ARCHITEKTUR DENKEN
40 Jahre kritische Architekturtheorie – 40 Jahre Igma

13. Jg., Heft 2, März 2009

 

___Jörg H. Gleiter
Berlin / Bozen
  „Denkmal einer Krisis“

 

   

Zur Genealogie der Architekturtheorie

Die neuen technischen Reproduktionsverfahren, die Maschinenproduktion, die neuen Materialien, zusammen mit den „Massenbewegungen unserer Tage“, führen zu einer „gewaltigen Erschütterung des Tradierten – einer Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Erneuerung der Menschheit ist.“[1] Dies schrieb Walter Benjamin 1936 in seinem Werk Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Nach Benjamin hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Produktionsverfahren die „geschichtliche Zeugenschaft der Sache ins Wanken“[2] gebracht. In der Ablösung von der Tradition, in der „Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe“[3] sah Benjamin das treibende Element und Grundmotiv der Moderne.

Benjamin entfaltete seine Theorie der Moderne anhand des damals neuesten Massenmediums, des Films. Aber einem ähnlichen Begründungszusammenhang, darüber besteht wohl wenig Zweifel, entsprang auch das Bedürfnis nach Theoriebildung in dem wohl ältesten Massenmedium, der Architektur. Tatsächlich führte zu Beginn der Moderne die Wende von den handwerklichen Herstellungsverfahren zur Maschinenproduktion zu neuen konstruktiven Verfahren, zu den Verfahren der Serialisierung, Standardisierung und Typisierung. Zusammen mit den damit einhergehenden, gesellschaftlichen Veränderungen führte dies partiell zur Lösung der Architektur aus ihrer Traditionsgebundenheit. So kann nicht nur für die Künste, sondern auch für die Architektur der Moderne vom Schwierigwerden der Tradition, von der Erschütterung des tradierten Selbstverständnisses der Disziplin gesprochen werden.

Wo für die Bewältigung der Bauaufgaben nicht mehr unreflektiert auf tradierte Vorbilder zurückgegriffen werden konnte, entstand ein Bedürfnis nach Theoriebildung. Architekturtheorie ist, so lässt sich feststellen, Ausdruck einer Krise. Sie ist frei nach Friedrich Nietzsche „Denkmal einer Krisis“[4], also Zeichen eines „Geistes, der von sich selbst wieder Besitz“[5] ergreifen muss. Immer wieder aufs Neue muss die Moderne die Frage nach der Angemessenheit ihrer Mittel stellen, muss ihre Mittel und Methoden aufs Neue dem sich verändernden kulturellen Kontext entsprechend wählen. Architekturtheorie, das ist kritische Reflexion des Gemachtwerdens oder Gemachtseins der Architektur und ihrer kulturellen Funktion im dynamisch sich ändernden kulturellen Kräftefeld. Wo die Architektur als sinnliche Erfahrung, als konstruktive Realität und als soziales Bezugssystem der dynamischen Kraft des kulturellen Kräftefelds der Moderne unterworfen ist, zeigt sich die Architekturtheorie als zutiefst modernes Anliegen.

Schaut man zurück, so ist jedoch die Architekturtheorie der frühen Moderne von der Reflexion über die Architektur in vormodernen, feudalen Gesellschaften zu unterscheiden. Denn in vormodernen Gesellschaften verändert sich das kulturelle Kräftefeld nur über lange Zeiträume hinweg, so dass in einem Prozess kontinuierlicher Anpassung, ohne größere Brüche, das Wissen der Architektur von Generation zu Generation weitergegeben werden kann. Dies führt im Laufe der Zeit wohl zu unterschiedlichen Artikulationsformen, zu unterschiedlichen Stilformen, aber die gesellschaftliche Stellung der Architektur wird dabei nicht in Frage gestellt. Daher soll diese Art der Reflexion über die Architektur in vormodernen Gesellschaften als Nachdenken über die Architektur bezeichnet werden.

Schaut man wiederum vom Maschinenzeitalter nach vorn, so haben wir es seit den 1960er Jahren mit einer Krise der architektonischen Moderne selbst zu tun, die Anlass für eine grundsätzlich andere Ausrichtung der theoretischen Reflexion gibt. Es geht nicht mehr in erster Linie um das Schwierigwerden der Tradition. Die theoretische Reflexion hat jetzt die immanenten Widersprüche und Antagonismen der Architektur der Moderne selbst zum Inhalt. Es rückt das widersprüchliche Ganze pluraler Gesellschaften ins Zentrum der theoretischen Fragestellungen. Architekturtheorie ist so die kritische Reflexion der Architektur im widersprüchlichen, kulturellen Ganzen. Sie kann daher als Kritische Theorie der Architektur bezeichnet werden. Sie setzt sich von der Theoriebildung zu Beginn der Moderne ab, die, wo sie wesentlich den Traditionsverlust der Disziplin zum Thema hat, Traditionelle Theorie der Architektur genannt werden soll.

