|
|
Zur
Genealogie der Architekturtheorie
Die neuen technischen Reproduktionsverfahren, die Maschinenproduktion,
die neuen Materialien, zusammen mit den „Massenbewegungen unserer Tage“,
führen zu einer „gewaltigen Erschütterung des Tradierten – einer Erschütterung
der Tradition, die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Erneuerung
der Menschheit ist.“[1]
Dies schrieb Walter Benjamin 1936 in seinem Werk Das Kunstwerk im Zeitalter
seiner technischen Reproduzierbarkeit. Nach Benjamin hatten zu Beginn
des 20. Jahrhunderts die Produktionsverfahren die „geschichtliche Zeugenschaft
der Sache ins Wanken“[2]
gebracht. In der Ablösung von der Tradition, in der „Liquidierung des
Traditionswertes am Kulturerbe“[3]
sah Benjamin das treibende Element und Grundmotiv der Moderne.
Benjamin entfaltete seine Theorie der Moderne anhand des damals neuesten
Massenmediums, des Films. Aber einem ähnlichen Begründungszusammenhang,
darüber besteht wohl wenig Zweifel, entsprang auch das Bedürfnis nach
Theoriebildung in dem wohl ältesten Massenmedium, der Architektur. Tatsächlich
führte zu Beginn der Moderne die Wende von den handwerklichen Herstellungsverfahren
zur Maschinenproduktion zu neuen konstruktiven Verfahren, zu den Verfahren
der Serialisierung, Standardisierung und Typisierung. Zusammen mit den
damit einhergehenden, gesellschaftlichen Veränderungen führte dies partiell
zur Lösung der Architektur aus ihrer Traditionsgebundenheit. So kann nicht
nur für die Künste, sondern auch für die Architektur der Moderne vom Schwierigwerden
der Tradition, von der Erschütterung des tradierten Selbstverständnisses
der Disziplin gesprochen werden.
Wo für die Bewältigung der Bauaufgaben nicht mehr unreflektiert auf tradierte
Vorbilder zurückgegriffen werden konnte, entstand ein Bedürfnis nach Theoriebildung.
Architekturtheorie ist, so lässt sich feststellen, Ausdruck einer Krise.
Sie ist frei nach Friedrich Nietzsche „Denkmal einer Krisis“[4],
also Zeichen eines „Geistes, der von sich selbst wieder Besitz“[5]
ergreifen muss. Immer wieder aufs Neue muss die Moderne die Frage nach
der Angemessenheit ihrer Mittel stellen, muss ihre Mittel und Methoden
aufs Neue dem sich verändernden kulturellen Kontext entsprechend wählen.
Architekturtheorie, das ist kritische Reflexion des Gemachtwerdens oder
Gemachtseins der Architektur und ihrer kulturellen Funktion im dynamisch
sich ändernden kulturellen Kräftefeld. Wo die Architektur als sinnliche
Erfahrung, als konstruktive Realität und als soziales Bezugssystem der
dynamischen Kraft des kulturellen Kräftefelds der Moderne unterworfen
ist, zeigt sich die Architekturtheorie als zutiefst modernes Anliegen.
Schaut man zurück, so ist jedoch die Architekturtheorie der frühen Moderne
von der Reflexion über die Architektur in vormodernen, feudalen Gesellschaften
zu unterscheiden. Denn in vormodernen Gesellschaften verändert sich das
kulturelle Kräftefeld nur über lange Zeiträume hinweg, so dass in einem
Prozess kontinuierlicher Anpassung, ohne größere Brüche, das Wissen der
Architektur von Generation zu Generation weitergegeben werden kann. Dies
führt im Laufe der Zeit wohl zu unterschiedlichen Artikulationsformen,
zu unterschiedlichen Stilformen, aber die gesellschaftliche Stellung der
Architektur wird dabei nicht in Frage gestellt. Daher soll diese Art der
Reflexion über die Architektur in vormodernen Gesellschaften als Nachdenken
über die Architektur bezeichnet werden.
