprodukte wird
durch das unbedingte Innovationsgebot teilweise
wettgemacht. Als Neuerung reicht allerdings oft die
bloße Unterscheidbarkeit zur vorherigen Serie. Was den
Hauch der Gestaltung trägt, muß unbedingt neu sein, nur
Maschinen dürfen wiederholen. Die permanente Revolution
findet vor allem ästhetisch statt, der künstlerische
Avantgardismus wird zur chronischen Gesundheit der Form.
Das Innovationsgebot macht alles modisch: entweder
altmodisch oder neumodisch. Und der uniformierende Druck
wird wohlfeil: Die Trendsetter sind die Musterknaben der
Konsumgesellschaft.
13 Der Zwang zur Neuheit spreizt alles zu
Extremen. Das Grelle gegen das Minimalistische, das
Historisierende gegen das Zeitgemäße, das Asketische
gegen das Exzessive usw. - überall schaukeln sich
binäre oder multidimensionale Pole auf, die nicht
relativiert werden. Die Dialektik ist krank. Der
ästhetische Blick wird randständig, nur extreme Gesten
werden gewahr. Alles wird überschritten, Grenzen werden
abgesteckt, um Verdikte zu ignorieren. Das Schockierende
bleibt folgenlos, die Provokationen verharren im Auge.
Die Pendel schlagen immer höher aus. Die Moderne
schreitet in der Amplitudisierung der Gesellschaft voran.
Zwar fehlt die Mitte, doch überall breitet sich
Mittelmäßigkeit aus.
14 Die Beschleunigung dieser Prozesse führt
zur Interferenz der Wellen. Moden überholen sich ohne
einzuholen. Das zeitliche Nacheinander wird zum Neben-,
Über- und Durcheinander. Der Pluralismus, dessen
herausragendes Merkmal nicht die Vielheit, sondern die
Isolation ihrer Partikel ist, hebt auch die
Geschichtlichkeit scheinbar auf.
15Die Polarisierung der ästhetischen Werte zu
den Rändern hin hat unsere Wahrnehmung vergröbert. Die
kleinen Differenzierungen haben ihre Bedeutung verloren.
Die distinktiven Einheiten, aus denen wir unsere
Verständigungssysteme aufbauen, sind auf höhere
Hierarchieebenen geklettert. An die Stelle von Nuancen
und Variationen sind disparate und heterogene
Hyperstrukturen mit großen sensitiven Energien getreten,
deren Bedeutungselemente aber auf semantische Torso
verkürzt sind.
16 Im postmodernen Gebot der augenblicklichen
Verfügbarkeit über die Formen aller Zeiten und Regionen
drückt sich kosmopolitische Arroganz aus. Der Anspruch
auf einen unendlichen, zeitlosen Fundus an
Gestaltungsmitteln ist mit den früheren Rück- und
Fernblicken, z.B. der Retrospektive auf die römische
Antike in der Renaissance, dem Chinakult zur Zeit des
Barock oder der Afrobegeisterung der Expressionisten,
nicht vergleichbar. In der postmodernen Architektur ist
das Spiel zum dominanten Gestaltungsprinzip geworden.
Behutsamkeit, Einfühlung oder das Streben nach
wirklicher transkultureller Vielfalt sind in den
Agglomeraten der postmodernen Bauten selten zu spüren.
Auch darin war diese Kultur industrialistisch.
4. Das ästhetische Pendel
17
Die Amplitudisierung und
Beschleunigung aller gesellschaftlichen Prozesse führten
auch dazu, daß das Bauen die ästhetischen Bedürfnisse
zwar sehr verschieden, aber immer unvollständig abdeckt.
Seit Beginn der Industrialisierung war deshalb die Kritik
der einen Architekturströmung an der vorangegangenen
stets hoch entwickelt, die Synthesefähigkeit aber
gering. So empfanden die Eklektiker der Gründerzeit den
geschlossenen" Stil des Klassizismus als
veraltet und entwicklungshemmend, die Architekten des
Jugendstiles verabscheuten zutiefst den sinnentleerten,
faden und bereits zur Hälfte der Industrie verfallenen
Historismus. Die Funktionalisten und Rationalisten fanden
die Gegenposition zum subjektivistischen, handwerklich
orientierten Jugendstil in der objektiven Form. Die
Postmodernen kritisierten zurecht die kalte und
unpersönliche Zweckform des Wirtschaftsfunktionalismus,
der den Geist des Ortes, die Geschichtlichkeit und die
Emotionalität mißachtete - und die Dekonstruktivisten
versuchten eine neue antipodische Haltung gegen die der
Warenästhetik allzu schnell angepaßten Postmodernisten,
indem sie auf harte, unversöhnliche Formen setzten. Nun
will die Zweite Moderne" wieder mal zur
technischen Form zurückkehren.
