Thema
2. Jg., Heft 2
November 1997

Achim Hahn


Über das Beschreiben der Wohndinge

Ein soziologischer Exkurs zum Barwert von Architektur

1Bauen und Denken sind jeweils nach ihrer Art für das Wohnen unumgänglich. Beide sind aber auch unzulänglich für das Wohnen, solange sie abgesondert das Ihre betreiben, statt aufeinander zu hören. Dies vermögen sie, wenn beide, Bauen und Denken, dem Wohnen gehören, in ihren Grenzen bleiben und wissen, daß eines wie das andere aus der Werkstatt einer langen Erfahrung und unablässigen Übung kommt.

Martin Heidegger, Bauen Wohnen Denken

2Mir geht es im folgenden um die Veranschaulichung zweier Ausdrücke: Beschreibung und Wohndinge. Beide werden eingerahmt von der Pragmatik des Wohnens. Unter Pragmatik des Wohnens verstehe ich die Perspektive, die das Wohnen als Folge des Wohnens, also als Wohnerfahrung auffaßt.

1. Gebrauchsanweisung für Architekten

3Ich würde mir wünschen, der Aufsatz ließe sich als ein Beispiel für eine angewandte Methodologie lesen. Es ist ein Gemeinplatz, daß man (Wohn-)Erfahrungen nicht lehren kann. Dennoch kann man aus ihnen etwas lernen. Sie zeigen, wie Bewohner und Mieter eines Hauses Architektur als „Lebens-Mittel" auffassen und so darüber reden. Sie reden dabei gewiß nicht über Architektur. Nutzer bedienen sich nämlich in der Regel eines anderen Sprachspiels als Architekten. Ihre Expertenperspektive schöpft eher aus einem Können als einem Kennen. Das erworbene Können ist Resultat einer langen Übung, die man Wohnen nennen kann. Man muß sich aber schon auf dieses Sprachspiel einlassen, will man gleichsam diesen konkreten „Gebrauchswert" von Architektur kennenlernen. Mieter sprechen also nicht über Architektur, sondern sie erzählen von ihren alltäglichen Erfahrungen als Wohnende. Da solche Erfahrungen nicht im luftleeren Raum schweben, sondern in einem handfesten Sinne irdisch sind, ist der Bezug zur Räumlichkeit des Erfahrungslebens banal, d.h., er wird u.U. nicht explizit thematisiert. Unsere Aufgabe ist es nun, was an diesen Beschreibungen unanschaulich bleibt, z.B. weil es für das Erzählen redundant ist oder weil man während des Erzählens nicht zugleich die Hinsichten des Erzählens reflektieren kann, zu veranschaulichen. Diese Form von „Lernen" ist also gemeint: Sich an den Umgangserfahrungen der Menschen mit Architektur ein Beispiel nehmen, sich davon überraschen zu lassen, was eine Tür, ein Fenster, eine Treppe alles sein kann.

4Indes der Bruch, der mit dem Bewohnen in Gang gesetzt wird, bedeutet das gewaltsame Umdeuten der (Wohn-)Dinge von Gegenständen der Architekturgeschichte und -theorie zu Gebrauchsmitteln, mit denen wir einen konkreten Zweck verfolgen. Die Dinge treten nun ein in die Lebensgeschichten von Menschen, die mit ihnen etwas vorhaben und deren spezifische Dienlichkeit sich im Umgang erweisen wird. In dieser radikalen Wendung liegt auch der Umschlag von einem (architekturtheoretischen) Erkenntnisbezug in einen (erfahrungsmäßigen) Lebensbezug. Und dieses Umschlagen hat die Architektursoziologie methodologisch mitzuvollziehen. Man muß sich ganz einfach den Sprachspielregeln der Architekturkritik verweigern! Deshalb kann Architektursoziologie nicht (länger) Architekturkritik sein, sondern sie konzipiert sich als konkrete Erfahrungswissenschaft. Denn die Architektur ist nicht mehr Gegenstand von distanzierter Betrachtung, vielmehr wird sie Mittel zum unmittelbaren Gebrauch. Die Spuren, die der Gebrauch hinterläßt, prägen dann die Beschreibungen, wie mit ihr umgegangen wird. Aber auch die Architektur selbst zeigt Narben des Umgangs; sie altert mit ihren Bewohnern.

2. Wohnen und Erfahrung

5Was wir also unter dem Wohnen verstehen wollen, so mein Vorschlag, sind nichts anderes als unsere Wohnerfahrungen. Wenn das so ist, dann brauchen wir nicht vorab einen theoretischen Begriff von Wohnen zu definieren. Es ist sogar unmöglich, einen einheitlichen Begriff von Wohnen vorauszusetzen, da das Eigentümliche an Erfahrungen ja gerade der Umstand ist, daß wir z.B. niemals bewußt eine bestimmte Erfahrung machen können. Erfahrungen sind weder vorhersehbar noch sind sie theoretisch zu hintergehen. Sie sind ja z.B. nicht abtrennbar von den Erwartungen, die jeder Mensch als seine Lebenserfahrung immer schon in eine neue Situation einbringt. "Neue" Erfahrungen machen wir nur auf Kosten einer "ersten" Erfahrung, die nicht mehr paßt (vgl. Szilasi 1961). Ob und welche "neue" Erfahrung man gemacht hat, das zeigt sich erst hinterher. Wir können niemals voraussagen, ob die Widerfahrnisse, denen wir in einer Situation begegnen, im schon Bekannten aufgehen oder nicht.

3. Das Zeigen durch Worte

6Wie bekommt der Erfahrungswissenschaftler Zugang zu den Erfahrungen der anderen? Nicht anders, als wir auch im Alltagsleben über Erfahrungen, die andere gemacht haben, unterrichtet werden: nämlich durch sprachliche Mitteilung. Der Philosoph Josef König hat einmal sehr schön, wenn auch auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich, dargestellt, daß "praktische Sätze" Handlungen des "Jemandem-etwas-Mitteilens" sind (vgl. König 1994). "Praktische Sätze" zeichnen sich dadurch aus, daß jemand einem anderen etwas mitteilen und so zeigen will, was dieser noch nicht weiß, was er aber wissen möchte. Dies kann ich an dieser Stelle nicht vertiefen (vgl. Hahn 1997a). Jedenfalls taucht hier schon die Notwendigkeit auf, daß wir, ob nun gestikulierend oder artikulierend, nur etwas mitteilen können, für das wir grundsätzlich Sprachlichkeit unterstellen müssen, auch falls uns momentan das richtige Wort nicht zur Verfügung stehen sollte. Ludwig Klages hat als einer der ersten plausibel machen können, daß die Geste des Zeigens in enger Verbindung zum hinweisenden Denken steht. Denken, Mitteilen und Zeigen gehören unmittelbar zusammen. Es besteht kein Zweifel daran, so Klages in Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, "daß die Urtätigkeit des Denkens den Erscheinungen galt und zum Behuf der Mitteilbarkeit des Gedachten nicht der Unterstützung durch den - Zeigefinger entriet" (Klages 1950, S. 265). Die Geste des Zeigens setze ich ein, um jemanden auf etwas aufmerksam zu machen, nämlich ihm etwas mitzuteilen, was mir schon bedeutend geworden ist. Bedeutung hat etwas für mich, insofern ich es schon als etwas Bedeutendes gedacht und begriffen habe. Damit will ich sagen, daß mitteilen bzw. zeigen, ob durch Gesten oder durch Worte, Sprachlichkeit und selbstverständlich Mitmenschen voraussetzen. Gesten sind keine Zeichen, sondern sie sind Bedeutung unmittelbar. Nochmals Josef König: "Daß ich etwas bedeute, ist gleichsam dies, daß ich auf etwas hinzeige" (König 1994, S. 498). Daß das Zu-jemandem-etwas-sagen gleichsam ein Hinzeigen ist, ist nur möglich, weil wir Wesen sind, die Sprache haben.