Schaut man wiederum vom Maschinenzeitalter nach vorn, so haben wir
es seit den 1960er Jahren mit einer Krise der architektonischen Moderne
selbst zu tun, die Anlass für eine grundsätzlich andere Ausrichtung der
theoretischen Reflexion gibt. Es geht nicht mehr in erster Linie um das
Schwierigwerden der Tradition. Die theoretische Reflexion hat jetzt die
immanenten Widersprüche und Antagonismen der Architektur der Moderne selbst
zum Inhalt. Es rückt das widersprüchliche Ganze pluraler Gesellschaften
ins Zentrum der theoretischen Fragestellungen. Architekturtheorie ist
so die kritische Reflexion der Architektur im widersprüchlichen, kulturellen
Ganzen. Sie kann daher als Kritische Theorie der Architektur bezeichnet
werden. Sie setzt sich von der Theoriebildung zu Beginn der Moderne ab,
die, wo sie wesentlich den Traditionsverlust der Disziplin zum Thema hat,
Traditionelle Theorie der Architektur genannt werden soll.
Genealogisch oder historiographisch lässt sich also die Reflexion
über die Architektur auf ihr Gemachtwerden und Gemachtsein und im Hinblick
auf ihre kulturelle Funktion im kulturellen Ganzen in drei Perioden einteilen.
Es ist das Nachdenken über Architektur in vormodernen Gesellschaften
von der traditionellen Theorie in der frühen Moderne zu unterscheiden.
Diese wiederum wird in den 1960er Jahren mit der Krise der Moderne durch
die Kritische Theorie der Architektur abgelöst. Dieses gilt es
nun im Detail auszuführen, ergänzt um einige Erläuterungen zum Status
der Architekturtheorie heute, im Zeitalter der digitalen Medientechnologien.
Nachdenken über Architektur
Sollte bisher der Anschein erweckt worden sein, die theoretische Reflexion
über die Architektur stünde ausschließlich im Kontext der Entwicklung
der technischen Rationalität, so trügt dies. Gerade das Nachdenken
über die Architektur in vormodernen Gesellschaften war nicht in erster
Linie geprägt durch den Wandel in Wissenschaft und Technologie. Exemplarisch
lässt sich dieses an dem im 17. Jahrhundert ausgetragenen französischen
Akademiestreit zeigen, der so genannten Querelle des Anciens et des
Modernes. Der Akademiestreit stellte die Frage nach Fortschritt und
Entwicklung in den Künsten und der Architektur. In seinem Zentrum stand
aber weniger eine technologische als eine ontologische Fragestellung.
Es war die Frage nach der Unumstößlichkeit der Antike als Vorbild für
die zeitgenössische Kunst und Architektur. Hatten die Alten, d. h. das
antike Griechenland und Rom, in der Architektur das höchste, nie wieder
erreichbare Ideal verwirklicht? Oder können die Künste und die Architektur
nach Maß der jeweils herrschenden Zeit fortgeschrieben werden? Die Frage
war, ob es einen Fortschritt und eine Perfektionierung in den Künsten
gibt, die dem Fortschrittsgedanken in den Wissenschaften und der Technik
entspricht.
Zwei der Kontrahenten waren François Blondel (1617-1686) und Claude Perrault
(1613-1688). Blondel vertrat die Meinung, dass trotz gewisser Mängel die
Entwicklung der Künste und der Architektur in der Antike ihren Höhepunkt
erreicht habe. Ihre Idealität erhalte die Architektur durch Nachahmung
der vollendeten Proportionen des menschlichen Körpers und der Harmonielehre
der Musik. Claude Perrault zog dieses dagegen in Zweifel. Blondels anthropomorphe
Begründung der Architektur basiere mitnichten auf Naturgesetzen, sie sei
„établie par un consentement des architectes“[6],
sie gründe also allein auf einer Übereinkunft unter den Architekten, sie
sei eine „Verabredungsgröße“[7].
