Das Konkrete und die Architektur
14. Jg., Heft 1, Oktober 2009

 

___Thomas Hackenfort
& Stefan Hochstadt

Dortmund
  Anschluss gesucht.
Architektur und ihre Konkretisierung im systemtheoretischen Wort-Sinn

 

   

Die auf dem 12. Stuttgarter DGS-Kongress in der Sektion „Architekturwissenschaft“ aufgeworfene Frage nach dem „Konkreten und der Architektur“ lässt sich auf zweierlei Weisen thematisieren. Soweit man ihr diese Zweideutigkeit unterstellt, spricht sie sowohl die rund um die De Stijl-Bewegung auch für die Architektur programmatisch entworfene „konkrete Kunst“ als auch die wirklichkeitsstiftende Wirkung von Wissen unter dem Aspekt der Sinn- und Bedeutungszuweisung in gesellschaftlichen Interaktionsprozessen an. In beiden Fällen ist die Anwendung des Begriffs der Konkretion nicht zwingend, vielleicht sogar irreführend. Denn er oszilliert im philosophischen Spannungsfeld von Realismus/Anti-Realismus, sucht Distanz zur theoriegeladenen Abstraktion und vertritt zugleich die aus der sozialen Praxis abgeleitete Reduktion, gibt sich universell und formiert sich situativ – semantische Eindeutigkeit sieht anders aus, nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt, dass die konkrete Kunst unter Ablehnung alles Symbolhaft-Dekorativen zum Symbol ihrer selbst wurde. Selbstverständlich ist es wohlfeil, einem engagierten Absolutheitsanspruch das gesellschaftliche Scheitern nachzuweisen. Und deshalb sei auch auf eine beachtenswerte Gemeinsamkeit zwischen der architekturtheoretischen und der soziologisch-(sprach-)philosophischen Auffassung von lebensweltlicher Konkretion hingewiesen: Theo van Doesburg wie auch die Wissenssoziologie suchen nach einer widerspruchsfreien Differenzierbarkeit zwischen der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit und der auf den menschlichen Geist (!) zurückverfolgbaren eigentlichen (hier als „konkret“ verstandenen) Wahrheit oder Realität.[1]

Dem Verständnis vom „Konkreten“ als Form empirischer Realität soll hier zunächst nachgegangen werden. Die Theodor Fontane zugeschriebene Feststellung „Man sieht nur, was man weiß.“ markiert dabei auf griffige Weise einen Ausgangs- und Endpunkt – oder vielmehr die beiden Pole, wie noch zu sehen sein wird – eine Umschreibung, die zudem weniger Anlass zu dogmatischen Verzerrungen geben soll.

Dieser Beitrag ist zweigeteilt. Zunächst möchten wir darauf eingehen, wie kulturelle Konstruktionen und ihre wirklichkeitsstiftende Wirkung im Prozess von Erzeugung und Rezeption verstanden werden. Um zu zeigen, wie weitreichend ihre Wirkungen sein können, wird exemplifizierend der Qualitätsbegriff in der Architektur diskutiert. Der zweite Teil setzt sich mit methodischen Aspekten der Untersuchung dieser Konstruktionen auseinander. Ihnen ist aus unserer Sicht ein besonderes Gewicht beizumessen, denn obgleich sie zwar notwendig und weitgehend aus den allgemeinen Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens abzuleiten sind, verbleibt doch gerade in der Architekturtheorie (wenn auch nicht nur dort) bis dato ein Bereich, der sich auffällig unbestimmt zwischen der wahrnehmenden Beobachtung (psychologisch, nicht physiologisch) und der bewusstseinsabhängigen Wirklichkeitsformierung (soziologisch, nicht philosophisch) befindet.[2] Das mag einen Grund in der noch jungen Vergangenheit der Architekturtheorie haben, ist aber auch auf ihren multidisziplinären Charakter zurückzuführen und hat zur Folge, dass bei Forschungsfragen stets ein latentes Zuständigkeitsproblem der anwendbaren und anzuwendenden Disziplin mit zu klären ist.

Umgekehrt ist es durchaus so, dass Wissensgebiete wie die Philosophie, Psychologie, Soziologie, Ökonomie, bekanntlich ebenso die Semiotik ihre Modelle jeweils für sich auch an der Architektur erprobt haben – an Verbindungslinien mangelt es also nicht, an einer grundlegenden, disziplinenintegrierenden Systematik in der Architekturtheorie schon eher.


Doppelte Böden in der Architektur

Festzustellen ist zu Beginn, dass, was auch immer an oder in der Architektur als „konkret“ bezeichnet werden kann, einen Werdegang durchlaufen hat, der durch die ergebnisorientierte Tätigkeit des Bauens natürlich völlig unzureichend reflektiert wird. Vielmehr kann doch davon ausgegangen werden, dass etwas, was gebaut, also materiell manifest wird, im Verlauf der Erzeugung und der anschließenden Aneignung seinen Zustand verändert von einer beabsichtigten Wirklichkeitsformierung hin zu einer angebotenen Wirklichkeit – die gesellschaftlich angenommen, aber auch abgelehnt, mindestens aber umbestimmt werden kann, unter Umständen so weitgehend, dass sie ihrer ursprünglich beabsichtigten Bedeutung mitunter konträr gegenübersteht. In der Konsequenz bedeutet dies: Jeder Schritt im Verlauf des Werdegangs von einer (selbst schon nicht vorbedingungsfreien) Idee zum (vorläufigen) Zwischenstand eines architektonischen Artefakts ist dem Wechselspiel der gesellschaftlichen Kräfte ausgesetzt, die an seiner Bedeutung – ergebnisoffen – arbeiten. Diese These erweckt zwar den möglicherweise irritierenden Eindruck, mittels eines Griffs in die rhetorische Trickkiste die Konkretion mit der Bedeutungszuweisung gleichsetzen zu wollen. Tatsächlich aber wird „Bedeutung“ ebenso wie der „Sinn“ hier als Ereignis eines interpretatorischen Bewusstwerdungsprozesses (ggf. auch bewusstlosen Aneignungsprozesses) verstanden, in dem selbst „Bedeutungslosigkeit“ und „Sinnlosigkeit“ nur eingebettet innerhalb des Mediums Sinn (oder Bedeutung) vorstellbar sind.[3]