Genealogisch oder historiographisch lässt sich also die Reflexion über die Architektur auf ihr Gemachtwerden und Gemachtsein und im Hinblick auf ihre kulturelle Funktion im kulturellen Ganzen in drei Perioden einteilen. Es ist das Nachdenken über Architektur in vormodernen Gesellschaften von der traditionellen Theorie in der frühen Moderne zu unterscheiden. Diese wiederum wird in den 1960er Jahren mit der Krise der Moderne durch die Kritische Theorie der Architektur abgelöst. Dieses gilt es nun im Detail auszuführen, ergänzt um einige Erläuterungen zum Status der Architekturtheorie heute, im Zeitalter der digitalen Medientechnologien.


Nachdenken über Architektur

Sollte bisher der Anschein erweckt worden sein, die theoretische Reflexion über die Architektur stünde ausschließlich im Kontext der Entwicklung der technischen Rationalität, so trügt dies. Gerade das Nachdenken über die Architektur in vormodernen Gesellschaften war nicht in erster Linie geprägt durch den Wandel in Wissenschaft und Technologie. Exemplarisch lässt sich dieses an dem im 17. Jahrhundert ausgetragenen französischen Akademiestreit zeigen, der so genannten Querelle des Anciens et des Modernes. Der Akademiestreit stellte die Frage nach Fortschritt und Entwicklung in den Künsten und der Architektur. In seinem Zentrum stand aber weniger eine technologische als eine ontologische Fragestellung. Es war die Frage nach der Unumstößlichkeit der Antike als Vorbild für die zeitgenössische Kunst und Architektur. Hatten die Alten, d. h. das antike Griechenland und Rom, in der Architektur das höchste, nie wieder erreichbare Ideal verwirklicht? Oder können die Künste und die Architektur nach Maß der jeweils herrschenden Zeit fortgeschrieben werden? Die Frage war, ob es einen Fortschritt und eine Perfektionierung in den Künsten gibt, die dem Fortschrittsgedanken in den Wissenschaften und der Technik entspricht.

Zwei der Kontrahenten waren François Blondel (1617-1686) und Claude Perrault (1613-1688). Blondel vertrat die Meinung, dass trotz gewisser Mängel die Entwicklung der Künste und der Architektur in der Antike ihren Höhepunkt erreicht habe. Ihre Idealität erhalte die Architektur durch Nachahmung der vollendeten Proportionen des menschlichen Körpers und der Harmonielehre der Musik. Claude Perrault zog dieses dagegen in Zweifel. Blondels anthropomorphe Begründung der Architektur basiere mitnichten auf Naturgesetzen, sie sei „établie par un consentement des architectes“[6], sie gründe also allein auf einer Übereinkunft unter den Architekten, sie sei eine „Verabredungsgröße“[7]. Perrault tat die Ergebenheit der Alten vor der Antike als eine Form religiöser Verehrung ab, sie habe ihren Ursprung in dem Respekt, den man heiligen Dingen schulde.

Perrault kritisierte also die dogmatische Fixierung der Alten auf eine anthropomorphe Architekturästhetik. Als Vertreter der Neuen ging es ihm dagegen um eine geschichtsphilosophische Begründung der Architektur. Er glaubte nachweisen zu können, dass „auch die drei bildenden Künste, die Beredsamkeit, die Dichtung und die Wissenschaft, sich parallel und nach je eigenem Maß entwickeln und so dem Schema des allgemeinen Fortschritts entsprechen“[8]. Sie könnten aber nicht am selben Maßstab der Perfektion wie die Wissenschaften gemessen werden. Die Feststellung Perraults, dass jede Epoche ihre eigenen Sitten und ihren eigenen Geschmack, also ihren eigenen Begriff des Schönen habe, mündete dann in die eher moderate Forderung nach mehr Varianz, nach der „Erlaubnis“, „ein paar Proportionen“ ändern zu dürfen. Perrault sprach von den principes arbitraires, von der individuellen Entscheidungsbefugnis des Architekten entsprechend seinem Genie und dem Zeitgeschmack.