Perrault tat die Ergebenheit der Alten vor der Antike als eine Form religiöser
Verehrung ab, sie habe ihren Ursprung in dem Respekt, den man heiligen
Dingen schulde.
Perrault kritisierte also die dogmatische Fixierung der Alten auf eine
anthropomorphe Architekturästhetik. Als Vertreter der Neuen ging es ihm
dagegen um eine geschichtsphilosophische Begründung der Architektur. Er
glaubte nachweisen zu können, dass „auch die drei bildenden Künste, die
Beredsamkeit, die Dichtung und die Wissenschaft, sich parallel und nach
je eigenem Maß entwickeln und so dem Schema des allgemeinen Fortschritts
entsprechen“[8].
Sie könnten aber nicht am selben Maßstab der Perfektion wie die Wissenschaften
gemessen werden. Die Feststellung Perraults, dass jede Epoche ihre eigenen
Sitten und ihren eigenen Geschmack, also ihren eigenen Begriff des Schönen
habe, mündete dann in die eher moderate Forderung nach mehr Varianz, nach
der „Erlaubnis“, „ein paar Proportionen“ ändern zu dürfen. Perrault sprach
von den principes arbitraires, von der individuellen Entscheidungsbefugnis
des Architekten entsprechend seinem Genie und dem Zeitgeschmack.
Für die Frage nach dem Status der Theorie ist hier von Interesse, dass
Perrault durch die principes arbitraires für den Architekten einen
eigenständigen Rahmen für die Reflexion über die Architektur forderte.
Damit betrieb Perrault die Dynamisierung der Architektur. Gleichwohl wurde
damit die gesellschaftliche Funktion der Architektur nicht in Frage gestellt.
Auch wenn der Akademiestreit um die richtige Form der architektonischen
Repräsentation Ludwigs des XIV. ausgelöst wurde, stand die Architektur
in ihrer traditionellen Aufgabe der Repräsentation nicht zur Debatte.
Die Reflexion blieb also auf die Variation und Rekombination überlieferter
Schemata beschränkt. Sie kann also als Nachdenken über die Architektur
bezeichnet werden. Dieses Nachdenken über die Architektur in vormodernen,
nur langsam sich ändernden Gesellschaften ist im Weiteren von der Architekturtheorie
in modernen, sich schnell ändernden Gesellschaften abzusetzen.
Übrigens, die Wende hin zu einer modernen Konzeption des Fortschritts
zeigt sich auch schon im Akademiestreit. Es war Bernard le Bouvier
de Fontenelle (1657-1757), der die Fixierung der Architektur auf die Antike
wie auch den humanistischen Fortschrittspathos überwand, indem er die
bemerkenswert moderne Erkenntnis formulierte, dass mit jedem Anwachsen
der Erkenntnis immer auch eine ständige Unvernunft am Werke sei. Hier
artikulierte sich erstmals die Idee einer in sich widersprüchlichen, ambivalenten
Konstitution der Moderne. Die Künste standen damit nicht mehr in Opposition
zu den fortschrittlichen Wissenschaften. Es standen dagegen die fortschrittlichen
Künste und Wissenschaften gegen die nicht-fortschrittlichen Künste
und Wissenschaften. Damit war ein wichtiger Schritt gemacht für
die Lösung von der Idee exemplarischer Vergangenheiten und der Unumstößlichkeit
der Antike als Vorbild.
Traditionelle Theorie der Architektur
Die Wende zur Architekturtheorie fand im Laufe des 19. Jahrhunderts statt.