Auf diese Weise lässt sich etwa das Beispiel Brasilia auch als Konfrontation zweier konkretisierter Wirklichkeiten lesen: Dem architektonischen und städtebaulichen Wissen Oscar Niemeyers, seiner Idee, Vision oder auch Utopie, eine moderne Hauptstadt nach Gleichheitsprinzipien entwickeln zu wollen und bauen zu können, stand seine Unkenntnis der Lebensumstände der zukünftigen Einwohner gegenüber – die ihrerseits kaum mit den lebenskonzeptionellen und architektonischen Vorstellungen Niemeyers vertraut waren, geschweige denn ihren Alltag danach organisieren konnten. Einmal gebaut, ließ sich das Missverständnis nicht mehr aus der Welt schaffen, und so sagte Niemeyer später bekanntlich selbst, der Plan sei gescheitert – an der aus einer gesellschaftlichen Vereinnahmung resultierenden Realität Brasilias, in der mittlerweile gerade die soziale Trennung als deutlichstes Merkmal hervorsticht.

Nicht zuletzt an diesem Beispiel lässt sich also die weitgehend ungeklärte Frage behandeln, ob oder wie weit Architektur (allgemeiner: Raumkonstituierungen) gesellschaftliche Wirklichkeit determiniert – wenn es sich nicht gar genau umgekehrt verhält. Unter Geographen, zumal Humangeographen,[4] gilt diese unter dem Aspekt des „Raums“ diskutierte Frage als so weit geklärt, dass Verwunderung über die Ignoranz anderer Disziplinen, etwa der Soziologie, bezüglich des erreichten Forschungsstandes geäußert wird.[5] Insbesondere die „jüngere Geschichte der Geographie“ habe die Erkenntnis erbracht, dass ein absoluter (naturalistischer, empirischer) Raum im Zuge der Selbstbeschreibung von Gesellschaften und im Sinne der Systemtheorie lediglich als ein kommunikatives Mittel der Differenzbildung hier/dort behauptet wird mit dem Ziel, die (teilgesellschaftliche) Alltagswelt zu strukturieren[6] Mit anderen Worten: Der vorgefundene Raum, betrachtet man ihn nun als „natürlich“ oder bereits kulturell geformt, dient wie so vieles andere vor allem als Grundlage für die Bildung einer Ausgangsdifferenz bei der kommunikativ hergestellten Definition von innen/außen eines teilgesellschaftlichen Systems.

Der Einwand, Gesellschaften seien in der Soziologie schon immer raum-zeitlich, mindestens aber territorial theoretisiert worden,[7] verweist lediglich darauf, dass eine erkennbare Kongruenz der konzeptionellen Weiterentwicklung vom absolutem zum relativen Raum in den Wissensgebieten erst spät erreicht wurde. Denn es geht im Grundsatz in dieser Debatte nicht um eine metaphorische Inklusion des Raumbegriffs, sondern um die Auseinandersetzung mit der Dialektik von Naturräumen und Sozialräumen unter dem Gesichtspunkt ihrer kulturellen Bedingtheiten. Eine gewisse transdisziplinäre Tradition hat hingegen der Determinismusverdacht, der sich aus der Unterstellung der Abhängigkeit des Menschen von seinem geographischen Milieu ergibt (das aus einem Dualismus von „Raum“ und „Körper“ abzuleiten ist, der an Zeiten des mentalistischen Repräsentationalismus erinnert).[8] Ungeachtet des Ursprungs der Neukonzeptionierung des Raums scheint aber inzwischen Einigkeit darüber zu bestehen, dass der Raum durch sozialpraktisches Handeln konstituiert wird – sowohl die Existenz eines absoluten, von menschlichem Handeln getrennt denkbaren Raums wie auch die kausale Determinierung menschlichen Handelns durch bestimmte Raumgebilde wird damit abgelehnt.[9]

Auch an der architektonischen Wirklichkeit konstruiert somit immer ein größerer gesellschaftlicher Teil mit, im Sinne der Systemtheorie „gesellschaftliche (Teil-)Systeme“. Solche Systeme bestehen nach Luhmann nicht in „Zellen, Neuronen, Gehirnen oder Psychen“,[10] nicht aus „Menschen, Handlungen, Strukturen, Prozessen, Elementen, Beziehungen oder sonst welchen im traditionellen Denken verankerte(n) Kategorien“, sondern entstehen „neueren Entwicklungen“ der Systemtheorie zufolge durch ein- bzw. ausschließende Kommunikation.[11] Sie ist mithin die notwendige Grundlage, um von einem gesellschaftlichen Teilsystem sprechen zu können. Kommunikation selbst besteht Luhmann zufolge aus der Synthese der drei Selektionen von Information (und ihrem Wert), Mitteilung und Verstehen.[12] In der Begriffswelt Luhmanns sind Informationen „die Unterschiede, die einen Unterschied machen“[13] bzw. „aus Unterscheidungen erzeugte [...] Unterscheidungen“[14].
Kurz: Die Auswahl einer beobachteten und in dieser Beobachtung konstruierten Differenz aus Erwartung und Überraschung, Bekanntem und Neuem, Belanglosem und Interessantem, Unerheblichem und Mitteilungswürdigem erzeugt eine Information,[15] wobei das Ausmaß dieser Differenz ihren Wert festlegt. Zu trennen ist dies von den Gründen und Motiven ihrer Mitteilung und erst recht von ihrem möglichen (oder unmöglichen) Verstehen. Überall dort jedoch, wo diese drei Komponenten der Kommunikation kongruent sind, bilden sie ein (geschlossenes) gesellschaftliches System.[16]