4. Das praktische Wissen des Nutzers

7Wilhelm Dilthey hat ja die "Raumkunst" ausdrücklich als zur Gruppe der Geisteswissenschaften gehörend eingestuft (vgl. zuerst Dilthey 1910; zitiert nach Dilthey 1981, S. 89). Das Wesentliche dabei war für Dilthey, daß für die Gegenstände der Geisteswissenschaften ein "Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen" gültig ist, der "uns durch Verhalten zugänglich wird" (S. 99; kursiv durch mich). Die Architektur beinhaltet, wenn man so einmal sagen darf, zwei soziale Verhaltensmodi: das Bauen oder Herstellen und das Wohnen oder Gebrauchen. Dabei ist das Gebrauchswissen dem Herstellungswissen in gewisser Weise überlegen, insofern das Konkrete uns mehr einleuchtet und näher ist als das Allgemeine. Während der Hersteller an eine allgemeine Nützlichkeit einer Sache denkt, die vielen Menschen zugute kommen soll, so fragt der einzelne Konsument nach dem konkreten Nutzen dieser Sache für ihn. Diesen Nutzen erfährt er indes nur, insofern er das Hergestellte gebraucht. Das konkrete Wozu der Sache erweist sich darin, daß sie tatsächlich Jemandem zu etwas nützlich ist. Was ich durch den Gebrauch erreichen will - und sich vielleicht als passende Antwort auf meine Bedürftigkeit erweist -, sozusagen mein innerweltliches Ziel, dies liegt außerhalb des allgemeinen Bezugs von Mittel, Zweck und Nutzen, an welchem sich nur der Hersteller orientiert. Der Wissenschaftshistoriker Eugene Ferguson hat in seinem instruktiven Buch Das innere Auge, Von der Kunst des Ingeniuers einen denkbaren Austausch zwischen Hersteller und Nutzer skizziert: "So könnte der neue Besitzer eines kleinen Fischerboots zur Werkstatt des Bootsbauers zurückkehren und sagen: 'Hans, dies verdammte Boot hätte mich heute fast umgebracht, weil der Großbaum rübergekommen ist. Vielleicht muß man den Stevenanlauf etwas wegnehmen und den Deckbalken etwas verbreitern.' Ganz gleich, ob der Bootsbauer dieses Boot dann umbaut oder nicht, er wird das nächste Boot wohl anders bauen. Entwerfer und Erbauer, Eigner und lokale Gegebenheiten tragen so alle zur Entwicklung eines 'Typs' von Fischerboot bei" (Ferguson 1993, S. 16f.).

8Mich interessiert im folgenden also die Seite des Gebrauchs der hergestellten Wohndinge. Das Wohnen verstehe ich als ein soziales Handeln oder als Praxis. Dies ist zwar schon in der Soziologie bemerkt (vgl. etwa Konau 1977), leider jedoch nicht, so mein Eindruck, hinreichend berücksicht worden. Um mit Dilthey zu sprechen, ist dem Geisteswissenschaftler die „Raumkunst" nur durch ein Verhalten zugänglich, das sich grundsätzlich verstehen läßt. Wohnen ist ein Sichverhalten zur Räumlichkeit unserer Umwelt und zu den Dingen, die in unserem Wohnraum ihren Platz haben. Ich denke hier in erster Linie an das gebrauchende Verhalten zu den Wohndingen. Eine soziologisch akzeptable Interpretation von Praxis hat Wilhelm Hennis in Anlehnung an Max Weber vorgeschlagen, als er feststellte, daß soziales Handeln "auf die Lebensführung des ... in Gemeinschaft lebenden Menschen" (Hennis 1987, S. 75) hin verstanden werden müßte. Lebensführung ist einmal ein spezifisch erworbenes Können, mit unseren Angelegenheiten umzugehen, zum anderen auch ein bestimmtes, damit zusammenhängendes praktisches Wissen, eben unser Umgangs- oder Lebensführungswissen (vgl. dazu ausführlich Hahn 1994). Dieses Umgangswissen meint auch die praktische Fähigkeit, dem anderen über sein Können etwas mitzuteilen, entweder ihm etwas vorzumachen, oder, wenn dies nicht möglich ist, dem anderen an Beispielen zu veranschaulichen, wie etwas praktiziert wird. Ob durch zeigen oder ansprechen: beide Male wird Bedeutung weitergegeben. An diesen Beschreibungen kann und muß der Erfahrungswissenschaftler sich orientieren, denn es gibt für ihn keine andere Möglichkeit, sich über das Umgangskönnen des Wohnenden ins Bild zu setzen.

5. Die Beschreibung als Erfahrungsmitteilung

9Was sind Beschreibungen? Was Menschen von sich wissen, was sie ihre Überzeugungen nennen, wie sie durch Erfahrungen "klüger" werden, das alles beschreiben sie sich und anderen. Beschreibungen sind die mündlichen oder schriftlichen Medien, jemandem etwas mitzuteilen, über das dieser noch nicht informiert ist. Beschreibungen fixieren die Handhabungen der Umwelt für einen anderen.

10Ich möchte zunächst plausibel machen, warum in den empirischen Wissenschaften der Primat der Beobachtung durch den der Beschreibung ersetzt werden sollte. Anschließend gebe ich ein Beispiel einer soziologischen Beschreibung. Ferdinand Fellmann hat im Jahr 1974 einen Aufsatz für das von Erich Rothacker begründete Archiv für Begriffsgeschichte beigesteuert, der von „Wissenschaft als Beschreibung" handelt. Sein Aufsatz beginnt mit einem Paukenschlag: „Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten". Diese Forderung, vorgetragen mit der ihm eigenen ethischen Unbedingtheit, stammt natürlich von Ludwig Wittgenstein. Eine Erklärung soll kurz und bündig sein, eine Beschreibung schweift ab. Eine Erklärung reduziert ein Phänomen auf eine einfache Beziehung von Ursache und Wirkung, eine Beschreibung ist ausholend, gibt Beispiele, verstrickt sich in Unexaktheiten. Warum also diese vehemente Auslassung Wittgensteins? Vielleicht weil Erklärungen oftmals die Form der Überredung haben, in denen es z.B. heißt: „Dies ist in Wirklichkeit jenes" (vgl. Wittgenstein 1968, S. 50, 54).

11Ich möchte mich im folgenden auf die Gedanken von Otto Bollnow stützen, der im zweiten Band seiner Philosophie der Erkenntnis ein Kapitel Die Beschreibung als Mittel der Erkenntnis eingefügt hat. Die Beschreibung sei das beste Mittel sich selbst oder einem anderen mitzuteilen, was man beobachtet hat. Für die empirischen Wissenschaften kann getrost unterstellt werden, daß am Beginn jeder wissenschaftlichen Arbeit und damit auch jeder empirisch gehaltvollen Theorie die Beschreibung von Beobachtetem steht. Darin erscheint freilich die Beschreibung lediglich als die erste und unterste Stufe eines allgemein anerkannten wissenschaftlichen Verfahrens, an dessen Ende die Produktion von Theorie steht. Oft wird diese Vorstufe noch nicht einmal als Teil der Wissenschaft selbst gesehen. Zu diesen Gewohnheiten der wissenschaftlichen Praxis bemerkt Bollnow: „Was aber Beschreibung ist, wird dabei meist als unproblematisch vorausgesetzt" (S. 124).

12Ich kann natürlich an dieser Stelle nicht alles referieren, was Bollnow zum Beschreiben ausführt. Ich möchte deshalb vor allem auf das abheben, was einem Soziologen wegweisend für die empirische Sozialforschung erscheint. Zunächst, beschreiben kommt nicht nur als Vorstufe von Wissenschaft vor, sondern es gibt im alltäglichen Leben immer wieder Situationen, die zur Beschreibung Anlaß geben. Solches gewöhnliche Beschreiben befolgt immer einen bestimmten Zweck: „Man beschreibt immer etwas für einen andern, um diesem eine ihm fehlende Vorstellung zu vermitteln" (S. 126). Beschreibung, so können wir sagen, ist eine Form von Mitteilung. Wenn ich von jemandem wissen möchte, wie es in dem Wohnviertel zugeht, in das er vor einem Monat gezogen ist, so wird er es mir zu beschreiben versuchen. Damit ich jedoch seine Beschreibung verstehen kann, ist es notwendig, daß er sie so aufbaut, daß ich mir darunter auch etwas vorstellen kann, ohne das Viertel aus eigener Anschauung zu kennen. Er muß also gewissermaßen durch Worte Bilder entwerfen und in mir Geschichten wachrufen, die mir „irgendwie" vertraut sind, auch wenn ich deren hier gemeinte Verknüpfung noch nicht kenne, sonst bräuchte ich ja nicht danach zu fragen. Bollnow sagt deshalb: „Eine Beschreibung beschreibt etwas, was ich aus eigner Anschauung kenne, einem andern, der es nicht kennt, der es aber aus irgend einem Grund wissen möchte. Die Beschreibung ... entwirft ein Suchbild, mit dem der andre an die Wirklichkeit herantritt und das er dann in der Wirklichkeit identifiziert" (S.127). Beschreibungen sind also für andere da, für die so ihr Bild der Wirklichkeit erweitert wird.