18 Die Baugeschichte der letzten 150 Jahre war
eine Geschichte fortlaufender Pendelbewegungen von einer
Halbheit zu anderen. These wurde durch Antithese ersetzt,
die Mängel der einen Strömung durch die Mängel der
anderen abgelöst. Die Unzulänglichkeiten verkleideten
sich zunehmend als Moden, die nicht den Bewegungen der
gesellschaftlichen Psyche folgen, sondern den
Wachstumsinteressen der Wirtschaft dienen. Seitdem ist
die Erfüllung ästhetischer Bedürfnisse auf das
atmosphärische Erleben der disparaten Umwelt orientiert.
19 Nach dem Eklektizismus des 19. Jahrhunderts
und der Aufhebung des traditionellen Formenkanons folgte
bald die Negierung jeder Norm, auf die sich die
Reste edler Kunst" noch stützen konnten, die
aber zunehmend als atavistisch und moralisierend - im
Sinne von beschränkend - empfunden wurden. Die
Gestaltung wurde entgrenzt. Alles was gefällt, bzw. was
die gewünschte Wirkung erzielt, wurde plötzlich
erlaubt. In Kunst und Architektur zog das enttabuisierte
Erfolgsprinzip ein, das sich in der Wirtschaft längst
durchgesetzt hatte. Die Kunst wurde psychologisiert, die
Form funktionalisiert, d.h. am prüfbaren Effekt
gemessen.
5. Die Zweite ist
die 0815
20 Die
Wiederherstellung der Historizität, des Emotionalen, des
Symbolischen, des Mehrdeutigen, des Runden, des Spitzen,
des Technischen ... findet innerhalb des Rahmens der
Moderne statt - sofern sich dieser Begriff für das
Gestaltungsprinzip des Industriezeitalters reserviert
hat. Die Architektur der Postmoderne, der 0815. Moderne
oder der zweiten Moderne sind Spielformen der seriellen
Ästhetik, nicht Produktionen einer postindustriellen
Gesellschaft. Die Postmoderne Architektur war nicht
konkret, wenngleich Venturi u. a. versucht haben, ihr
wieder einige Impulse aus der Wirklichkeit zu-zuführen.
Diese Versuche wurden schnell von eben dieser, von
abstrakten Verhältnissen beherrschten Wirklichkeit
abgebrochen, sodaß nun die historisierenden Formen die
gleiche Kälte ausstrahlen wie die
sachlichen". Nun kommt im Spätstil der
Moderne ihr industrielles Wesen, ihre Abstraktion noch
einmal zur vollen Ausbildung.
21 Die neue Abstraktion" der
Nach-Postmoderne, wird von Klotz vor allem ästhetisch
definiert, als raffinierte Kreation der Hochtechnologie.
Doch sie ist ebenso ein adäquater Ausdruck der realen
Entfremdungsprozesse in der Industriegesellschaft. Immer
häufiger ist Bauen eine Sache der Banken, immer öfter
wird Architektur vor allem mit Rendite begründet, immer
anonymer wird der Bauherr und immer abstrakter ist das
Verhältnis der betroffenen Produzenten und Konsumenten
(Bauherrenmodelle, Leasing usw.). Zwischen der abstrakten
Formensprache unseres Jahrtausend-Endes und dem
Indifferenzcharakter des Geldes bzw. dem aufs
Ökonomische reduzierten Verhältnis der beim Bauen
beteiligten Partner besteht offensichtlich eine
Ähnlichkeit. Die Hervorbringensweise ist abstrakt, diese
Genese findet sich in der Form wieder.
22 Die Abstraktion erklärt sich in der
Architektur u.a. durch eine exzessive Künstlichkeit der
Baustoffe, durch eine die Erfahrung überfordernde
Technizität der Erscheinungen, durch eine die
Wahrnehmung provozierende, spröde Widersprüchlichkeit,
durch das die Banalität unterfordernde Prinzip der
Addition und farblich durch das unnahbare Weiß. Mit
diesen sublimen und intellektualisierten Codes kann sie
nur exemplarisch dem Mitteilungsbedürfnis der
Architekten und Bauherren wie auch dem Lesebedürfnis der
Konsumenten entgegenkommen, die die bauliche Umwelt auch
emotional interpretieren wollen. Die gerade
wiederentdeckte, aber sofort verkitschte und
kommerzialisierte Sprachlichkeit der Bauformen wird auch
nicht mehr in der neoexpressionistischen Form des
Dekonstruktivismus anerkannt.
23 Nach der geschwätzigen Postmoderne und der
spitzen Zunge der Dekonstruktivisten ist nun das große
Schweigen angesagt - eine Stille aber, die außer Puste
ist, denn die neue Abstraktion ist eine Wachstumsmode,
keine Ästhetik der Gelassenheit.