Erst die aufkommende Maschinenproduktion, die neuen Materialien und die
damit einhergehenden, gesellschaftlichen Umwälzungen brachten den stabilen
Bezug zur Tradition ins Wanken. Der Übergang von der handwerklichen zur
maschinellen Produktion führte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu dem,
was Benjamin mit „Erschütterung der Tradition“ bezeichnete. Mit der beschleunigten
Entwicklungsdynamik, die alles ständig umbaut, neu ordnet und umdeutet,
konnte die Moderne ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr ohne weiteres
Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen. Es entstand das Bedürfnis nach
theoretischer Reflexion. Wie Benjamin jedoch richtig feststellte, eröffnete
die „gewaltige Erschütterung des Tradierten“ gleichsam die Chance auf
„Erneuerung der Menschheit“. Architekturtheorie kann demnach als Ausdruck
der Krise wie andererseits auch Chance auf ihre Überwindung gesehen werden.
Sie steht also im Spannungsfeld einer Dialektik von Krise und Emanzipation.
Im Zentrum steht die Rekonzeptualisierung der Architektur im schwierig
gewordenen Ganzen zwischen dem Verlust der geschichtlichen Zeugenschaft
und der Hoffnung auf kulturelle Erneuerung.
Gerade dieses hatte Walter Gropius im Blick, als er 1926 seine Grundsätze
der Bauhausproduktion formulierte. Dort stellte er in der ihm eigenen
sprachlichen Klarheit fest: „Ein Ding ist bestimmt durch sein Wesen“[9].
Um keinen Irrtum aufkommen zu lassen, fügte er hinzu, dass es die „gegenwartsgebundenen
Gesetze“, das heißt die „entschlossene Berücksichtigung aller modernen
Herstellungsmethoden, Konstruktionen und Materialien“[10]
sei, die die Dinge in Beziehung zur Tradition setzen könnten. „Nur durch
dauernde Berührung mit der fortschreitenden Technik, mit der Erfindung
neuer Materialien und neuer Konstruktionen gewinnt das gestaltende Individuum
die Fähigkeit, die Gegenstände in lebendige Beziehung zur Überlieferung
zu bringen.“[11]
Gropius formulierte hier die Erkenntnis, dass es keine einfache Rückkehr
zur Tradition und zum Wesen der Architektur geben könne, dass dies im
Zeitalter der Maschine alternativlos nur über die Aufnahme des technisch
und gesellschaftlich Avanciertesten in den Gehalt der Architektur möglich
sei.
Die Forderung nach dem Neuesten, nach Aufnahme der neuesten Technologie
und der aktuellsten gesellschaftlichen Ideen ist somit keineswegs dem
Wunsch nach einem bloßen up-to-date-Sein, der Mode oder dem ökonomischen
Verwertungsdruck geschuldet, sondern der kulturellen Funktion der Architektur.
Das Neue ist demnach ein geschichtlich Unausweichliches, es ist nicht
der Subjektivität des Architekten oder einer oberflächlichen Avantgarde-Attitüde
geschuldet. Man kann daher feststellen, dass die Architektur traditionell
nicht ihrer Form und äußeren Erscheinung nach ist, sondern allein in ihrer
kulturellen Funktionsweise. Oder anders gesagt, traditionell ist die Architektur
zentrale Vermittlungsinstanz der jeweiligen kulturellen Logik in die Sinnenhaftigkeit
unserer Welterfahrung – wie immer sich das artikulieren mag, als Avantgardestrategie
oder phänomenologischer Fundamentalismus, als Konstruktivismus oder Intuitionismus,
in formalästhetischer oder materialästhetischer Hinsicht. In diesem Sinne
traditionell sind zum Beispiel Disney Hall von Frank Gehry, Toyo Itos
Opernhaus in Taiwan oder das Einfamilienhaus von Jürgen Mayer H. in Kornwestheim.
Traditionell sind diese Gebäude, wo sie ihre kulturelle Funktion, also
die Aufgabe der Vermittlung der heutigen kulturellen, d. h. digitalen
Logik in die Sinnenhaftigkeit der Alltagserfahrung ernst nehmen. Trotz
ihrer avantgardistischen Erscheinung sind die genannten Bauwerke in diesem
Sinne traditioneller als manche Heimatstilarchitektur oder neoklassizistische
Villa in Potsdam.