13Beschreibungssituationen haben eine kommunikative Struktur. Sie verbinden zwischen dem, der etwas beschreibt, und dem, dem etwas beschrieben wird. Nur der, der etwas erlebt und erfahren hat, kann etwas beschreiben. Nun ist das Erleben und Erfahren in einem Wohnviertel ein durchgängiger Prozeß. Mit der Zeit stumpft unsere Aufmerksamkeit ab. Vieles wiederholt sich, Veränderungen geschehen meist schleichend und mit der Zeit bilden sich Routinen heraus, die uns von der permanenten Wahrnehmung entlasten. Oft sind wir es gar nicht gewohnt, über unsere Erfahrungen zu sprechen. Es fragt uns ja selten jemand nach dem, was wir im Wohnen erlebt haben. Werden wir jedoch aufgefordert, vielleicht durch einen neugierigen Sozialwissenschaftler, unser Wohnen zu beschreiben, dann werden nicht einfach unsere vielen Erlebnisse wie Sammlerstücke, gleichsam Unikum für Unikum, hingesprochen. Vielmehr erzählen wir Geschichten. Deshalb spreche ich auch von der narrativen Pragmatik unseres Erfahrungslebens (vgl. zuletzt Hahn 1997a).

14Wir können offensichtlich nicht einfach Wahrgenommenes, sozusagen: Bild für Bild, als Datenansammlung wiedergeben, sondern wir werden das Erlebte als unsere Erfahrung mitteilen. Als Erfahrung mitgeteilt, bekommen unsere Erlebnisse eine bestimmte, wenn man so will: „reflexive" Wendung: Sie werden als bedeutsam für unser Leben beschrieben. Wir passen sie sozusagen unserem Denkstil an und verschaffen ihnen so eine Bedeutungseinheit. Damit geben wir ihnen zugleich eine Ordnung, die keine äußerliche ist. Es ist die Ordnung, die wir dem Erlebten für unser Erfahrungsleben beimessen. Nur so werden sie mitteilbar, indem sie an die Erfahrung des Zuhörers appellieren, damit er sich in den Beschreibungen auszukennen lernt, sie selbständig „in der Wirklichkeit identifiziert" (Bollnow). Mit anderen Worten: Eine Beschreibung muß Anschluß finden an die Erfahrungen des Hörers, sonst könnten sie von ihm nicht verstanden werden. Der Hörer muß den „Witz" der Geschichte erfassen, sonst verpaßt er den Sinn des Gesprochenen. Was „Wirklichkeit" ist, zeigt sich erst in den Beschreibungen, die wir uns und anderen geben. Eine Beschreibung, so können wir auch sagen, ist eine Interpretation und Deutung dessen, was uns in der Welt widerfahren ist. Da Beschreibungen auf das bewährte Vokabular einer Sprachgemeinschaft zurückgreifen müssen, ist also unser soziologisches Augenmerk auf den Gebrauch dieser sprachlichen Konzeptionen gerichtet.

15Für die Architekturtheorie hat den Primat der Interpretation und Deutung Juan Pablo Bonta in seinem herausragenden Buch Über Interpretation von Architektur überzeugend dargestellt. Für die Architektursoziolgie möchte ich vor allem auf die bedeutende Untersuchung von Philippe Boudon Die Siedlung Pessac - 40 Jahre Wohnen à LeCorbusier hinweisen. Ich kann auf beide Publikationen an dieser Stelle leider nicht weiter eingehen.

6. Die „Begriffe" unserer Beschreibungen

16Statt Erklärung oder „großer" Theorie also Beschreibung oder „lokale" Theorie, wie ich es nennen möchte. Der Ethnograph Clifford Geertz hat die sinnige Bezeichnung „dichte Beschreibung" vorgeschlagen, die einige Soziologen übernommen haben. Was wir für unsere Beobachtungsdaten halten sind „in Wirklichkeit unsere Auslegungen davon, wie andere Menschen ihr eigenes Tun und das ihrer Mitmenschen auslegen" (Geertz 1983, S.14). Das Beschreiben ist eine praktische Tätigkeit und veranschaulicht an Beispielen, wie Wohndinge genutzt werden und daraufhin dies oder jenes bedeuten. Die Beschreibungen der Wohnenden sind also Interpretationen ihres Wohnens, und unsere „lokale Theorie" oder „dichte Beschreibung" sind eine Interpretation jener Interpretationen. Der empirische Wohnforscher hat nämlich keinen Zugang zu irgend einer beschreibungsunabhängigen Wahrheit jenseits von Erfahrung und Auslegung. Auch gibt es keine Grenze zwischen erhobenen Daten und festgestellten Tatsachen auf der einen und deren Darstellung auf der anderen Seite. Alle Medien, die Sprache durch welches künstliche System auch immer ersetzen wollen, sind an die Sprache gebunden, die wir sprechen und in der wir leben.

17Ich möchte nun auf eine Überlegung des schwedisch-amerikanischen Architekten und Architekturtheoretikers Lars Lerup zu sprechen kommen. Lerup, dessen Buch über Das Unfertige bauen mir sehr wichtig geworden ist, hat an einer Stelle ausgeführt: „Die ‘Lektüre’ von Wohnsiedlungen kann nicht aufs Gratewohl erfolgen". Denn die für den wohnsoziologischen Diskurs grundlegenden Begriffe wie z.B. „Privatheit" und „Öffentlichkeit" sind in der Praxis des Wohnens nicht nur nicht eindeutig definiert, sie sind überhaupt nicht definiert. Im Kontext von Beschreibungen werden sie fallweise gebraucht. Diese Einsicht versucht Lerup für die architekturtheoretische Diskussion folgendermaßen zu nutzen: „Wie der Begriff ‘Stuhl’, lassen sich auch die Begriffe von der sozialen und von der persönlichen Sphäre an der Oberfläche der gebauten Umwelt nicht unmittelbar ablesen. Da es nur Begriffe sind, kann ihnen durch Formen nur teilweise Ausdruck verliehen werden. Nur im Lichte der Verhaltensweisen der Bewohner offenbaren sie sich dem Beobachter" (Lerup 1986, S. 27). Beobachten ist also vergleichbar mit einer „Lektüre". An dieser Stelle möchte ich nur kurz auf den Aufsatz von Hans-Georg Gadamer verweisen mit dem schönen Titel Über das Lesen von Bauten und Bildern. Nur wer etwas verstanden hat, heißt es darin, kann lesen, nämlich vor-lesen. Ob und wie jemand einen Text verstanden hat, zeigt sich vorzüglich darin, wenn er ihn vorliest. Und weil dies so ist, ist auch jedes Lesen ein Interpretieren oder Auslegen des Textes. Bezogen auf das „Lesen" von Bauten bedeutet dies: Im Beschreiben oder in der „Lektüre" von Bauten legen wir unser Verstehen aus, nämlich das, was sie uns bedeuten bzw. was wir im Umgang an ihnen erfahren haben. Der polnische Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck hat in einigen Aufsätzen schon Ende der 30-er Jahre plausibel gemacht, daß es keine „reine, vorurteilsfreie Beobachtung" gibt und geben kann, weder in den Natur- noch in den Geisteswissenschaften (Fleck 1983). Jede Beschreibung einer Beobachtung greift auf Wissensbestände und Denkgepflogenheiten zurück, die selbst weder Gegenstand der Beobachtung noch der Beschreibung sind, sondern „unter der Hand" antizipiert werden. Statt also sein wissenschaftliches Tun damit zu verbringen, eine immer „objektivere" Sprache zu erfinden, sollten wir vielmehr die Unhintergehbarkeit von Erfahrung uns zu eigen machen und kreativ damit umgehen lernen.