Auf die Architektur übertragen[17] bedeutet dies, dass ein Entwurf (allgemein ein architektonisches Artefakt) die Herstellung einer außergewöhnlichen Selektion ist, die aber im Sinne der Kommunizierbarkeit zumindest innerhalb eines gesellschaftlichen Teilsystems Bedingungen der Kenntlichmachung (Beobachtbarkeit), der Vermittlung und der Verständlichkeit erfüllen muss. Der Überprüfung dieser Kriterien ist das Werk während seines in der gängigen Literatur so genannten Lebenszyklus[18] unterworfen, die Handlung des Erzeugers verbunden mit dem Wissen der ihn einschließenden und der ihn ausschließenden Gesellschaft. Es gibt mithin zwar einen identifizierbaren Produzenten (den in westlichen Gesellschaften eminent wichtigen Identitätsträger des Werkes), zugleich aber eine ganze Reihe nicht individuell identifizierbarer Co-Produzenten. Mit ihnen ist er verbunden über das Gedächtnis, über die Speicherung des Geläufigen[19] sowie die Aufbewahrung und Verfügbarmachung gesellschaftlichen Wissens in Form des kulturellen Gedächtnisses.[20]

Damit ist das Werk als Erzeugung einer Ausgangsdifferenz sowie die darauf basierende, aber intentional bereits unabhängige Mitteilbarkeit der mehr oder weniger werthaltigen Information kommunikations- und damit systemtheoretisch beschrieben. Das Artefakt benötigt zu seiner Verwirklichung also den (Wieder-)Anschluss an die Gesellschaft, und diese Anschlussfähigkeit ist auf jeder Zwischenstufe der Kommunikation neu – und beinahe wörtlich – in Frage gestellt. Ab dem initialen Schritt Erzeugung des Werkes ist die Erkennbarkeit wesentlich abhängig von seiner Mitteilung. Bis dahin handelt es sich um die Produktion eines zugehörigkeitslosen Zufalls, bei dem der Produzent im Produktionsverlauf zunächst immer mehr zu seinem eigenen Beobachter wird, was zur Konsequenz hat, dass er selbst sein Werk schließlich nur noch akzeptieren oder verwerfen kann.[21]

Hannes Böhringer spricht in diesem Zusammenhang ebenfalls vom Zufall. Er ist überzeugt, ihn bis an den Anfang des Universums zurückverfolgen zu können: Er sieht in dem Zufall ein infinitesimales Element, das in seiner akteurslosen, zweckfreien Existenz die weitere Entwicklung doch so massiv beeinflusst hat, dass so etwas wie die Welt, in der wir leben, entstehen konnte.[22] Der Flügelschlag des Schmetterlings im Amazonas ist zwar längst entmystifiziert, wenn es um seine kausale Verantwortung für das heutige Wetter geht.[23] Das „Fastnichts, das den Unterschied macht“, wie Böhringer es nennt, ist aber zumindest der Freispruch von der Verantwortung für die weiteren Folgen des eigenen Handelns.

Dieser produzierte Zufall – die 2008 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichneten Wissenschaftler Nambu, Kobayashi und Maskawa würden es vielleicht eine spontane Symmetriebrechung im System nennen[24] – ist für weitere Beobachter somit zugleich die Basis einer neuen Ausgangsdifferenz. Das Werk ist in der Welt – und befindet sich damit außerhalb der Grenzen des Bewusstseins des Produzenten – und wird damit selbst zum Zeichen der Unterscheidbarkeit von anderen, ansonsten vergleichbaren Werken. Auf dieser Basis ist weitere Kommunikation, also Erkennen und Verstehen, sprich: Interpretation möglich, und damit ist der wichtigste Schritt zur Wirklichkeitskonstituierung getan. Ein Beobachter nunmehr dritter Ordnung erhielte die Möglichkeit, die Erkenntnis des Beobachters zweiter Ordnung erneut zu interpretieren. Man mag sich diese Situation mit einem Menschen vorstellen, der sich im Verlauf der Gestaltung seines Vorgartens fragt, was wohl der Nachbar darüber denkt, der wiederum seinen Kegelbrüdern und -schwestern darüber berichtet usw.

Jeder Beobachter ist also zugleich Interpret und Interpretant, sprich selbst Folgezeichen einer Ausgangsdifferenz, Teil einer unendlichen Semiose[25] in der Selbstbeobachtung der Gesellschaft. Dabei wird immer ein Teil der vorgefundenen Wirklichkeit wiederholt und ein kleinerer, subjektiver, teilgesellschaftlicher Aspekt hinzugefügt. Das entspricht genau dem dynamischen Element des Prozesses: dass ein Beobachter dritter selbst für seine Nachfolger auch ein Beobachter erster Ordnung ist.[26]

Dieser in der Terminologie der Systemtheorie „unwahrscheinliche“ Prozess mit ungewissem – kontingentem – Verlauf stellt folglich das her, was schließlich konkret ist, ohne dadurch den Anspruch erheben zu können, gesamtgesellschaftlicher Konsens zu sein. Konkret kann damit nur sein, was sich als Information, die neu und bekannt zugleich ist, mitteilen konnte, verstanden wurde und sich somit als Wissen formiert hat. Es ist Ergebnis sozialpraktischen Handelns, von einer Differenzbildung ermöglichenden, außerbewussten Existenz abhängig, ohne dass diese Abhängigkeit determinierende Wirkung hätte. Wissen wird damit nur möglich, wenn eine auf Bekanntem fußende Information verstanden wird – was schließlich als Ausgangspunkt sich ausdifferenzierender Gesellschaftssysteme gelten kann.