6. Beschleunigung
24
Wenn es sein muß, läßt sich
das allgemeine Beschleunigungsgebot dadurch verschärfen,
daß öffentliche Regulative abgebaut werden. In den
neuen Bundesländern wurden verschiedene
verfahrensreduzierende Vorschriften eingeführt, zum
Beispiel das Investitionsbeschleunigungs- und
Wohnungsbaulandgesetz, das Planungsvereinfachungsgesetz
(beide von 1993) und das vereinfachte
Baugenehmigungsverfahren (Thüringer Bauordnung von
1994). Allen ist gemeinsam, daß Anforderungsstrukturen
reduziert werden, z.B. :
- Verzicht auf
frühzeitige Bürgerbeteiligung
- Verkürzung der Dauer der Auslegung (auf 2 Wochen)
- Verkürzung der Zeit für Stellungnahmen von Trägern
öffentlicher Belange (auf 1 Monat)
- Reduzierung der Genehmigungsprüfung auf
wesentliche Probleme"
- Beschränkung von Rechtsmitteln zur Beschwerde
- Aufhebung des Baustopps bei
Nachbarschaftswidersprüchen
- Erleichterung bei der Abkehr von bindenden Zielen in
der Raumordnungs- und Landesplanung
- Vorabgenehmigungen und Befreiungen
- Reduzierung der naturrechtlichen Eingriffprüfung (nur
noch einmal)
- Verzicht auf Raumordnungsprüfung, wenn dadurch
bedeutende Investitionen" unangemessen
verzögert werden
-Reduzierung der aufschiebenden Wirkung von Einwänden
- mögliche Aussetzung der
Umweltverträglichkeitsprüfung
- usw.
25 Diese Gesetze und Verordnungen vermindern
das Bedingungsgefüge des Entwurfes, reduzieren die
Einflüsse von außen und kappen oder mindern wichtige
Beziehungen zu den Betroffenen. Sie scheinen nur
bürokratische Hemmnisse abzubauen, in Wirklichkeit
beschränken sie partizipatorische Möglichkeiten zur
sozialen, kulturellen und ökologischen Charakterisierung
des Entwurfes. Anzahl und Qualität der aus der
Öffentlichkeit hervorgehenden formbestimmenden Faktoren
werden verringert. Es ist der Weg der weiteren
Abstraktion von historischen und natürlichen
Besonderheiten des Standortes zu verbesserten
Verwertungsbedingungen für das eingesetzte Kapital.
Wenngleich die Anstöße für die Ästhetik der
Zweiten Moderne" sicherlich nicht aus den
neuen Bundesländern kommen, so läßt sich doch
feststellen, daß die hier verschärft praktizierte
Vereinfachung durch Beschleunigung einen direkten Kanal
zu den schwierigen und simplen Gehäusen der zweiten
Moderne hat.
26 Indem aber das Bauwerk selbst abstrakt wird,
wird es auch spektakulär, denn der Abbau öffentlicher
Regulative heizt den Wechsel und die Amplituden an, es
wird zu einem dem Standort entrückten, doch dafür nicht
objektiven (zeitlosen), sondern modischen Objekt.
7. Architektur der Nähe -
eine ferne Utopie
27 Doch weitgehend
unbemerkt vom Pluralismus des Industriezeitalters, hat
sich ein ganz anderes Thema entwickelt, es ist das
Problem der Nähe. Nähe" meint hier nicht
Enge und Anpassungsdruck, sondern Beziehungsdichte und
Konkretheit.
28 Die ferne" Architektur ist
bezüglich der Anforderungsstruktur reduktionistisch, der
Bauherr ist anonym (meist fern), der Architekt sein
Diener, die Form asketisch, der Nutzer ein Objekt, die
Aneignug inszeniert. Sie ist abstrakt.
29 Die Alternative zur abstrakten Moderne wäre
eine Architektur der Nähe, die ferne Utopie einer
konkreten Architektur. Ich kann dieses nachindustrielle,
postserielle Bauen am Ende dieses Vortrages nur durch ein
paar Stichpunkte charakterisieren. Architektur der Nähe
meint eine große Beziehungsdichte zwischen den Nutzern,
der Öffentlichkeit, dem Architekten, meint einen großen
Einfluß des Standortes, der sozialen und kulturellen,
der historischen und natürlichen Faktoren. Konkrete
Architektur ist partizipatorisch in dem Sinne, daß die
Nutzer ihren eigenen Bedürfnissen trauen, sie
artikulieren und einbringen. Sie qualifizieren sich durch
den Dialog mit den Architekten, sie werden mündig, indem
sie als Mündige einbezogen werden.
30 Die formbestimmenden Faktoren finden
leichten Einlaß in den Entwurf. Vielfalt muß nicht
angestrengt erfunden werden. Jedes Haus ist ein
Individuum, denn es entsteht unter einmaligen
Bedingungen.