Kritische Theorie der Architektur
Während die klassische Moderne mit Mies van der Rohe, Josef Frank,
Le Corbusier, Bruno Taut, Walter Gropius und anderen noch unter dem Einfluss
des emanzipativen Impulses der Moderne stand, geriet gerade dieser in
den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend in die Kritik. Unübersehbar
traten die negativen Seiten des ungestümen Fortschrittspathos der Moderne
ins Bewusstsein. Auf städtebaulicher Ebene galt die Kritik der orthodox
verhärteten Nachkriegsmoderne, der autogerechten Stadt, der Kahlschlagsanierung
und der Unwirtlichkeit der Städte. Auf architektonischer Ebene wurden
dagegen der Verlust der Sprachlichkeit, der Verlust ihrer sinnlich-affektiven
Unmittelbarkeit wie auch der Verlust des Ortsbezuges immer sichtbarer.
Manfredo Tafuri sprach von der „Krise der Utopie“[12]
und legte die Grundlagen für das, was er „die Arbeit der ideologischen
Kritik“[13]
nannte. Unter dem Begriff der „Dialectic of the Avant-Garde“ setzte seine
Kritik an der Instrumentalisierung der modernen Avantgarde durch den kapitalistischen
Verwertungsdruck an.
Im Stadium der Krise der Moderne bedarf es nun nicht nur der Reflexion
des Traditionsverlustes, sondern es bedarf einer doppelten kritischen
Reflexion der Krise selbst. So stellte Hermann Schnädelbach fest, dass
Kulturkritik noch in den „zwanziger und dreißiger Jahren ein breiter Strom
besorgten Räsonnements über die Mechanisierung und Technisierung, Vermassung
und Entindividualisierung, Kommerzialisierung und Bürokratisierung des
Lebens in der industriellen Zivilisation“[14]
war. Wie er weiter feststellte, diente dabei eine Vorstellung »wahrer«
Kultur als Kontrastfolie“[15].
Das hatte in der traditionellen Architekturtheorie seine Entsprechung
in der Suche nach dem Wesen der Architektur. Modern im eigentlichen
Sinne sei Kultur jedoch erst, wenn sie die Ambivalenzen der kulturellen
Praktiken, das heißt die Unauflöslichkeit von Kultur und Kulturkritik
erkennt; wenn sie das Bewusstsein gewonnen hat, „dass die Kriterien und
Maßstäbe, denen sie folgt, im kulturkritischen Diskurs selbst gerechtfertigt
werden müssen.“ Wo die Architektur die Möglichkeiten des Versagens ihres
humanistisch-aufklärerischen Programmes mit einzukalkulieren hatte, wandelte
sich die Traditionelle Architekturtheorie zur Kritischen Theorie
der Architektur.
Die Kritische Theorie der Architektur ist die ihre Grundlagen kritisch
reflektierende Moderne. In der Verschränkung der rational-kognitiven mit
der sensuell-sinnlichen Erfahrung hat sie ihre Bedingungen und
Wirkungen als gesellschaftliche Praxis mit zu reflektieren. Das unterscheidet
sie von der Traditionellen Theorie, denn sie muss ihre eigene Praxis
radikal auf ihre Defizite befragen. Ihr geht es also nicht darum, den
„Traditionsverlust in der Architekturpraxis des 20. Jahrhunderts“ zu beklagen.
Kritische Theorie heißt, dass die in der frühen Moderne vernachlässigten
oder unterdrückten Themen wieder in die Architekturdebatten zurückkehren,
aber nicht als bloßes Wiederanknüpfen an die Tradition, sondern in verwissenschaftlichter
Form.