Die Qualität des Qualitätsbegriffs

Eine anschlussselektive und somit wirklichkeitsherstellende Wirkung haben auch die über Architektur geführten Qualitätsdebatten, und dies gleich nach einer doppelten Logik. Denn auf der einen Seite wurde das zu qualifizierende Objekt bereits teilgesellschaftlich mitkonstruiert, auf der anderen Seite hat sich aber auch parallel ein ebenso teilgesellschaftlich geformtes Qualitätsurteil gebildet. Der Versuch der Verbindung beider Wirklichkeiten hat Folgen für die Auffassung vom Objekt wie auch für den Qualitätsbegriff, mit allen (kontingenten) Konsequenzen, von der Ablehnung bis zur Bestätigung, der Bewahrung bis zur Neuformierung.

Insofern ist die Qualifizierung von architektonischen Objekten die gesellschaftliche Selbstbeobachtung bei gleichzeitiger Qualifizierung der beobachtenden Gesellschaft. Auch hier ist „die Gesellschaft“ immer eine Gesamtheit gesellschaftlicher Teilsysteme – Architekten, die sich selbst nach ihren Überzeugungen weiter differenzieren ließen, organisieren, hierarchisieren und konstruieren ihre Präferenzsysteme anders als etwa Bauträger oder Immobilienmakler. Damit handelt es sich bei der Begriffszuschreibung der Qualität um die Qualifizierung der Werturteile anderer, häufig auch überholter, gesellschaftlicher Teilsysteme. Historischen (nicht selten historisierenden) Stadtkernen, die nach völlig anderen Lebensprinzipien ihrer Bewohner (wenn diese Kategorie denn überhaupt eine Rolle spielte) organisiert waren, wird so heute eine hohe Qualität zugesprochen – häufig in Verkennung der damaligen Lebens-, Arbeits- und Wohnbedingungen. Und nicht zuletzt der verklärte Blick auf Industrieruinen vermittelt heute den positiv aufgeladenen Eindruck von Orten, in denen einst ein aufregendes Arbeiterleben stattgefunden haben muss, das die Betroffenen so jedoch in den seltensten Fällen verspürt haben dürften. Verklärung darf somit durchaus als diskriminierende Erklärung verstanden werden, und das sowohl im sprachlichen Sinne von „trennen, unterscheiden“ wie auch im soziologischen Sinne der Folge bzw. Herstellung von Ungleichheit.

Die Definition von Qualität, die Anwendung des Qualitätsbegriffs auf gesellschaftliche Sachverhalte ist auf diese Weise untrennbar noch selbst von der defensivsten Auffassung von Definitionsmacht. Denn sie erstreckt sich über den gesamten kommunikativen Bereich von der Selektion einer differenzbildenden Ausgangssituation über die Behauptung eines Informationswertes, dem Zugang zu privilegierten Mitteilungskanälen bis hin zur Mitlieferung eines leicht konsumierbaren Verständnismodells. In Verbindung mit dem Funktionssystem der Massenmedien handelt es sich dabei um eine „doppelte Selektion“, die einerseits Bezug nimmt auf die ausgewählte Situation („den Gegenstand“), andererseits durch die Auswahl der Meinung einer prominenten Person, etwa eines Politikers, „Experten“, Künstlers oder sonst mit ausreichend Reputation und Bekanntheit versehenen Persönlichkeit, Meinungsführerschaft in der öffentlichen Meinung erschafft[27] oder mindestens einen großen Anteil an ihrer Herstellung hat.

Diesem Umstand kommt zu Gute, dass es eine gesellschaftlich etablierte, positivistische Vorstellung von Qualität gibt, auf deren Basis sie sich einem Etikett gleich a priori versprechen lässt. Die Subjektivität eines etwa im Label, auch mittels eines prominenten Namens transportierten Versprechens nebst der Möglichkeit, es nicht einhalten zu müssen, fällt deshalb kaum noch auf, weil die Bereitschaft, das Etikett mit dem Inhalt zu verwechseln, ausreichend hoch ist. Dabei sagt es mehr über den Einfluss derjenigen aus, die es anheften, als über das Objekt, das es trägt. Diese Sicht auf den Qualitätsbegriff macht ihn zu einem gesellschaftsstrukturellen und Gesellschaft strukturierenden Instrument, zu einem kommunikativ hergestellten, kulturellen Zeichen, das als solches im Diskurs sein Machtpotential entfalten kann.

Doch selbstverständlich gibt es auch die gegenteilige Auffassung, dass „Qualität“ emergentes Ergebnis individueller Rezeptions- und nicht der beschriebenen Definitionsprozesse ist. In seinem unlängst erschienenen Buch über die Qualität in der Architektur bemerkt Georg Franck, dass der Qualitätsbegriff, von dem er behauptet, er sei kein Teil der Architekturtheorie,[28] sich vor allem im Individuum mittels der Intelligenz der Sinne formiere. Dennoch erkennt er an, dass das Schöne als ein Qualitätsmaßstab nicht gegen das Hässliche, sondern gegen die Beliebigkeit zu positionieren sei, die sich ja stärker gegen Konventionen als gegen Kategorien richtet. Auch Peter Moeschl möchte die Dispositionen und die Präsenz des Leibes eines einzelnen Menschen erkenntnistheoretisch zurückgewinnen und bezeichnet sie als „Kategorien des individuellen ästhetischen Wertes.“ Doch er kommt ebenfalls nicht umhin, die das Individuum in seinen Werturteilen stabilisierende Funktion äußerer Ordnungssysteme, wie von Sozialstrukturen, anzuerkennen.[29] Das heißt, wir können gar nicht anders als unsere Urteile, ganz gleich, ob wir von der Schönheit, dem Hässlichen, Beliebigen oder Geordneten sprechen, an Urteilen anderer gesellschaftlicher Teilsysteme zu orientieren, gerne auch im Widerspruch. Und in genau diesem Prozess der Stabilisierung erhalten sie ihre teilgesellschaftliche Form der Wirklichkeitskonkretion.