18Zurück zu Lerup: Begriffe oder sprachliche Konzeptionen, nämlich was sie bedeuten und mit denen wir uns untereinander über den Umgang mit den Wohn-Dingen verständigen, lassen sich nicht unmittelbar an den baulichen Erscheinungen ablesen. Vielmehr werden sie nur durch das Verhalten, oder genauer: durch das gebrauchende Verhalten, sichtbar. Wir „benötigen" deshalb Beschreibungen vom Gebrauch dieser Wohndinge von Menschen, die damit tatsächlich ihre Erfahrungen gemacht haben. Dies scheint mir eine bedeutsame Einsicht zu sein. Der Stuhl ist nicht „einfach" ein Stuhl, das Fenster nicht schlechthin ein Fenster und die Treppe nicht ein Exemplar einer allgemeinen Idee „Treppe". Denn was sie sind, zeigt sich erst und nur im Gebrauch. Jeder Umgang ist jedoch situativ und lokal. Deshalb kann der Ertrag einer solchen Untersuchung nur begrenzt sein. Für universelle Aussagen besteht keine Veranlassung, aber auch keine Verwendung. Denn Praxisfälle sind keine „Fälle" einer allgemeingültigen Regel, sondern Gebrauchsbeispiele. Man kann sich an den „lokalen" Erfahrungen ein Beispiel nehmen, wie man es besser (nicht) machen sollte. Man kann aber auch lernen, wie Menschen mit einer bestimmten räumlich-sozialen Situation fertig geworden sind, nämlich sie bewältigt haben. Es bleibt jedoch noch an Lerups zitierter Aussage unklar, inwiefern sich Verhaltensweisen „beobachten" lassen, und auf welche „Begriffe" man „beobachtend" stößt.

19Jede Beobachtung ist relativ zur Sprache, in der wir das Beobachtete ausdrücken. Erst in der Beschreibung werden Erlebnisse und Widerfahrnisse (Beobachtungen) mitteilbar. Auch den Wohnenden selbst zwingt die Beschreibung praktizierter Umgangsweisen eine verstehende Deutung auf. So können z.B. auch die räumlich-architektonischen Elemente ihre Starrheit aufgeben, in die sie Systematik und Logik der Architektur gezwängt haben: Mit einem Male sind sie Umgangsdinge, die erst in der erfahrungsmäßigen Reflexion auf ihre konkrete Nützlich- oder Brauchbarkeit das werden, was sie sind. Bedeutungen machen nur Sinn in einer Bedeutungswelt, in der jede Auslegung ihren besonderen Platz hat. Wir haben als Interpreten nichts erreicht, wenn wir die lebensweltliche Ordnung mißachten, in der der Gebrauch der Wohndinge hineingehört. Erfahrungswelten mit ihrer informellen Logik des tatsächlichen Lebens (Geertz) sind keine verallgemeinerbaren Schemata rationalen Verhaltens, sondern konkrete Beispiele, das eigene Leben einheitlich zu verstehen.

20Etwas beschreiben heißt also Bedeutungen festlegen. Das Beschreiben von Wohndingen heißt dann, jemandem mitzuteilen, was einem im Umgang mit diesen Wohndingen gleichsam zugestoßen ist, was das Zutun-haben mit ihnen für Folgen hat. Das klingt alles sehr dramatisch. Worauf ich nur hinaus will, ist plausibel zu machen, daß diese Dinge, um die es hier geht: wie Gemeinschaftsräume, Fenster, Treppen usw., nicht zunächst "Dinge an sich" sind, deren konkreter Sinn dann nachträglich festgelegt wird. Ich möchte zeigen, daß solche Dinge nicht allgemeine, irgendwie vorherbestimmte Inhalte haben, über die sich dann eine subjektive Vorstellung legt. Ein „Ding an sich" sehen hieße, es ohne Perspektive zu sehen, was schlicht unmöglich ist, weil Menschen nur von einem Standpunkt aus etwas sehen können. Es gibt kein eigentliches So-Sein der Dinge jenseits ihres konkreten Ansprechens und Hantierens. Dinge haben nicht eine allgemeine abstrakte Bedeutung, von der man sich dann eine konkrete Vorstellung macht. Im Ansprechen und Hantieren praktizieren wir ohne Umweg die Bedeutung, die die Dinge für uns haben. Die Dinge sind jeweils genau das, als was sie sich im hantierenden oder sprachlichen Umgang uns zeigen. Der Gebrauch bestimmter Worte bei der Beschreibung der Umgangserfahrungen mit diesen Dingen ist ein "Zeigen" dieser Bedeutung im Medium Sprache. Im Mitteilen kommt eine bestimmte sprachliche Konzeption zum Ausdruck, wie etwas verstanden werden soll, wie der Sprecher etwas erfahren hat.

7. Das Wohnen als „unablässige Übung"

21Die folgende soziologische Beschreibung ist ein Beispiel für das gebrauchende Verhalten. Sie geht zurück auf ein Gespräch mit einer knapp dreißigjährigen Frau, die in einem Berliner Mehrfamilienhaus wohnt (vgl. zum Folgenden ausführlich Hahn 1997b). Dieses Haus, die Architekten haben es "Hallenhaus" genannt, ist im Rahmen des "experimentellen" Sozialen Wohnungsbaus unter der Absicht, "kommunikatives Wohnen" zu ermöglichen, entwickelt und verwirklicht worden. Der Bauträger ist die Berliner Bau- und Wohnunsggenossenschaft von 1892. Das Ungewöhnliche an dem Haus ist das Fehlen eines üblichen Treppenhauses. Statt dessen haben die Architekten eine große glasüberdachte Halle konzipiert, die als Begegnungsraum Kommunikation und Gemeinschaft unter den Mietern initiieren soll. Dieses Haus wird von zwanzig Mietparteien bewohnt. Ende 1995 hatte ich Gelegenheit mit zwölf Bewohnern ausführliche Gespräche über ihr Wohnen zu führen. Ich möchte nun Frau Rulohs vorstellen, die damals wie alle anderen Mieter auch immerhin schon dreieinhalb Jahre im Haus wohnte und mit er ich ein etwas zweistündiges Gespräch führte. Ich hatte sie gebeten, mit mir über ihre Wohnerfahrungen zu sprechen. Das Gespräch wurde auf Band genommen und anschließend wortgetreu verschriftet.

22Frau Rulohs unterscheidet, wie andere Mieter des Hauses auch, eine Anfangszeit. Sie legt nahe, diese Phase als ein Ausprobieren aufzufassen. Die Mieter üben unter- und miteinander ihr Verhältnis zur Gemeinschaft und zum Haus. Das Ziel dieses Übens ist dann erreicht, wenn sich Grenzen des Wohnens auftun, die sich nicht mehr verschieben lassen. Der Zweck kann darin gesehen werden, immer neue Möglichkeiten der Kommunikation, der Raumnutzung und der Selbstbeschreibung zu entdecken. Im einzelnen werden Bedeutungen gesetzt oder markiert. Für Frau Rulohs gibt es dabei keine Tabus, in dem Sinne, daß hier alles neu, ungewöhnlich und sozusagen noch bedeutungsleer ist. Das Wohnen hier ist gewissermaßen noch ein leeres Blatt, das von den Mietern in eigener Verantwortung beschriftet werden soll. Eine solche Wohn-Konzeption muß natürlich all denen Probleme bereiten, die lieber zunächst am Bekannten und Überkommenen ansetzen möchten. Die Ausgangssituation von Frau Rulohs ist gewissermaßen allem vermeintlich Überlebten gegenüber extrem kritisch: Das war ja ne neue Situation, so einen Innenhof kennt man normalerweise nicht. Daß dies ungewohnt war, heißt für sie zugleich, daß man den Gebrauch (oder die Bedeutung) der Dinge, die die neue Situation ausmachen, nicht vorab eindeutig festlegen kann. Das "Neue" zeichnet sich ja gerade dadurch aus, daß seine Bedeutung noch unausgesprochen ist: Und dann einfach die Bedeutung was bedeutet mir der Innenhof, was stellt er für mich persönlich dar und da jeder natürlich so seine eigenen Bedürfnisse irgendwo, einer sagt der zum Durchlaufen da, der nächste sagt, es ist ja wunderschön, daß hier Pflanzen sind und der nächste sagt, ist schön, daß ich hier sitzen kann und mich unterhalten kann, ohne unbedingt in meiner Wohnung sitzen zu sitzen ne.