Für die Frage nach dem Status der Theorie ist hier von Interesse, dass Perrault durch die principes arbitraires für den Architekten einen eigenständigen Rahmen für die Reflexion über die Architektur forderte. Damit betrieb Perrault die Dynamisierung der Architektur. Gleichwohl wurde damit die gesellschaftliche Funktion der Architektur nicht in Frage gestellt. Auch wenn der Akademiestreit um die richtige Form der architektonischen Repräsentation Ludwigs des XIV. ausgelöst wurde, stand die Architektur in ihrer traditionellen Aufgabe der Repräsentation nicht zur Debatte. Die Reflexion blieb also auf die Variation und Rekombination überlieferter Schemata beschränkt. Sie kann also als Nachdenken über die Architektur bezeichnet werden. Dieses Nachdenken über die Architektur in vormodernen, nur langsam sich ändernden Gesellschaften ist im Weiteren von der Architekturtheorie in modernen, sich schnell ändernden Gesellschaften abzusetzen.

Übrigens, die Wende hin zu einer modernen Konzeption des Fortschritts zeigt sich auch schon im Akademiestreit.  Es war Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657-1757), der die Fixierung der Architektur auf die Antike wie auch den humanistischen Fortschrittspathos überwand, indem er die bemerkenswert moderne Erkenntnis formulierte, dass mit jedem Anwachsen der Erkenntnis immer auch eine ständige Unvernunft am Werke sei. Hier artikulierte sich erstmals die Idee einer in sich widersprüchlichen, ambivalenten Konstitution der Moderne. Die Künste standen damit nicht mehr in Opposition zu den fortschrittlichen Wissenschaften. Es standen dagegen die fortschrittlichen Künste und Wissenschaften gegen die nicht-fortschrittlichen Künste und Wissenschaften. Damit war ein wichtiger Schritt gemacht für die Lösung von der Idee exemplarischer Vergangenheiten und der Unumstößlichkeit der Antike als Vorbild.


Traditionelle Theorie der Architektur

Die Wende zur Architekturtheorie fand im Laufe des 19. Jahrhunderts statt. Erst die aufkommende Maschinenproduktion, die neuen Materialien und die damit einhergehenden, gesellschaftlichen Umwälzungen brachten den stabilen Bezug zur Tradition ins Wanken. Der Übergang von der handwerklichen zur maschinellen Produktion führte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu dem, was Benjamin mit „Erschütterung der Tradition“ bezeichnete. Mit der beschleunigten Entwicklungsdynamik, die alles ständig umbaut, neu ordnet und umdeutet, konnte die Moderne ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr ohne weiteres Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen. Es entstand das Bedürfnis nach theoretischer Reflexion. Wie Benjamin jedoch richtig feststellte, eröffnete die „gewaltige Erschütterung des Tradierten“ gleichsam die Chance auf „Erneuerung der Menschheit“. Architekturtheorie kann demnach als Ausdruck der Krise wie andererseits auch Chance auf ihre Überwindung gesehen werden. Sie steht also im Spannungsfeld einer Dialektik von Krise und Emanzipation. Im Zentrum steht die Rekonzeptualisierung der Architektur im schwierig gewordenen Ganzen zwischen dem Verlust der geschichtlichen Zeugenschaft und der Hoffnung auf kulturelle Erneuerung.

Gerade dieses hatte Walter Gropius im Blick, als er 1926 seine Grundsätze der Bauhausproduktion formulierte. Dort stellte er in der ihm eigenen sprachlichen Klarheit fest: „Ein Ding ist bestimmt durch sein Wesen“[9]. Um keinen Irrtum aufkommen zu lassen, fügte er hinzu, dass es die „gegenwartsgebundenen Gesetze“, das heißt die „entschlossene Berücksichtigung aller modernen Herstellungsmethoden, Konstruktionen und Materialien“[10] sei, die die Dinge in Beziehung zur Tradition setzen könnten. „Nur durch dauernde Berührung mit der fortschreitenden Technik, mit der Erfindung neuer Materialien und neuer Konstruktionen gewinnt das gestaltende Individuum die Fähigkeit, die Gegenstände in lebendige Beziehung zur Überlieferung zu bringen.“[11] Gropius formulierte hier die Erkenntnis, dass es keine einfache Rückkehr zur Tradition und zum Wesen der Architektur geben könne, dass dies im Zeitalter der Maschine alternativlos nur über die Aufnahme des technisch und gesellschaftlich Avanciertesten in den Gehalt der Architektur möglich sei.