Es wird erkennbar, dass ein Nachdenken über den Werdegang dessen, von dem am Ende behauptet wird, es sei konkret, vermeintlich unbekümmert eine ganze Reihe von Begriffen aus verschiedenen Bereichen streift. Die Notwendigkeit, das Maß an Arbitrarität innerhalb des Prozesses zu klären, ist auch der Semiotik nicht unbekannt. Die Bezeichnung der Zwischenergebnisse als kulturelle Konstruktionen beinhaltet Anklänge zum Formalismus. Die Vermutung des Einflusses gesellschaftlicher Strukturen erfordert die Thematisierung des Strukturalismus und der ihm nachfolgenden Theorien. Diese Fülle bereitet einiges Unbehagen, „das Konkrete“ in seiner Ausprägung methodisch korrekt objektivieren zu können. Womit wieder der Ausgangspunkt dieses Beitrags erreicht wäre und sich die wirkliche Herausforderung in der Architekturtheorie offenbart – die Entwicklung einer für sie grundlegenden Methodologie auf dem Pfad des Selbstverständnisses als Disziplin der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Architektur.


Architekturtheorie und die Methoden, den Pudding an die Wand zu nageln

Allein ein solcher Versuch verdankt seine Schwierigkeit nicht zuletzt einer (mindestens) seit Jahrzehnten immer wieder postulierten „Erweiterung des Architekturbegriffs“, die letztlich kaum etwas anderes ist als der Versuch der Scharfstellung der gesellschaftlichen Sicht auf eine sich unvermeidlich stets mitaktualisierende Bedeutung existierender wie neu entstehender Architektur. Insoweit ist die Architekturtheorie sicher auch als ein autoreflexives Medium zu verstehen, durch das sich die mit Architektur befasste Gesellschaft bei ihrer Auseinandersetzung mit der Architektur selbst beobachtet und auch zugleich in die Lage versetzt, Bedeutungszuweisungen anzupassen.

Die daraus resultierende Offenheit ist untrennbar verbunden mit dem Verständnis von Architektur als Produkt sozialer Praxis. Auch wenn damit nicht gleich einem Anthropozentrismus das Wort geredet werden soll, so wird doch klar, dass Architektur als Wissenschaft mit einer ebensolchen Offenheit ihre Schnittmengen mit den Human- und den Naturwissenschaften suchen muss. Einer ähnlich notwendigen Selbstverständnisdefinition stehen seit Beginn in den 1960er Jahren die Cultural Studies gegenüber, in denen Zweifeln an ihrer Wissenschaftlichkeit gerne in vergleichbarer Form mit dem Hinweis auf eine „entschiedene Offenheit“ und einem bewussten „experimentellen Vorgehen“ begegnet wird.[30] Das Forschungs- und Themenfeld bleibt dadurch nur vage abgegrenzt – ebenso aber auch das zu Grunde liegende methodische Konzept.

In ihrem 2005 in „Wolkenkuckucksheim“ veröffentlichten, kulturwissenschaftlichen Essay über das „Wissen der Architektur“ entwirft auch Susanne Hauser die These, dass Architektur dem Grunde nach ein interdisziplinäres Feld sei.[31] Sie mahnt dabei an, in der Architekturtheorie ein Bewusstsein über das Ineinanderfließen von Wissensformen zu entwickeln, nicht zuletzt angesichts der an sie gerichteten Forderung, sich ihres akademischen Status zu versichern. So unbestreitbar dies also ist, so deutlich macht die Forderung nach einem noch notwendigen „Bewusstwerdungsprozess“ auch, wie leicht sich die Architektur in eine elitär anmutende „Ästhetik-Ecke“ drängen lässt und wie sehr es im gleichen Zusammenhang derzeit noch an einem überzeugenden, systematischen Verfahren fehlt, allein den Gegenstand der Architekturtheorie zu erfassen, geschweige denn ihn zu beschreiben, zu erklären oder zu messen. Wie zu Beginn und wohl auch noch immer die Cultural Studies muss sich die Architekturtheorie derzeit also noch mit der Frage auseinandersetzen, wie die multi-, inter- oder transdisziplinäre Aufstellung methodisch begründet werden kann – und wie dies aus dem Gegenstandsbereich der Architektur selbst heraus möglich ist.

Auch das unteilbarste architektonische Element ist jedoch nicht Ding an sich, nicht Objekt ohne Subjekt – was auch als eine weitere Absage an den Sensualismus verstanden werden kann.[32] Ebenso sind die ungleich komplexeren Phänomene der Architektur grundsätzlich offen für die Vereinnahmung durch begriffliche Qualifizierungen und dimensionale Quantifizierungen, sprich: in ihnen ist kein subjektunabhängiger, bedeutungsbestimmender Kern zu vermuten. Dessen ungeachtet verlangt es die wissenschaftlich verfolgte Absicht, ein Phänomen architektonischer Wirklichkeit zu objektivieren, selbstverständlich trotzdem, Aussagen über die notwendigen und die hinreichenden Bedingungen für seine Beschreibung zu treffen, in methodisch möglichst angemessener Form. Aus der Phänomenologie stammt der dazu passend erscheinende und von Hermann Schmitz als „Abschälung“[33] bezeichnete Ansatz, variable (und als solche: gesellschaftlich formulierte) Bedeutungszuweisungen von den Objekten zu entfernen, um schließlich an das oder die Residuen (Objektreste) gelangen zu können. Husserl hat dazu den in vielerlei Hinsicht schwer nachzuvollziehenden Versuch unternommen, das Subjektive des Subjekts zu identifizieren, um durch die Befreiung hiervon einen reinen Kern des Objekts erkennen zu können.