23Aber so ganz offen war die Bedeutungszuschreibung des Innenhofs wohl doch nicht. Denn die Genossenschaft hat der Hausgemeinschaft einen heftigen Wink gegeben, was es mit dem Innenhof auf sich hat. Sie stellte ihr nämlich Tische und Stühle zur Möblierung zur Verfügung und unterstrich damit einen möglichen Namen: Die Tische und Stühle haben wir von der Genossenschaft direkt spendiert bekommen (...) als Kommunikationszentrum sozusagen haben wir Tische und Stühle bekommen, also das war ne gegebene Situation, die wir irgendwie lernen sollten zu nutzen. Mit dem Vorentscheid durch die Genossenschaft ist freilich dem Ortscharakter entschieden vorweggegriffen, insofern hier tatsächlich eine gegebene Situation möbliert und installiert wurde, die die Gemeinschaft der Mieter nur mehr auszuführen hatte. Diese Interpretation des Hofes wird auch gleich ins Feld geführt, um alternative Bedeutungen und Vorschläge zur Nutzung abzuwehren: Und denn bildeten sich Gruppen und Grüppchen (innerhalb der Bewohnerschaft, A.H.), die meinten, der Innenhof ist zu laut, der Innenhof ist nicht für die Kinder sondern für die Pflanzen da zum Beispiel, man soll da nicht so drinsitzen, dies ist zu laut, wir würden uns so laut unterhalten und denn kommt natürlich irgendwann ne Kontrahaltung zustande so, warum soll ich nicht im Innenhof sitzen, der ist doch eigentlich für mich da, der ist auch dafür da, daß wir das ist ja nen Kommunikationszentrum sozusagen der Innenhof und denn seh ich es nicht ein, den nicht zu nutzen.

24So paßt es auch, wenn Frau Rulohs diese frühen Klärungsprozesse als eine Anlaufzeit beschreibt, die man natürlicherweise braucht, um zu verstehen, wie die Dinge überhaupt richtig zu nutzen sind: Wir mußten ja auch erstmal überlegen, es war einfach ne völlig neue Situation stellte sich dar, wir haben noch zusätzlich einen Innenhof, den man auch nutzen kann, das ist eine Situation, die muß man erstmal reinwachsen, die ist ja nicht so einfach da, ach toll ein Innenhof jetzt nutz ich den nur noch, da muß man erstmal üben, wann nutz ich den, wie nutz ich den, setz ich mich auch alleine rein und kommen welche hinzu oder trau ich mich nur in ner Gruppe runter oder so ne Sachen, das ist Übungssache. Diese Anlauf- und Übzeit, dieses Reinwachsen in die räumliche Situation, die vielen Versuche, diese Situation zu bewältigen, ebenso der damit einhergehende Namengebungsprozeß (Kommunikationszentrum, Kinderspielplatz, Aufenthaltsort für Erwachsene usw.) werden begleitet vom permanenten Beieinander der Mieter. Auch diese intensive Kennenlernphase, wie sie Frau Rulohs tituliert, zeichnet sich durch das Spielen mit Möglichkeiten aus. Nun handelt es sich um Möglichkeiten, Kontakte zu knüpfen, sie bei Bedarf wieder aufzulösen und neue zu knüpfen. Da dies alles auf räumlich engem Terrain passiert, ist es nicht mit den üblichen Arten, Bekanntschaften einzugehen, zu vergleichen.

25Es ist sinnvoll, so gibt Frau Rulohs zu verstehen, wenn man in diesen Wohnprozeß keine Vorurteile mitbringt, sozusagen einengende Erwartungen hegt, die unbedingt eintreffen müssen, damit man sich wohlfühlt. Der Offenheit der neuen Situation muß ein Offensein für neue Erfahrungen der beteiligten Personen korrespondieren: Ich denke, wenn man konkrete Vorstellungen hat, dann ist es schwerer irgendwie sich reinzufinden, als wenn man keine konkreten Vorstellungen hat, wir habens einfach auf uns zukommen lassen und da wir beide auch ganz gerne andere Leute mögen, ham wir einfach gesagt, mal kucken wer hier ist.

26Es ging in dieser ersten Zeit vor allem darum, sich ein konkretes Bild von den Mitbewohnern zu machen: Was bedeuten denen eigentlich der Innenhof, Gemeinschaft und Wohnen? Das Kennenlernen ist hier zum selbstverständlichen Teil des Wohnens geworden: Ja wie haben wir uns eigentlich kennengelernt? das ist spontan doch abgelaufen, da hat der eine mal den anderen angequatscht, haste Lust, wolln wir mal mit den Kindern gehn oder irgendwie so, dann ham wir ne Babygruppe mal ins Leben gerufen, die wir wo wir oben in dem einen Raum, das war damals noch praktisch der Babyraum, da sind wir mit den Babies dann hochgegangen. Dazu waren der Innenhof bzw. die übrigen Gemeinschaftsräume gerade richtig. Vor allem der Innenhof besitzt weder die Intimität und Enge einer privaten Wohnung noch die Unverbindlichkeit und Weitläufigkeit eines öffentlichen Platzes. Der "natürliche" Ort für die Anfangszeit war offensichtlich der Innenhof: Das waren erst häufiger auch Kontakte, die nicht in der Wohnung stattfanden unbedingt, sondern auch gerade von draußen, weil viele oder einige sind dann so halt mehr bereit in den Außenbereich zu gehen, um mit jemandem Kontakt aufzunehmen, als den gleich in die Wohnung zu holen, das ist einfach en noch intimerer Bereich als dieses im Innenhof. Auch in einer anderen, fast am Ende des Gesprächs auftauchenden Passage vergleicht sie den Außenbereich mit der Wohnung. Dabei unterscheidet sie beide Orte und befindet, daß jener Bereich der Ort des Kennenlernens war, während demgegenüber die Wohnung erstmal ein intimer, nicht so offener Raum ist. Dieser wird dann später der Ort der Freundschaften: War wie gesagt am Anfang jeder irgendwo mit der Wohnung beschäftigt und hat sich mehr im Außenbereich erst kennengelernt so als in den Wohnungen drin ne eigentlich . Es war irgendwie noch so en bißchen Intimssphäre .. was nicht ganz so offen ist erstmal.

27Die Anfangszeit zeichnet sich aber auch durch die Aktivierung des internen Charakters der Mieterschaft aus. Hat man mit dem Innenhof den räumlichen Mittelpunkt der Hausgemeinschaft schnell entdeckt, so bleibt der innere Kristallisierungskern, der etwa das Handlungsziel eines gemeinsamen Tuns bestimmen könnte, umstritten. So wurde durch die Vermittlung der Genossenschaft eine entsprechende Institution, nämlich die Hausversammlung, ins Leben gerufen, die zu einer Klärung des Mieterwillens beitragen sollte, nämlich sich darüber auszutauschen, wie wir uns das überhaupt mit unserm Haus vorstellen, was wir überhaupt besser machen wollen. Über welches Selbstverständnis, was sich ja in praktischen Regelungen niederschlagen müßte, läßt sich aber die Gemeinschaft und ihr Wohnen organisieren? Naheliegend sollten dies die Regeln sein, denen man das Wohnen freiwillig unterwerfen wollte. Denn das Wohnen mit anderen bedarf offensichtlich einer Ordnung - aber welcher?

28Eine Hausordnung, die vor allem die Nutzung des Innenhofs durch die Kinder regeln sollte, war eine Zeitlang ständig Thema der ersten Hausversammlungen. Diese Frage war offensichtlich zentral, insofern sich im Pro und Contra die Gemeinschaft der Mieter polarisierte: Wann dürfen die Kinder draußen sein, wann nicht, das war also eigentlich jahrelang und auf fast jeder Hausversammlung Thema (...) irgendwann wurde es albern, weil es waren immer dieselben Leute, die sich dran gestört haben, daß die Kinder irgendwo spielen und zwar zu für meine Begriffe zu völlig normalen Zeiten. Frau Rulohs will den Dingen ihren Lauf lassen. Deshalb ist sie strikt gegen eine Regelung apriori. Sie meint, Probleme lösen sich von alleine: Ja das hat sich im Prinzip von alleine auch gelöst, die Kinder sind nämlich alle größer geworden und viele Sachen waren dann nicht mehr vorhanden.