Die Forderung nach dem Neuesten, nach Aufnahme der neuesten Technologie und der aktuellsten gesellschaftlichen Ideen ist somit keineswegs dem Wunsch nach einem bloßen up-to-date-Sein, der Mode oder dem ökonomischen  Verwertungsdruck geschuldet, sondern der kulturellen Funktion der Architektur. Das Neue ist demnach ein geschichtlich Unausweichliches, es ist nicht der Subjektivität des Architekten oder einer oberflächlichen Avantgarde-Attitüde geschuldet. Man kann daher feststellen, dass die Architektur traditionell nicht ihrer Form und äußeren Erscheinung nach ist, sondern allein in ihrer kulturellen Funktionsweise. Oder anders gesagt, traditionell ist die Architektur zentrale Vermittlungsinstanz der jeweiligen kulturellen Logik in die Sinnenhaftigkeit unserer Welterfahrung – wie immer sich das artikulieren mag, als Avantgardestrategie oder phänomenologischer Fundamentalismus, als Konstruktivismus oder Intuitionismus, in formalästhetischer oder materialästhetischer Hinsicht. In diesem Sinne traditionell sind zum Beispiel Disney Hall von Frank Gehry, Toyo Itos Opernhaus in Taiwan oder das Einfamilienhaus von Jürgen Mayer H. in Kornwestheim. Traditionell sind diese Gebäude, wo sie ihre kulturelle Funktion, also die Aufgabe der Vermittlung der heutigen kulturellen, d. h. digitalen Logik in die Sinnenhaftigkeit der Alltagserfahrung ernst nehmen. Trotz ihrer avantgardistischen Erscheinung sind die genannten Bauwerke in diesem Sinne traditioneller als manche Heimatstilarchitektur oder neoklassizistische Villa in Potsdam.


Kritische Theorie der Architektur

Während die klassische Moderne mit Mies van der Rohe, Josef Frank, Le Corbusier, Bruno Taut, Walter Gropius und anderen noch unter dem Einfluss des emanzipativen Impulses der Moderne stand, geriet gerade dieser in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend in die Kritik. Unübersehbar traten die negativen Seiten des ungestümen Fortschrittspathos der Moderne ins Bewusstsein. Auf städtebaulicher Ebene galt die Kritik der orthodox verhärteten Nachkriegsmoderne, der autogerechten Stadt, der Kahlschlagsanierung und der Unwirtlichkeit der Städte. Auf architektonischer Ebene wurden dagegen der Verlust der Sprachlichkeit, der Verlust ihrer sinnlich-affektiven Unmittelbarkeit wie auch der Verlust des Ortsbezuges immer sichtbarer. Manfredo Tafuri sprach von der „Krise der Utopie“[12] und legte die Grundlagen für das, was er „die Arbeit der ideologischen Kritik“[13] nannte. Unter dem Begriff der „Dialectic of the Avant-Garde“ setzte seine Kritik an der Instrumentalisierung der modernen Avantgarde durch den kapitalistischen Verwertungsdruck an.

Im Stadium der Krise der Moderne bedarf es nun nicht nur der Reflexion des Traditionsverlustes, sondern es bedarf einer doppelten kritischen Reflexion der Krise selbst. So stellte Hermann Schnädelbach fest, dass Kulturkritik noch in den „zwanziger und dreißiger Jahren ein breiter Strom besorgten Räsonnements über die Mechanisierung und Technisierung, Vermassung und Entindividualisierung, Kommerzialisierung und Bürokratisierung des Lebens in der industriellen Zivilisation“[14] war. Wie er weiter feststellte, diente dabei eine Vorstellung »wahrer« Kultur als Kontrastfolie“[15]. Das hatte in der traditionellen Architekturtheorie seine Entsprechung in der Suche nach dem Wesen der Architektur. Modern im eigentlichen Sinne sei Kultur jedoch erst, wenn sie die Ambivalenzen der kulturellen Praktiken, das heißt die Unauflöslichkeit von Kultur und Kulturkritik erkennt; wenn sie das Bewusstsein gewonnen hat, „dass die Kriterien und Maßstäbe, denen sie folgt, im kulturkritischen Diskurs selbst gerechtfertigt werden müssen.“ Wo die Architektur die Möglichkeiten des Versagens ihres humanistisch-aufklärerischen Programmes mit einzukalkulieren hatte, wandelte sich die Traditionelle Architekturtheorie zur Kritischen Theorie der Architektur.