Gerade dies geschah in den 1960er Jahren. Es kehrten die Ornamentfrage,
die Frage nach der Sprachlichkeit und Narrativität der Architektur zurück,
aber auf wissenschaftlicher Basis, auf einerseits strukturalistischer
wie andererseits zeichentheoretischer Grundlage. Semiotik und Strukturalismus
wurden zu Basiswissenschaften der Kritischen Theorie der Architektur,
im „ideologischen Kritizismus“ Tafuris, im italienischen Rationalismus,
in der Postmoderne und im Dekonstruktivismus. Fast gleichzeitig wurde
die Frage nach der räumlich-materiellen und einfühlend-sensitiven Erfahrung
der Architektur auf kulturwissenschaftlicher und phänomenologischer Grundlage
im kritischen Regionalismus und Neo-Konstruktivismus der 1980er und 1990er
Jahre gestellt. Damit fand ein Prozess der wissenschaftlichen Grundlegung
der Architektur seine Fortsetzung, wie er in den 1920er Jahren in Walter
Gropius’ Grundsätzen der Bauhausproduktion (1926) und Hannes Meyers
Manifest Bauen (1928) seine Anfänge hatte. Heute sind es dagegen
die Medien- und Bildtheorie, die die Grundlagenwissenschaften für die
Reformulierung der Architektur im digitalen Zeitalter darstellen.
Architekturtheorie heute
Während Benjamin die Moderne noch in der Dialektik von Krise und Emanzipation
sah, kann heute im Übergang vom Maschinenzeitalter zum digitalen Zeitalter
nicht mehr ernsthaft von einer Krisenerscheinung im eigentlichen Sinne
gesprochen werden. Längst schon ist die ambivalente Konstitution der Moderne
als Grundphänomen ins Bewusstsein eingegangen. Waren es zu Beginn des
20. Jahrhunderts Serialisierung, Standardisierung und Typisierung, so
sind es heute die algorithmischen, nicht-standardisierten Verfahren des
Computers, zum Beispiel der scripting software, die nach Reformulierung
der bisher gültigen, kulturellen Funktion der Architektur verlangt. Es
zeichnet sich hier ein Paradigmenwechsel ab. Mit Mario Carpo müssen wir
vom „Ende des albertianischen Paradigmas“[16]
sprechen, denn die neuen digitalen Medientechnologien lassen sich nicht
mehr, wie die Maschine im mechanischen Zeitalter, auf die Baustelle beschränken.
Sie greifen unmittelbar in die Entwurfsverfahren ein. Nach Alberti beruhte
die Stärke der Renaissance auf der Trennung des intellektuellen Akts des
Designers von der materiellen Ausführung durch den Handwerker. Gerade
diese Trennung, die über 500 Jahre Gültigkeit hatte, kommt heute ins Wanken.
Über die algorithmische Prozessualität der digitalen Verfahren findet
eine enge Verschränkung oder „interaktive Verknüpfung“ der technologischen
mit der anthropologischen Seite des Entwurfes statt.
Was ist also Architekturtheorie? Architekturtheorie, so lässt sich jetzt
festhalten, ist das Medium der kritischen Reflexion des Gemachtwerdens
und des Gemachtseins der Architektur und die kritische Reflexion ihrer
kulturellen Funktion im dynamisch sich ändernden kulturellen Kräftefeld.
Damit ist das komplexe Aufgabenfeld der Architekturtheorie bezeichnet,
das – der jeweiligen kulturellen Logik entsprechend – seine je spezifische
Auslegung erhält, als Nachdenken über die Architektur, als
Traditionelle Theorie oder als Kritische Theorie der Architektur.