29Die Anfangszeit endet in dem Moment, wo sich abzeichnet, daß die einzelnen Mieterparteien in ihrem Verhalten an Grenzen gestoßen sind. Ja am Anfang haben wir halt Rücksicht alle genommen ne, sehr viel Rücksicht, das war wirklich peh dieses Rücksichtnehmen und wir merkten, wir beißen trotzdem auf Granit ne, da haben wir gesagt ne, also irgendwann ist denn auch Schluß und Sense ne. Grenzen wurden gezogen, sowohl in dem Sinne, daß man einen Modus gefunden hat, sich räumlich gegen die anderen abzugrenzen, als auch in dem Sinne, daß man seinen Platz in der Gemeinschaft bzw. im Erfahrungsraum gefunden hat. Auch wer nur wohnen möchte, hat dies inzwischen im Haus durchsetzen können. So bestehen im Grunde mehrere Wohnformen parallel.
War noch die Anfangszeit dadurch gekennzeichnet, daß Frau Rulohs davon ausging, jeder möchte jeden im Haus kennenlernen, so ist nun Ernüchterung eingetreten; so in Bezug auf ihre Nachbarn: Die haben nach zweieinhalb bis drei Jahren immer noch nicht die Namen von uns gewußt ne, teilweise da hab ich auch gedacht, das ist aber auch traurig, die wohnen hier im Haus und wissen nicht mal, wer wer ist .. weil die es einfach nicht wollen .. und wenn und wenn die es nicht wollen dann ... dann klappt das natürlich auch nicht, dann kann ich die Leute auch nicht kennenlernen.
Weil die es nicht wollen, sagt Frau Rulohs und meint damit das spezifische Wohnen, so wie es sich nur in diesem Haus herausbilden konnte. Was zeichnet nun eigentlich die besondere Wohnform aus? Ein Beispiel: Eigentlich der Reiz macht .. macht das Innenleben aus (...) >(I: welche Bedeutung haben denn die Fenster ?)< ja die haben ne große Bedeutung, ich hab zum Beispiel als sie (ihre Tochter, A.H.) noch relativ klein war, sie im Innenhof spielen lassen können, ohne daß ich Angst haben mußte .. daß .. irgendwas großartig passiert, weil ich nämlich kucken konnte .. und sie hatte das Gefühl, sie kann überall alleine so sein .. oder auch ich konnte gut beobachten, wo sie hingegangen ist .. ich wußte ja, welche Türen sie ansteuert ungefähr, man weiß ja, wen die Kinder besuchen gehen .. und konnten sie halt viel schneller alleine losschicken .. und halt auch .. einfach die Neugierde, ich seh, was im Innenhof los ist ne, kommt auch dazu, also dies dieses Eßzimmerfenster hier find ich einfach ideal. An anderer Stelle spricht sie diesen Ort am Fenster als Concièrgeplatz an: Wenn Leute rausgehen und wir noch beim Frühstück sitzen, ja denn wird also mindestens zehnmal am Tag gewunken.

30Das Fenster zum Innenhof ist also mehr als eine Öffnung in der Mauer, die Licht hereinläßt; es verbürgt Teilnahme und Zugehörigkeit. Denn es gibt auch Mieter, die dieses Fenster mit einer Jalousie ständig verschlossen haben: Die im Erdgeschoß auch wohnt, die hat immer die Jolousie runter, die auch eigentlich nichts mit der Hausgemeinschaft zu tun haben will. Das Fenster vermittelt zwischen zwei Innenräumen und hat vor allem praktische Seiten, die sich auch noch als nützlich erweisen. Man beobachtet und genießt den Ausblick, insofern er die Neugierde befriedigt. So nimmt man Anteil am Geschehen im Haus. Ganz anders als etwa das Bullauge, das eher als architektonischer Gag verstanden wird. Da das Bullauge nur unmittelbar Einblick in den Bereich des Wohnungseingangs und damit keine Überschaubarkeit gewährt, wird es nur einseitig, nämlich außenseitig genutzt, sehr zum Leitwesen der Bewohner. Es erwies sich nicht nur als unpraktisch, sondern als geradezu störend: Ja mit dem Bullauge haben wir sehr sehr lange überlegt, was man da eigentlich draus machen kann . weil irgendwie einerseits ist es ja ganz nett son Bullauge zu haben, andererseits immer haben die Leute reingekuckt, ob wir auch wirklich zu Hause sind und zwar >(I: aah)< immer durchs Bullauge, aber so blöd, daß man immer >(I: jaja)< immer die Patschen dran hatte und immer irgendwie das war irgendwie nervig >(I: ja)< man fühlte sich durchs Bullauge ständig beobachtet und da haben wir haben alle, alle die Bullauge haben, wirklich überlegt, was machen wir denn da >(I: achso)< (...) und ich weiß auch, daß die Nachbarn auch alle diskutiert haben, was sie nun daraus machen aus diesem Bullauge.
Durch das Fenster zum Innenhof besitzt man zum einen die Gegenwart einer aktiven Gemeinschaftlichkeit, zum anderen lernt man die dabei auf eine konkrete Nützlichkeit im Hinblick auf diese Gemeinschaft anzueignende Architektur kennen und schätzen. Wie die Architektur genutzt wird, darin zeigt sich aber auch die Art von Gemeinschaft, die hier möglich wurde: Na es war schon en Reiz da also erstmal war der Reiz des Innenhofes und dieses .. überhaupt die Möglichkeit was gemeinsam zu machen doch schon der Reiz der Gemeinsamkeit, der war schon da, aber es war keine konkrete Sache, wie man das bewerkstelligt, ob man denn weiß ich nich immer nachmittags zum Kaffeeklatsch zusammensitzt oder ob man sich einfach so lose trifft oder ähm wie da abläuft, hatte man irgendwie nich son also hatte ich jedenfalls nicht so ne richtige Vorstellung, aber das ist einfach diees .. ja ich kuck aus em Fenster und seh meine Nachbarwohnung, das fand ich schon irgendwie faszinierend und zwar nich so von draußen irgendwo dieses diese .. es war einfach eine Faszination da, weils mich einfach interessiert hat, einfach die Möglichkeit ähm übergroße Wohngemeinschaft, ohne zu eng aufeinander zu kleben, weil so ne WG könnt ich mir zum Beispiel nicht vorstellen, ich möcht schon irgendwann, wann ich Lust hab, meine Tür zumachen können und das kann ich hier ja gut, wir haben hier Jalousie, die wir vielleicht dreimal im Jahr benutzen, man kann schon gut, wenn man will, kann man hier reinkucken, aber irgendwo benutzt man sie trotzdem nie also .. das macht man dann meist doch nicht, aber wir haben die Möglichkeit einfach die Möglichkeit zu haben, zu sagen ich mach jetzt meine Tür zu, ich will von euch jetzt nichts hören oder aber auch die Möglichkeit zu haben, zu sagen ich möcht was machen und- wer hat Lust? das hat man woanders einfach nich, da ist man auch grade wenn man nun als Frau zu Hause ist im Erziehungsurlaub, meistens sind das ja doch die Frauen, dann sitzt man irgendwo da und muß immer ständig irgendwo umher fahren, nur um andre Leute zu treffen, wenn man Kontakt haben will, das ist halt hier nich so, das ist einfach schneller einfacher unkomplizierter.

31Deutlich wird darin der konkrete Zusammenhang von sog. architektonischen Elementen wie Innenhof, Fenster, Haustüre, Jalousie und dem je von ihnen gemachten Gebrauch. Erst der praktische Umgang realisiert eine Wohnform, von der sich dann sagen läßt, daß sie zu einem paßt oder nicht paßt. Je vielfältiger der Gebrauch sich darstellt, desto großartiger erscheinen die Möglichkeiten, die eine Wohnform den Mietern bereithält. Aber - und dies wird zur besonderen Einsicht von Frau Rulohs, man muß sich tatsächlich auf die Dinge einlassen, mit ihnen spielen, sie ausprobieren, mit anderen Worten: man muß diese Wohnform auch wollen, ansonsten wird man die Möglichkeiten hier nicht entdecken. Denn die Möglichkeiten liegen ja nicht bei den architektonischen Elementen, sondern bei den Menschen, die sie sich zu nehmen wissen. Z.B. wenn man nun als Frau zu Hause ist im Erziehungsurlaub.
Die Möglichkeiten, die sich aus der Architektur und den institutionellen Vorgaben eines "kommunikativen Wohnens" ergeben, verlangen auf der anderen Seite aber auch die Bereitschaft der Menschen, sich darauf wirklich einzulassen. Dies ist offensichtlich das Schwerste. Immer wieder betont Frau Rulohs die Notwendigkeit, unkonventionell und entgegen starrer Erwartungen zu wohnen. Wie offen bin ich?, fragt sie sich und ihre Mit-Mieter, wie weit bin ich bereit, meine Grenzen diesem Wohnen anzupassen?
Und in ihrem konkreten Fall ist das "Offensein" selbst ein Resultat des Wohnens: Also .. man mußte auch üben .. wir haben alle glaub ich geübt .. wir haben alle erst so ein bißchen so zurückgezogen und .. mal sehen wie der andere reagiert .. überlegt hm .. wie weit kanst du gehen und .. inzwischen kennt man so seine Grenzen von dem andern oder weiß man kann ihn ganz gut einschätzen eigentlich .. und so weiß man schon wie weit man irgend .. wo gehen kann .. und es ist echt toll.