Die Kritische Theorie der Architektur ist die ihre Grundlagen kritisch reflektierende Moderne. In der Verschränkung der rational-kognitiven mit der sensuell-sinnlichen Erfahrung hat sie ihre Bedingungen und Wirkungen als gesellschaftliche Praxis mit zu reflektieren. Das unterscheidet sie von der Traditionellen Theorie, denn sie muss ihre eigene Praxis radikal auf ihre Defizite befragen. Ihr geht es also nicht darum, den „Traditionsverlust in der Architekturpraxis des 20. Jahrhunderts“ zu beklagen. Kritische Theorie heißt, dass die in der frühen Moderne vernachlässigten oder unterdrückten Themen wieder in die Architekturdebatten zurückkehren, aber nicht als bloßes Wiederanknüpfen an die Tradition, sondern in verwissenschaftlichter Form.

Gerade dies geschah in den 1960er Jahren. Es kehrten die Ornamentfrage, die Frage nach der Sprachlichkeit und Narrativität der Architektur zurück, aber auf wissenschaftlicher Basis, auf einerseits strukturalistischer wie andererseits zeichentheoretischer Grundlage. Semiotik und Strukturalismus wurden zu Basiswissenschaften der Kritischen Theorie der Architektur, im „ideologischen Kritizismus“ Tafuris, im italienischen Rationalismus, in der Postmoderne und im Dekonstruktivismus. Fast gleichzeitig wurde die Frage nach der räumlich-materiellen und einfühlend-sensitiven Erfahrung der Architektur auf kulturwissenschaftlicher und phänomenologischer Grundlage im kritischen Regionalismus und Neo-Konstruktivismus der 1980er und 1990er Jahre gestellt. Damit fand ein Prozess der wissenschaftlichen Grundlegung der Architektur seine Fortsetzung, wie er in den 1920er Jahren in Walter Gropius’ Grundsätzen der Bauhausproduktion (1926) und Hannes Meyers Manifest Bauen (1928) seine Anfänge hatte. Heute sind es dagegen die Medien- und Bildtheorie, die die Grundlagenwissenschaften für die Reformulierung der Architektur im digitalen Zeitalter darstellen.


Architekturtheorie heute

Während Benjamin die Moderne noch in der Dialektik von Krise und Emanzipation sah, kann heute im Übergang vom Maschinenzeitalter zum digitalen Zeitalter nicht mehr ernsthaft von einer Krisenerscheinung im eigentlichen Sinne gesprochen werden. Längst schon ist die ambivalente Konstitution der Moderne als Grundphänomen ins Bewusstsein eingegangen. Waren es zu Beginn des 20. Jahrhunderts Serialisierung, Standardisierung und Typisierung, so sind es heute die algorithmischen, nicht-standardisierten Verfahren des Computers, zum Beispiel der scripting software, die nach Reformulierung der bisher gültigen, kulturellen Funktion der Architektur verlangt. Es zeichnet sich hier ein Paradigmenwechsel ab. Mit Mario Carpo müssen wir vom „Ende des albertianischen Paradigmas“[16] sprechen, denn die neuen digitalen Medientechnologien lassen sich nicht mehr, wie die Maschine im mechanischen Zeitalter, auf die Baustelle beschränken. Sie greifen unmittelbar in die Entwurfsverfahren ein. Nach Alberti beruhte die Stärke der Renaissance auf der Trennung des intellektuellen Akts des Designers von der materiellen Ausführung durch den Handwerker. Gerade diese Trennung, die über 500 Jahre Gültigkeit hatte, kommt heute ins Wanken. Über die algorithmische Prozessualität der digitalen Verfahren findet eine enge Verschränkung oder „interaktive Verknüpfung“ der technologischen mit der anthropologischen Seite des Entwurfes statt.