Die weiter oben formulierte Annahme besagt indes, dass bestimmte Ausprägungen, Auffassungen, Erscheinungsformen von Architektur, kurz: architektonische Wirklichkeiten vor allem dadurch zu solchen werden, dass sie sich gesellschaftlich manifestieren. Folglich ist es fraglich, ob es durch Abschälung herauszuarbeitende architektonische Residuen überhaupt geben kann, die Annahme legt vielmehr nahe, dass es sie als objektivier- und isolierbare architektonische Gegenstände nicht gibt. Dem empirischen Begriff stünde zwar möglicherweise ein ebenso empirischer Gegenstand gegenüber, was jedoch nicht beantworten könnte, wie allein der Zusammenhang einer solchen Gegenüberstellung durch ein rein architektonisches (und damit eben nicht gesellschaftlich konstruiertes) Phänomen begründet wäre.

Ungeachtet der Aktualität dieses phänomenologischen Ansatzes der Reduktion ist es so, dass er das individuelle Bewusstsein in das Zentrum der Analyse rückt, das sich einer direkten Beobachtung jedoch entzieht und folglich als Instanz einer teilgesellschaftlichen Ausdifferenzierung, die auf Kommunikation beruht, nicht in Frage kommt – oder anders: „Von Subjektivität ist […] nicht zu Sozialität überzugehen“[34].
In der Systemtheorie ist das Subjektive der Gegenstandswahrnehmung auch nicht isoliert, sondern konzeptualisiert, mit ihr lässt sich Architektur als gesellschaftliches Funktionssystem definieren, das dem Prinzip nach durch die kommunikativ mit dem Gegenstand verbundenen Beteiligten abgrenzbar ist. Als solches unterscheidet sich die Architektur nicht von den Wirtschaftswissenschaften, den Rechts-, Literatur oder Religionswissenschaften. Auch wenn sie sich durchaus systematisch erfassen lässt, hat die Form der Beteiligung in der Architektur jedoch eine besondere Dynamik, sowohl im Hinblick auf die Unregelmäßigkeit als auch die Einzigartigkeit der Verknüpfungen separierbarer Teilsysteme (Hochschulen, Bauherren, Planer, Feuilletonisten, jeweils im Rahmen verschiedener architekturbezogener Aktivitäten). Hinzu kommt – auf gegenständlicher Ebene –, dass Architektur als erdachte, lediglich entworfene, gezeichnete oder literarisierte Raumkonstitutionen in ihrer zuweisenden Grenzziehung ebenfalls höchst dynamisch ist.

Die besondere Schwierigkeit in der Auffassung von Architektur besteht daher offenbar darin, dass sie stets zugleich als Zustand und als Prozess erscheint. Form, Materialität, Physikalität können dabei als Zustand, Funktion, Nutzung, Rezeption, Bedeutung, Wirkung als Prozess aufgefasst werden, was als Aufzählung natürlich weder letztgültig noch vollständig ist. Wenn man mit dieser Dichotomie das von Heisenberg beschriebene Prinzip der Unschärferelation metaphorisch assoziieren möchte, dann ließe sich daraus folgern, dass Form und Funktion oder Materialität und Wirkung architektonischer Phänomene oder Phänomenbereiche nicht zugleich, sondern nur in ihrer Bedingtheit separat bestimmbar sind. Diese Form der Ausschließlichkeit bedeutet nicht, dass es einen Gegenstand ohne Begriff geben kann, sondern nur, dass ein Begriff wandelbar ist. Es verbleibt kein Objektrest, sondern ein Bestimmungspotential – einschließlich (wie ausschließlich) seiner teilgesellschaftlichen Anerkennung. Dadurch mündet die begriffliche Vereinnahmung (auch Aneignung und Ablehnung) von Gegenständen immer in einer dynamischen Objektivierung, die den Gegenstand zu einem „objektivierten Objekt“ macht, das nur in der jeweilig akzeptierten Begriffs-/Gegenstandskombination ohne weitere Erklärungen Sinn, Bedeutung und folglich Begriff transportieren kann. Das geschieht, jeweils teilgesellschaftlich, aus kommunikativen, semiotischen und diskursiven Bestandteilen, die zusammen dem teilgesellschaftlichen Subjekt, wenn man so will, eine (geeignete) Lesebrille im Umgang mit lebensweltlichen Objekten aufsetzen.


Forschendes Selbstverständnis

Die sich mit Architektur beschäftigende Gesellschaft wird, so lässt sich festhalten, nicht trotz, sondern wegen der Dynamik ihres Funktionssystems sowohl selbst als auch durch ihre vielgestaltige Praxis zum Gegenstand des forschenden Interesses. Bezugsrahmen sind dabei die architektonischen Betätigungen, Interaktionen und Hervorbringungen, die Ausdrucks- und Abstraktionsformen sowie das damit verbundene und darin eingebettete symbolische Handeln. Doch welche Rolle, Position und Perspektive können die Forschenden in einem so skizzierten Forschungsfeld einnehmen? Welchen Einfluss hat ihre unvermeidliche Teilnahme am Funktionssystem der Architektur auf die produzierten Erkenntnisse?

Architekturtheorie und ihr Verständnis als autoreflexives Medium weist auch auf die Notwendigkeit der Selbstthematisierung der Forscher hin. Der forschende Blick kann sich immer nur auf einen Teilbereich des Feldes richten, doch wo die Anatomie dieses Feldes nicht ausreichend bekannt ist, kommt der Klärung der eingenommenen Perspektive, etwa durch Offenlegung der vertretenen Architekturauffassung, eine umso größere Bedeutung zu. Die zumeist in Textform kondensierten Forschungsergebnisse reflektieren zudem nicht nur die Beziehung des Forschers zum bestmöglich objektivierten und dabei in einem gegenüberstehenden Subjekt gründenden Gegenstand, sondern lassen ihn auch als Autor in Beziehung zu den Rezipienten treten. Die Herausforderung wie auch die Erwartung besteht notwendig darin, dass die Forschungsergebnisse auf dem gelungenen methodischen Versuch einer doppelten Objektivierung des architektonischen Artefakts sowie der materialisierten wissenschaftlichen Erkenntnis über das Artefakt basieren.