32Offenheit, Spontaneität und Möglichkeiten, dies sind die drei "Begriffe" oder besser: "Konzeptionen des Wohnens", die sie in ihrer Wohngeschichte gelernt hat, (neu) zu gebrauchen. Dabei kommt wiederum die Architektur nicht zu kurz. Im Gegenteil, ihre Bedeutung wird explizit hervorgehoben, nicht jedoch, indem Formen und Glieder, also architektonische Elemente, aufgezählt werden, sondern Frau Rulohs weist auf den spezifischen Gebrauch von "Hinterausgang" und "Innenhof" hin, so wie dieser Gebrauch hier Bedeutung erlangt hat. Genau dies wird als das Besondere und Neuartige auch gegenüber früheren Wohnformen betont.

33Es ist einfach äh großzügig durch die Brücken und so wirkt es halt sehr sehr großzügig alles. Auf die Interviewer-Frage nach der "Rolle der Architektur" antwortet Frau Rulohs, daß die Offenheit der Architektur zentral war für den Konstitutionsprozeß der Gemeinschaft. Diese Offenheit muß aber in einem zweifachen Sinne angesprochen werden. Zum einen als offener Platz, den der Innenhof bereithält und der ausgefüllt werden muß. Zum anderen aber ist die Architektur selbst eine offene Frage. Denn das Wie der Nutzung bzw. das Was der Bedeutung hängt von den Fähigkeiten und Fertigkeiten, auch der Kreativität, der Mieter ab. Dies setzt nun gerade wieder einen gemeinsamen Findungsprozeß voraus, in dessen Rahmen und bei dessen Umsetzung sich Gemeinschaft erst konstitutiert. Insofern ist das Einräumen und Bewohnen des Innenhofs und der Gemeinschaftsräume und das Werden der Hausgemeinschaft ein unteilbarer Prozeß. Nur dank der einander verbindenden Bereitschaft, sich auf ein Nutzungsziel des Architekturgebrauchs zu verständigen, ist Gemeinschaft hier wirklich erst geworden. Die Architektur insofern spielt ne große Rolle, der Innenhof der spielt natürlich ne enorme Rolle auch äh die Gemeinschaftsräume haben ne ganze Menge gebracht .. erstens Diskussionsstoff was machen wir mit den Gemeinschaftsräumen, das hat irgendwie verbunden .. das verbindet auch .. dafür was zu tun, das verbindet auch immer, wenn man gemeinsames Ziel irgendwo hat.
Freilich hat sich heute eine Nutzungsgewohnheit von Innenhof und Gemeinschaftsräumen durchgesetzt, die nicht allen Mietern paßt. Die Grenzen der - wenn man so will - engeren Hausgemeinschaft liegen deshalb wohl auch nur diesseits der Reichweite der akzeptierten Nutzungsziele. Insofern aber diese Ziele permanent sich verschieben, ein Blick auf die unterscheidlichen Nutzungen zu Anfang und nach dreieinhalb Jahren genügt, so ist über die Zukunft der Gemeinschaft wie der noch möglichen Raum-Nutzungen nie endgültig etwas auszusagen.

34Ganz am Ende des Gesprächs finden wir eine Selbstbeschreibung Frau Rulohs, die eine treffende Zusammenfassung ihrer Selbstsicht bereithält: Wir sind zwei Leute, die sehr darüber diskutieren denn immer wie und was und wo und es dauert auch sehr lange, eher wir uns einig werden in solchen Punkten .. das ja auch gar nicht verkehrt ist. Schaut man sich nun ein wenig näher darin um, worin sich Frau Rulohs in ihrem Selbstverständnis von den anderen Mietern unterscheidet, dann vor allem in der großen Entdeckerlaune, den Wohndingen immer wieder neue Seiten des Gebrauchs abzugewinnen, die Wohndinge auf eine ungewohnte Weise anzusprechen. Man spürt förmlich die Lust und Neugier, die sie mit dem Wohnen hier verbindet, die Grenzen des Gewohnten zu sprengen: Viele waren eigentlich versucht, das irgendwie alles zuzubauen, so wie mans eben sonst hatte ne auf alte Formen zu bringen, wie mans sonst wie es sonst üblich ist >(I: wie mans gewohnt ist)< wie mans gewohnt war jetzt fands eigentlich erstmal, ich fand hab zwar gesagt, och an die Tür muß ich mich gewöhnen und mein Mann sagt, nein die Türen sind doch toll, der fands von Anfang an eigentlich toll und ich hab gesagt, ne ich weiß nicht, ich muß erst mal kucken . laß mich erstmal dran gewöhnen.
Für Frau Rulohs sind Haus und Wohnung ein einziges Experimentierfeld: Nichts muß so bleiben, wie es ist. Alles ist möglich. Wichtig ist nur, daß es gefällt. Laß mich erstmal dran gewöhnen, sagt sie. Kriterium des Gefallens ist das befriedigende Gefühl, das sich am Ende einstellt: Ja, das paßt! Oder: So will ichs wirklich haben! Und: So kanns bleiben!: Ich habe festgestellt, es gibt hier auch Nachbarn, die haben .. praktisch die sind hier eingezogen, haben sich alles neue Möbel gekauft .. da ist die Hälfte eigentlich baden gegangen . einfach deswegen weil . es doch nicht so hinhaut wie man sich die Möbel in dem Moment dann so reingestellt hatte, ist dann denn entweder (unverständlich) das paßt doch nicht so recht dahin, deswegen haben wir außer dieser Eßgruppe erstmal überhaupt gar nichts gekauft Lampen, die natürlich notwendig waren klar . eine Lampe muß in jedem Zimmer sein und in der anderthalb Zimmerwohnung hatten wir auch nicht so viele Lampen .. wobei auch da schon versucht haben, uns halt nur erstmal auf diese Lampen zu konzentrieren und nichts weiter sonst zu kaufen .. ansonsten .. hab ich schon immer das Gefühl, wenn man zuviel auf einmal kauft, dann verliert man irgendwann den Überblick, was wirklich schön ist, was man wirklich haben will und es wäre natürlich auch ne Kostenfrage dann irgendwann ne.
Und in der nächsten Passage macht sie deutlich, inwiefern zu wohnen ein Entdecken ist. Es kann dies freilich nur sein, wenn man mit den Dingen der Wohnung spielt, sie etwas sein läßt, was sie gewöhnlich nicht sind. >(I: Sie sprachen, man muß sich die Wohnung erwohnen, entdeckt man dann die Wohnung anders? Entdeckt man dann irgendwelche Qualitäten?)< Ja klar Ecken wo man nicht gedacht hat daß da (unverständlich) gewisse Dinge schön drin aussehen oder man hat Sachen an, die man gar nicht gedacht, wir haben zum Beispiel im Wohnzimmer eine Tür ausgehangen, weil die Tür uns nach ner Weile gestört hat .. wir haben hm die Flügeltur am Anfang überhaupt nicht genutzt, jetzt machen wir sie schon manchmal zu, weil man mein Mann hier auch wat arbeiten will, ich will irgendwas anderes machen oder so also sind so Sachen, die man erst so nach und nach auch wo entdeckt .. oder .. die Vielfältigkeit dann einfach man machts immer auf die eine und selbe Art und Weise und merkt eigentlich gar nicht, daß da noch mehr Möglichkeiten drin stecken.
Kaum möglich ist es jedoch, wollte man diese Konzeption des Erwohnens auch auf den Innenhof und die Außenbereiche übertragen. Zum einen sind viele Mitbewohner zu sehr dem Gewohnten verhaftet, zum anderen ist die Kompromißfindung ein aufwendiger Akt, mit dessen Resultat dann keiner richtig glücklich ist: Da kann man den (Innenbereich, A.H.) nicht so verändern, das muß die ganze Gemeinschaft ja auch noch mit ziehen, das ist schwieriger, das ist viel viel schwieriger sowas zu ändern .. weil diese es sind ganz viele Leute, die dann ja das irgendwie ändern wollen sollen .. und bei so vielen Meinungen .. ist unheimlich schwierig wieder auf einen Nenner zu kommen .. das ist es doch oft so, das war schon immer so und das bleibt so und dann werden nur kleine Veränderungen also so Minischritte akzeptiert aber nicht die große Veränderung irgendwo.