31 Der Architekt verbessert und dekoriert
nicht, sondern durchtränkt den ganzen Entwurf mit seiner
Subjektivität. Seine Erfindungskraft basiert auf den
Erfahrungen vieler Generationen.
32 Konkrete Architektur ist sinnlich. Sie wird
nicht einfach rezipiert, sondern leiblich erfahren. Die
Nähe verschärft das Verlangen, die Architektur
natürlich zu gestalten und sie für den
Gestaltungswillen der Betroffenen offen zu halten.
Konkretheit erzeugt Lust auf Gestaltung.
33 Architektur der Nähe entsteht vor allem aus
der Nähe der beteiligten Personen, aus dem
Zusammenwirken ihrer Interessen und Ambitionen. Doch als
Entwurfsprinzip verschmäht sie keine geeigneten
Instrumente, sie ist nicht technikfeindlich. Die
Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung
begünstigt zunächst die Ästhetik der Addition und
Reihung, auch die Tendenz zum Eklektizismus, weil sich in
den digitalen Speichern ganze Arsenale von vorgeformten
Elementen aufbewahren lassen, die nach Belieben
aufgerufen und zusammengefügt werden können. EDV und
neue Medien sind ebenfalls (wie die klassische Maschine)
Technologien der Repetition, doch vor allem enthalten sie
Entwicklungspotenzen, um diejenige Direktheit und
Komplexität, denjenigen Detaillierungsgrad und dasjenige
Variationsvermögen in den Entwurf einzubringen, die der
konkreten Architektur dienlich sind.
34 EDV und neue Medien können die
architektonischen Mittel auf eine willkommene und
zeitgemäße Weise anreichern und verändern. Doch unter
den gegenwärtigen Bedingungen bleibt es weiterhin bei
einer arbeitsteiligen, industriellen Architektur - bei
der Moderne. Dabei werden die elektronischen Medien vor
allem dazu beitragen, das der Architektur immanente und
im Barock zur Blüte gebrachte, von der klassischen
Moderne schamhaft geleugnete Verhältnis von Realem und
Fiktivem, von Materialgerechtigkeit und Imitation, von
Präsentation und Täuschung usw. auf ein dem
Technikstand adäquaten Niveau wieder herzustellen (was
der postmoderne Architektur nicht recht gelungen war).
Der Begriff der virtuellen Realität" meint
meist dieses: Die elektronisch gesteuerten oder in ihren
Effekten an neue Medien erinnernden Licht- und
Materialreize, vor allem das Spiegeln und Durchscheinen
realer Hintergründe in der Architektur der Zweiten
Moderne.
35 Doch nur dann, wenn sich diese Erweiterung
dem konkreten Entwurfsprinzip einer Architektur der Nähe
unterstellen läßt, wird sich nicht nur die Mode wieder
einmal ändern, sondern der offensichtlich ersehnte,
zumindest erwartete Paradigmenwechsel zu einer anderen
Architektur vollziehen. Die Architektur würde auch bei
einem neuerlichen Wechsel zu einer bunten, opulenten und
möglicherweise elektronisch gleißenden Formensprache
abstrakt bleiben, sofern sie sich dem Prinzip der Nähe
verweigert.
36 Doch wie seit 150 Jahren wird uns auch
diesmal wieder suggeriert, die neue Mode sei schon die
neue Architektur. Die Behauptung, die Zukunft habe schon
begonnen, ist ein Slogan des Konservatismus, der darauf
aus ist, Veränderungspotentiale lahmzulegen oder im
Marginalen zu verbrauchen. Für das Ende der abstrakten
Architektur ist jedenfalls noch kein Zeitpunkt zu
erkennen.
37 Wie zu Beginn unseres Jahrhunderts stehen
wir heute wiederum an einem Scheideweg. Damals stand der
sozial-kulturelle Charakter der Moderne in Frage:
Entweder tendiert die serielle Produktion zu einer
sozialen Architektur, die zugleich eine neue
Formensprache gründet oder zum
Wirtschaftsfunktionalismus. Der Streit ist bekanntlich
zugunsten der zweiten Option ausgegangen.
38 Heute steht die Entwicklung der
nach-seriellen Architektur zur Debatte: Dienen die neuen
Entwurfs- und Produktionssysteme einer weiteren
Konzentration des Bauens, der Anonymität, der
Fremdbestimmung, der Ferne, der Inszenierung und
Abstraktheit oder können sich Bedingungen durchsetzen,
die auf Nähe, auf Partizipation, auf Lokalität,
Historizität und Behutsamkeit orientieren, also auf
konkrete Architektur? Die Antwort liegt offenbar
außerhalb unseres Berufsstandes.
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