Wo alles im Wandel und im permanenten Umbau begriffen ist, ist die Architekturtheorie
diejenige Instanz der Reflexion, die die Architektur immer wieder auf
ihre eigentliche Funktion zurückführt: Nämlich als jene zentrale kulturelle
Praxis, durch die die kulturelle Logik einer Zeit ihre Vermittlung in
die Sinnenhaftigkeit unserer Alltagserfahrung erfährt, durch die das abstrakte
Denken seine Übertragung in die lebensweltliche Realität erfährt und erst
sinnlich erfahrbar wird, womit jedoch die kulturelle Logik nicht auf die
technische Rationalität reduzierbar ist. In sie fließen auch die ökonomische
und ökologische sowie die politische und philosophische Logik einer Zeit
ein. So waren es in der Renaissance die Logik des Neoplatonismus und im
Barock die Logik der Gegenreformation, die in Architektur und Städtebau
ihre Übersetzung in die lebensweltliche Erfahrbarkeit erfuhren. Zu Beginn
des 20. Jahrhunderts waren es dagegen die Logik der Maschine und der Maschinenproduktion,
die in der Architektur der Moderne ihre sinnliche Vermittlung in den Lebensalltag
fanden. Das meinte Mies van der Rohe, als er 1926 feststellte: „Der Charakter
unserer Zeit soll in unseren Bauten spürbar sein […] mit den Mitteln unserer
Zeit“[17].
Im Gegensatz zum Transzendentalismus und Idealismus vormoderner Gesellschaften
zeichnet sich also die traditionelle wie auch die kritische Architekturtheorie
durch einen radikalen Willen zu einer Kultur der Gegenwart aus, was eine
neuerliche Differenzierung des Begriffes der Architekturtheorie nötig
macht. Mit Blick auf das praktische Gemachtwerden und Gemachtsein der
Architektur stehen im Zentrum der Architekturtheorie die Wirklichkeitsbedingungen
der Architektur. Es geht hierbei um die Frage der praktischen Umsetzung
und Materialisierung architektonischer Ideen im jeweils herrschenden kulturellen
Kräftefeld. Wo also die Reflexion auf das Gemachtwerden und Gemachtsein
zielt, muss man die Architekturtheorie als eine praktische Ästhetik
verstehen. Andererseits ist Architekturtheorie auch die Reflexion über
die kulturelle Funktion der Architektur, also weniger über ihre Wirklichkeits-
als vielmehr über ihre Möglichkeitspotenziale im großen, ständig im Umbau
sich befindenden, kulturellen Ganzen. Geht es also um die kulturellen
Bedingungen und die kulturelle Funktion von Architektur, so findet hier
die Erweiterung der Architekturtheorie hin zur Philosophie der Architektur
statt. Architekturtheorie als praktische Ästhetik ist somit von der Philosophie
der Architektur zu unterscheiden: Zielt die eine auf das praktische Gemachtwerden
und Gemachtsein der Architektur, so die andere auf die allgemeine kulturelle
Funktion der Architektur im Kontext des größeren kulturellen Ganzen.
Anmerkungen:
[1]
Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd.
1.2, Frankfurt/M. 1997, S. 477 f.
[4]
Friedrich Nietzsche, Ecce homo, in: Ders., Kritische Studienausgabe,
Bd. 6, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Hamburg 1999,
S. 322.
[6]
Hanno Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheorie, München
1995, S. 150.
[8]
Willem van Reijen, Post-scriptum. Anciens – Modernes – Postmodern,
in: Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne,
hrsg. v. Dietmar Kamper u. Willem van Reijen, Frankfurt/M. 1987, S.
11.
[9]
Walter Gropius, Grundsätze der Bauhausproduktion [1926], in:
Ulrich Conrads (Hg.), Programme und Manifeste zur Architektur des
20. Jahrhunderts, Braunschweig u. Wiesbaden 1981, S. 90.
[12]
Manfredo Tafuri, Architecture and Utopia. Design and Capitalist
Development, Cambridge Mass. 1976, S. 125.
[14]
Herbert Schnädelbach, Plädoyer für eine kritische Kulturphilosophie,
in: Kulturphilosophie, hrsg. v. Ralf Konersmann, Leipzig 1996,
S. 307.
[17]
Mies van der Rohe, Manuskript vom 2. August 1926, in: Fritz
Neumeyer, Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort, Berlin 1986,
S. 299.
|