Den Sinn eines solchen theoretischen wie analytischen Umgangs mit der Architektur sieht Gerd de Bruyn nicht zuletzt darin, ihren Status als „Universalwissenschaft“ zu retablieren.[35] Ein für ihn zentraler Aspekt ist das Verständnis, die Untersuchung und letztlich die Objektivierung von Architektur als Speicher kumulierten Wissens,[36] denn mit ihr sei es über Jahrhunderte gelungen, vieles zu konservieren, was Menschen in den verschiedenen Disziplinen (den Künsten, den Naturwissenschaften etc.) hervorzubringen im Stande waren.

Bedeutsam bei der Theoretisierung von Architektur als manifestierte Form von Wissensrepräsentationen ist allerdings, einen elementaren Aspekt der Wissenschaft nicht zu vernachlässigen: So wird dort zwar grundsätzlich auch der Versuch unternommen, ein „besseres“ Verständnis von der Welt und ihren Sachverhalten zu bekommen. Damit verbunden ist aber auch die Absicht der Abstraktion vom analysierten Sachverhalt mit dem Ziel, das neu gewonnene Verständnis auf andere, vergleichbare Sachverhalte übertragen, ihnen mindestens aber gegenüberstellen zu können. Es ist Teil der Suche nach Erkenntnis, Entwicklungen zu antizipieren, Annahmen zu formulieren und damit Wissen als prognostisches Mittel zum Umgang mit gleichzeitigen, soweit möglich auch erwartbaren Entwicklungen einzusetzen. Und folglich handelt es sich um eine Kernaufgabe der an Aktualität interessierten Wissenschaften, vorhandenes Wissen immer wieder auf die dazu nötige Eignung zu überprüfen und damit stets auch in Frage zu stellen.

Dies geschieht auch in den Naturwissenschaften, in denen Elemente, Phänomene oder Erscheinungen, die gemeinhin als natürlich vorhanden, vom Menschen unbeeinflusst außerhalb seiner Beobachtung und seines Handelns liegend gelten, keine Festlegungen enthalten, wie ihre Existenz oder ihr Verhalten zu beschreiben ist. Damit bleiben sie, was sie sind, nicht Ding an sich, sondern bestmöglich beschriebenes Element eines hochkomplexen Wirklichkeitsausschnitts, der zwar durch kumuliertes Wissen geformt wurde, nicht zuletzt dadurch aber stets unhintergehbar für den menschlichen Beobachter bleibt. Wir wissen was wir wissen als Menschen, unser Wissen ist mithin immer kulturell bedingt – mit allen teilgesellschaftlichen Unterschieden, die eine solche Bedingung mit sich bringt:

„Danach wäre die Natur das, was jeweils immer schon verstanden ist; ihr Verstehen ein solches, das uns, wenn wir etwas [anderes] verstehen, immer schon voraus- oder im Rücken liegt. Wenn wir hingegen die Natur selbst thematisieren, etwas über sie sagen wollten, hätten wir es mit konkurrierenden Kulturprodukten zu tun.“[37]

Vor diesem Naturverständnis, so kann man argumentieren, spricht auch nicht viel für eine wie auch immer formulierte Trennung der Architekturauffassung in einen human- und einen naturwissenschaftlichen Themenbereich. Architektur ist insgesamt kumuliertes Wissen, kulturell konstruiert und insoweit ein an sich selbst anschließender Prozess. Neben der damit verbundenen Frage nach dem „Wie“ ist die Klärung der Frage nach dem konkreten „Was“ architektonischer Gegenständlichkeit mindestens gleichrangig, beides zusammen schließlich der Kern wissenschaftlichen Interesses.






Anmerkungen:

[1] Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/M., 21. Aufl., 2007, S. 21; Hensen, Dirk: Weniger ist mehr. Zur Idee der Abstraktion in der modernen Architektur, Berlin 2005, S. 147; Ciré, Annette; Ochs, Haila (Hg.): Die Zeitschrift als Manifest. Aufsätze zu architektonischen Strömungen im 20. Jahrhundert, Basel [u. a.] 1991, S. 77 ff.

[2] Diese Unbestimmtheit ist auch den Naturwissenschaften, insbesondere der Quantenphysik, nicht unbekannt. Dort wird zugespitzt die Frage und die Möglichkeit eines Nachweises diskutiert, ob oder wie weit beispielsweise der Mond lediglich durch die Beobachtung im menschlichen Bewusstsein existiert. Gleichzeitig neigen auch Physiker offenbar dazu, verbreitet für „wahr“ gehaltene Aussagen leichtgläubig in ihre Denkmodelle zu übernehmen. Vgl. dazu Gribbin, John: Schrödingers Kätzchen und die Suche nach der Wirklichkeit, Frankfurt/M., 8. Aufl. 2007, S. 216, 223.

[3] Bohn, Cornelia; Willems, Herbert (Hg.): Sinngeneratoren. Fremd- und Selbstthematisierung in soziologisch-historischer Perspektive, Konstanz 2001, S. 9.

[4] Döring, Jörg: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen,in:Döring, Jörg; Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 35.

[5] Redepenning, Marc: Eine selbst erzeugte Überraschung: Zur Renaissance von Raum als Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft, in: Döring, Jörg; Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 318.

[6] Ebd., S. 330.

[7] Lippuner, Roland: Raumbilder der Gesellschaft. Zur Räumlichkeit des Sozialen in der Systemtheorie, in: Döring, Jörg; Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 341.