Was ist also Architekturtheorie? Architekturtheorie, so lässt sich jetzt festhalten, ist das Medium der kritischen Reflexion des Gemachtwerdens und des Gemachtseins der Architektur und die kritische Reflexion ihrer kulturellen Funktion im dynamisch sich ändernden kulturellen Kräftefeld. Damit ist das komplexe Aufgabenfeld der Architekturtheorie bezeichnet, das – der jeweiligen kulturellen Logik entsprechend – seine je spezifische Auslegung erhält, als Nachdenken über die Architektur, als Traditionelle Theorie oder als Kritische Theorie der Architektur. Wo alles im Wandel und im permanenten Umbau begriffen ist, ist die Architekturtheorie diejenige Instanz der Reflexion, die die Architektur immer wieder auf ihre eigentliche Funktion zurückführt: Nämlich als jene zentrale kulturelle Praxis, durch die die kulturelle Logik einer Zeit ihre Vermittlung in die Sinnenhaftigkeit unserer Alltagserfahrung erfährt, durch die das abstrakte Denken seine Übertragung in die lebensweltliche Realität erfährt und erst sinnlich erfahrbar wird, womit jedoch die kulturelle Logik nicht auf die technische Rationalität reduzierbar ist. In sie fließen auch die ökonomische und ökologische sowie die politische und philosophische Logik einer Zeit ein. So waren es in der Renaissance die Logik des Neoplatonismus und im Barock die Logik der Gegenreformation, die in Architektur und Städtebau ihre Übersetzung in die lebensweltliche Erfahrbarkeit erfuhren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es dagegen die Logik der Maschine und der Maschinenproduktion, die in der Architektur der Moderne ihre sinnliche Vermittlung in den Lebensalltag fanden. Das meinte Mies van der Rohe, als er 1926 feststellte: „Der Charakter unserer Zeit soll in unseren Bauten spürbar sein […] mit den Mitteln unserer Zeit“[17].

Im Gegensatz zum Transzendentalismus und Idealismus vormoderner Gesellschaften zeichnet sich also die traditionelle wie auch die kritische Architekturtheorie durch einen radikalen Willen zu einer Kultur der Gegenwart aus, was eine neuerliche Differenzierung des Begriffes der Architekturtheorie nötig macht. Mit Blick auf das praktische Gemachtwerden und Gemachtsein der Architektur stehen im Zentrum der Architekturtheorie die Wirklichkeitsbedingungen der Architektur. Es geht hierbei um die Frage der praktischen Umsetzung und Materialisierung architektonischer Ideen im jeweils herrschenden kulturellen Kräftefeld. Wo also die Reflexion auf das Gemachtwerden und Gemachtsein zielt, muss man die Architekturtheorie als eine praktische Ästhetik verstehen. Andererseits ist Architekturtheorie auch die Reflexion über die kulturelle Funktion der Architektur, also weniger über ihre Wirklichkeits- als vielmehr über ihre Möglichkeitspotenziale im großen, ständig im Umbau sich befindenden, kulturellen Ganzen. Geht es also um die kulturellen Bedingungen und die kulturelle Funktion von Architektur, so findet hier die Erweiterung der Architekturtheorie hin zur Philosophie der Architektur statt. Architekturtheorie als praktische Ästhetik ist somit von der Philosophie der Architektur zu unterscheiden: Zielt die eine auf das praktische Gemachtwerden und Gemachtsein der Architektur, so die andere auf die allgemeine kulturelle Funktion der Architektur im Kontext des größeren kulturellen Ganzen.


 


 

Anmerkungen:  

[1] Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 1.2, Frankfurt/M. 1997, S. 477 f.

[2] Ebd., S. 477.

[3] Ebd., S. 478.

[4] Friedrich Nietzsche, Ecce homo, in: Ders., Kritische Studienausgabe, Bd. 6, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Hamburg 1999, S. 322.

[5] Ebd., S. 322.

[6] Hanno Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheorie, München 1995, S. 150.

[7] Ebd., S. 151.

[8] Willem van Reijen, Post-scriptum. Anciens – Modernes – Postmodern, in: Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne, hrsg. v. Dietmar Kamper u. Willem van Reijen, Frankfurt/M. 1987, S. 11.

[9] Walter Gropius, Grundsätze der Bauhausproduktion [1926], in: Ulrich Conrads (Hg.), Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Braunschweig u. Wiesbaden 1981, S. 90.

[10] Ebd., S. 90.

[11] Ebd., S. 90.

[12] Manfredo Tafuri, Architecture and Utopia. Design and Capitalist Development, Cambridge Mass. 1976,  S. 125.

[13] Ebd.,  S. X.

[14] Herbert Schnädelbach, Plädoyer für eine kritische Kulturphilosophie, in: Kulturphilosophie, hrsg. v. Ralf Konersmann, Leipzig 1996, S. 307.

[15] Ebd., S. 307.

[16] Vgl. dazu Mario Carpo, Revolutionen. Neue Technologien auf der Suche nach einem Autor, in: Zona #3/2009, hrsg. v. Jörg H. Gleiter.

[17] Mies van der Rohe, Manuskript vom 2. August 1926, in: Fritz Neumeyer, Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort, Berlin 1986, S. 299.


 


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