35Wohnen ist das ständige Stoßen an Grenzen, aber nur um diese zu überwinden. Die Menschen ebenso wie die Wohndinge haben Spielräume, die man sich nehmen muß. Inzwischen kennt man so seine Grenzen von dem andern oder weiß man kann ihn ganz gut einschätzen eigentlich .. und so weiß man schon wie weit man irgend .. wo gehen kann .. und es ist echt toll. Dies ist jedoch so schwierig, weil wir selten freiwillig unsere Gewohnheiten preisgeben.

8. Über das Passen und Sitzen der Realität

36Was ist Wohnen? Vielleicht tatsächlich etwas, das "aus der Werkstatt einer langen Erfahrung und unablässigen Übung kommt" (Heidegger 1990, S. 156). Wenn das Bauen und Denken auf das Wohnen "hören" sollen, dann kann es nützlich sein, mit Lerup sich Architektur als "unfertig" zu denken. Sie muß dem Menschen Raum lassen, so daß er sich dem Lokalen anpassen kann. Sich-Anpassen und seine Wohnzwecke verfolgen sind kein Gegensatz. Am Ende scheint sich jedoch die Schwierigkeit zu ergeben, wie sich denn das Wohnen selbst artikulieren kann. Wohnen ist eine Tätigkeit, an deren Folgen große Erwartungen geknüpft sind. Das Wohnen zeigt sich nur zum Teil im Gebrauch und der Nutzung der architektonischen Elemente. Wohnen ist Praxis, ist Lebensführung, nämlich Umgang mit den eigenen Wohnzielen in Bezug auf die Mitwohnenden.

37Ich habe aus den vielen Gesprächen mit Wohnenden den Eindruck gewonnen, daß das Wohnen nur in einer Beschreibung verschiedener Tätigkeiten gefaßt werden kann, deren Einheit indes erst durch den Bezug auf eine bestimmte Lebenskonzeption vollzogen wird. Wohnen ist eine besondere Art von Praxis. Sie zeichnet sich dadurch aus, daß sie am Gelingen orientiert ist. Sie bearbeitet keinen Gegenstand, den wir anschließend aus der Hand geben könnten. Werk und Tätigkeit sind nicht zu trennen. Was ist aber das "Kriterium", auf das wir uns ganz selbstverständlich beziehen, wenn wir vom Gelingen sprechen? Dabei denke ich nicht an etwas, dem in der Realität tatsächlich etwas entspräche. Ich denke, wir sollten die Vorstellung aufgeben, es gäbe da draußen eine Realität, die es mit Worten abzubilden gelte und die durch wahre Theorien repräsentiert werden könnte. Nützlicher erscheint mir der Vorschlag, daß sich das „Gelingen" des Wohnens in einem konkreten Gefühl der Zufriedenheit und des Bleibenwollens ausdrückt. Unser Für-wahr-halten ist von der konkreten Nützlichkeit unserer Umwelt für unsere Zwecke nicht zu trennen. Denn dieses Gefühl ist eine Folge des Wohnens selbst. Man kann sich z.B. nicht einreden, daß das Wohnen nun gelungen sei. Etwa indem man sich klar zu machen versucht, daß alle rationalisierbaren Erwartungen an das Wohnen doch erfüllt worden sind. Bleibt nämlich immer noch ein ungutes Gefühl oder ein schlechter Eindruck zurück, dann ist in diesem Fall das Wohnen noch nicht an sein Ziel gekommen. Statt vom Gefühl der Zufriedenheit und vom Willen zum Bleiben könnte ich auch sagen, daß jemand davon überzeugt ist, sein Wohnen passe zu ihm. Offensichtlich kann das praktizierte Wohnen wie ein gut geschnittener Anzug "sitzen". Doch auch dieses Passen und Sitzen ist etwas sehr Kompliziertes - vor allem auch für den empirischen Sozialforscher. Denn es gibt keine eingespielte Übereinkunft, wie man Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen hat oder wie Sprecher ihre Überzeugungen zu rechtfertigen hätten. Gefühl, Wille, Überzeugung sind vorrational und deshalb nicht objektivierbar. Weder kann man als Wohnender in Sachen Gefühl, Wille und Überzeugung irren, noch als Wissenschaftler methodisch geprüfte Bedingungen angeben, die die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit von Überzeugungen der Wohnenden erhöhen. Wir sollten uns damit zufrieden geben, wenn uns eine bestimmte Sache gezeigt wird. Das heißt für den Sozialforscher: Es gibt keine verläßlichen oder sicheren Fragen, deren Beantwortung auf eine Zufriedenheit im Sinne einer Übereinstimmung von Gefühl und Handlung zweifelsohne hinweist. Vielmehr ist es eine erfahrene Sicherheit im Umgang mit den "Wohndingen", die uns bestätigt, daß es so richtig ist. Letztlich bleibt als Maß nur die Plausibilität der Rede oder anderer Gesten, die uns einsichtig machen können, daß das Wohnen gelungen (oder gescheitert) ist. Als Zuhörer können wir die Mitteilungen nur akzeptieren oder zurückweisen, indem wir sie mit unseren eigenen Erfahrungen konfrontieren. Dies werden wir um so mehr können, als uns die gegebenen Praxis-Beispiele, an denen uns etwas gezeigt wurde, plausibel und nachvollziehbar erscheinen.
Ich hoffe, am Ende deutlich gemacht zu haben, daß Beschreibungen nicht als eine laienhafte Wiedergabe von Realität aufgefaßt werden sollten, die wissenschaftlich verbessert werden kann, sondern daß die darin zum Ausdruck kommenden Überzeugungen usw. gewissermaßen vor Ort erprobte Handlungsregeln sind. Die gebrauchten sprachlichen Konzeptionen sind praktische "Be-Griffe" von erfolgreichen Handlungen. Und die Wohndinge sind schlicht das, wie sie beschrieben werden: Gegenstände gewöhnlicher Erfahrung und vertrauten Umgangs. Damit haben wir uns freilich der neopragmatistischen Position Richard Rortys (vgl. etwa Rorty 1994) genähert: Es gibt keinen Bruch zwischen der "Erkenntnis" eines Dings und seinem Gebrauch. Im Gebrauch nehmen wir das Ding in Griff und begreifen es so. Stets ist dabei zweierlei maßgebend: sich dem Ding anpassen und mit dem Ding einen Zweck verfolgen. Es ist sinnlos, den Zusammenhang von Zweck und Anpassung zu leugnen.

38Ich möchte meine Ausführungen beschließen mit einer kleinen Geschichte, die Wittgenstein einmal seinen Studenten erzählt hat: "Was sagt ein Kenner guter Anzüge, wenn er beim Schneider einen neuen Anzug anprobiert? 'So ist die Länge richtig - nein, da ist es zu kurz - hier ist es zu eng.' Worte des Beifalls spielen keine Rolle, obwohl er gutgelaunt aussehen wird, wenn ihm der Anzug paßt. Anstelle von 'Hier ist es zu kurz' könnte ich auch sagen 'Sehen Sie!', und anstelle von 'Richtig!' 'Lassen Sie es so!'. Ein guter Zuschneider sagt vielleicht garnichts, sondern macht nur eine Kreidemarkierung und ändert das Stück später. Wie zeige ich, daß mir der Anzug gefällt? Hauptsächlich dadurch, daß ich ihn oft trage, ihn gern zeige usw." (Wittgenstein 1968, S. 24).

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