[8] Piltz, Eric: „Trägheit des Raums“. Fernand Braudel und die Spatial Stories der Geschichtswissenschaft, in: Döring, Jörg; Thielmann, Tristan (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 91; siehe auch: Bertram, Georg W. et al.: In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holismus, Frankfurt/M. 2008, S. 13.

[9] Vgl. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2001; Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/M. 2006.

[10] Luhmann, Niklas: Aufsätze und Reden, Stuttgart 2001, S. 281.

[11] Ebd., S. 280.

[12] Ebd., S. 97.

[13] Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Wiesbaden, 3. Aufl., 2004, S. 100.

[14] Ebd., S. 101.

[15] Vgl. ebd., S. 53.

[16] Luhmann, Niklas: Aufsätze und Reden, Stuttgart 2001, S. 97.

[17] Neben vielen anderen Gesellschaftsbereichen („Funktionssystemen“) hält Luhmann auch den Bereich der Kunst für geeignet, im Sinne der Systemtheorie beschrieben zu werden.

[18] „Lebenszyklus“ meint die Gesamtnutzungsdauer beispielsweise eines Gebäudes von seiner Erstellung über seine Nutzung (und die verschiedenen denkbaren Nutzungsphasen) bis zu seinem Abriss (gerne auch verschämt Rückbau genannt). Über die Widersinnigkeit des Begriffs „Lebenszyklus“ soll hier nicht weiter polemisiert werden.

[19] Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Wiesbaden, 3. Aufl., 2004, S. 75 ff.

[20] Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München, 5. Aufl., 2005, S. 29 ff.

[21] Luhmann, Niklas; Bunsen, Frederick D.; Baecker, Dirk: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 11.

[22] Böhringer, Hannes: Auf der Suche nach Einfachheit. Eine Poetik, Berlin 2000, S. 30 ff.

[23] Der auf diese Weise berühmt gewordene und von Edward Lorenz zu Beginn der 1960er Jahre metaphorisch als „Schmetterlings-Effekt“ beschriebene Wirkungszusammenhang sollte gerade die durch kleinste Einflüsse verursachte Unvorhersagbarkeit der weiteren Entwicklung komplexer Systeme darstellen: http://web.mit.edu/newsoffice/2008/obit-lorenz-0416.html (Stand 13.07.2009).

[24] Die spontane Brechung der Materie-Antimaterie-Symmetrie im Weltall gilt als ein theoretisches Erklärungsmodell für den Ursprung der Galaxien: http://nobelprize.org/nobel_prizes/physics/laureates/2008/phyadv08.pdf (Stand 13.07.2009).

[25] Die Debatte darüber, ob die Semiose nicht doch etwa dort endet, wo sich eine Art „gesellschaftlicher Grundüberzeugung“ gebildet hat, lässt sich – so spannend sie ist – hier nicht vertiefen.

[26] Hackenfort, Thomas; Hochstadt, Stefan: Architektur, die ich meine – Wie architektonische Wirklichkeit durch Interpretation konstruiert wird, in: Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok, 12. Jg., H. 2, Dezember 2008; www.cloud-cuckoo.net/journal1996-2013/inhalt/de/heft/ausgaben/207/Hackenfort_Hochstadt/hackenfort_hochstadt.php (Stand 13.07.2009).

[27] Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Wiesbaden, 3. Aufl., 2004, S. 70.

[28] Franck, Georg; Franck, Dorothea: Architektonische Qualität, München 2008, S. 12.

[29] Moeschl, Peter: Die Einschreibung des Körpers. Leibliches Deuten in der Entgegnung von Sprache und Körper,in: Waniek, Eva (Hg.): Bedeutung? Für eine transdisziplinäre Semiotik, Wien 2000, S. 168.

[30] Müller-Funk, Wolfgang: Kulturtheorie,Tübingen [u. a.] 2006, S. 270.

[31] Hauser, Susanne: Das Wissen der Architektur. Ein Essay aus kulturwissenschaftlicher Perspektiv, in: Wolkenkuckucksheim – Cloud-Cuckoo-Land – Vozdushnyi zamok, 9. Jg., Heft 2, März 2005; www.tu-cottbus.de/openarchive/wolke/deu/Themen/042/Hauser/hauser.htm (Stand 13.07.2009).

[32] Genauer wäre es, in diesem Zusammenhang vom „materialistischen Sensualismus“ zu sprechen. Dessen wesentliche Eigenschaft ist es, dass er „davon ausgeht, die sinnliche Wahrnehmung durch die bloßen Sinnesdaten begründen zu können“; Siehe dazu: Friedrich, Thomas; Gleiter, Jörg H.: Einführung, in: Friedrich, Thomas; Gleiter, Jörg H. (Hg.): Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Berlin [u. a.] 2007, S. 25: sowie Eckert, Andrea: Die Imagination der Sensualisten. Aufklärung im Spannungsfeld von Literatur und Philosophie; http://deposit.d-nb.de/cgi-bin/dokserv?idn=977084779&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=977084779.pdf (Stand 15.06.2009) S. 154 ff.

[33] Schmitz, Hermann: Die phänomenologische Methode der Untersuchung, in: Friedrich, Thomas; Gleiter, Jörg H. (Hg.): Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Berlin [u. a.] 2007, S. 254.

[34] Schmid, Hans-Bernhard: Subjekt, System, Diskurs, Dordrecht 2000, S. 12.

[35] de Bruyn, Gerd: Die enzyklopädische Architektur, Bielefeld 2008, S. 12.

[36] Ebd., S. 17.

[37] Borsche, Tilman: Kulturprodukt Natur. Eine begriffsgeschichtliche Skizze, in: Stegmeier, Werner (Hg.): Kultur der Zeichen, Frankfurt/M. 2000, S. 153, [Klammerangaben durch den Autor].

 


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