ARCHITEKTUR
DENKEN 40 Jahre kritische Architekturtheorie – 40 Jahre Igma 13. Jg., Heft 2, März 2009 |
___Karin
Wilhelm Braunschweig / Berlin |
„Alles ist politisch“ – Zeitgeist und Architektur-Denken um 1968 [1] |
Über Architektur
und deren Beziehungen zum Zeitgeist nachzudenken, kann zur Leichtfertigkeit
verführen. Denn nicht zu Unrecht haben die Historiker Ernst Piper und Julius
H. Schoeps im Vorwort zum 1998 erschienen Band „Bauen und Zeitgeist“ zu
bedenken gegeben, dass wir den Zeitgeist als einen „unsteten Gesellen“[2]
kennen, der sich mal hier mal dort zeige, weshalb er sich der wissenschaftlichen
Betrachtung vielleicht sogar entziehe. Mit dieser Sicht bewehrt, sind wir
versucht, den Zeitgeist als ein Oberflächenphänomen zu streifen, dem nicht
ganz zu trauen ist. Tatsächlich muss sich der Zeitgeist im Tagesgeschäft
der Gegenwart realisieren und ist daher, wie Karl Jaspers einst zu bedenken
gab, als Thema ebenso unerschöpflich wie unfixierbar, das sich zudem „...
mit seinem Gedachtwerden schon verwandelt.“[3]
Der Zeitgeist mag uns daher als eine Denkfigur des bloß Vagen und Modisch-Flüchtigen
erscheinen; immerhin hatte um 1800 schon Johann Gottfried Herder das Unstete
an ihm entdeckt. In den „Briefen der Humanität“ hatte Herder die Frage aufgeworfen:
„Ist er ein Schall der Aeolsharfe, ein Lufthauch der Mode?“ und resümiert:
„Die flüchtige Mode ist seine unechte Schwester; er ist ihr nicht gewogen,
lernt aber auch von ihr, und hat mit ihr zuweilen lehrreichen Umgang.“[4]
Im Fahrwasser der Moderne des 20. Jahrhunderts ist dieser lehrreiche Umgang
verstärkt mit den Erscheinungen des Banalen oder übertrieben Spektakulären
identifiziert worden und hat sich gleichsam umgangssprachlich als Begriff
für das Modische eingeschliffen. So gesehen offenbart sich uns der Zeitgeist
derzeit allzu leicht als dienstbarer Geist für alles, was in medialen Inszenierungen
von soziokulturellen Gegenwarts- und Zukunftstendenzen erkennbar und damit
durchsetzungsfähig sein und werden soll. Nimmt man die Sache jedoch weniger salopp und versichert sich des begriffsgeschichtlichen Bestandes, so bleibt davon erhalten, was dem Zeitgeist seit der Neuzeit zugesprochen wurde: das Spiegelbild der Welt und der herrschenden Ideen von ihr in unterschiedlichen historischen Konstellationen zu sein, oder das begrifflich zu umschreiben, was „Epochenidentität“ genannt worden ist. Jürgen Habermas hat dieses Zeitgeistverständnis 1978 noch einmal zu Grunde gelegt, als er eine Aufsatzsammlung initiierte, die später unter dem Titel „Stichworte zur geistigen Situation der Zeit“ veröffentlicht wurde. Er hatte einige Kollegen gebeten, die Zeitgeistthematik auf der Folie der 1931 erschienenen Schrift des Philosophen Karl Jaspers „Die geistige Situation der Zeit“ abermals zu beleuchten, einschränkend jedoch bemerkt, dass der Rekurs auf Jaspers als „Schlüsselattitüde“ des eigenen Denkens nicht bindend sei. Schließlich, so Habermas: „Wer traute sich noch eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters zu?“[5] Wiewohl die Zeitdiagnostik des Karl Jaspers in der Programmatik eines Theoriegebäudes heute gewiss nicht mehr zu Verfügung steht und die Zeitdiagnose des Heidelberger Philosophen nicht allein des „weinerlichen Kulturpessimismus“ (R. Dahrendorf) wegen als ein untaugliches Instrument unseres Denkens erscheint, ergeben sich aus dem Jaspers-Essay doch noch immer einige methodische Hinweise darauf, wie der Zeitgeist als ein Geflecht aus Ideenkonstruktionen und kollektiven Lebensformen wirksam ist, das sich ebenso den individuellen Existenzen einschreibt wie in den Räumen der Kollektive lesbar wird. Seiner kategorial gefügten Zeitkritik hat Jaspers einige grundsätzliche Überlegungen vorausgeschickt, die ihm notwendig erschienen, um zu klären, welche Gegebenheiten sich historisch hatten durchsetzen müssen, damit die Rede vom Geist einer Zeit überhaupt möglich werden konnte. Dazu gehörte die Durchsetzung des epochalen Bewusstseins, mithin eines Weltzeitbewusstseins, wie es in den Entwürfen einer Universalgeschichte im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts entwickelt und in Hegels Geschichtsphilosophie zur Vollendung gebracht worden war. Hegel war in seinen Schriften dem Weltgeist zwischen Erscheinung und Begriff und abermals zwischen Begriff und Erscheinung durch die verschiedenen Epochen in den sich ausdifferenzierenden Künsten und Wissenschaften gefolgt. Eben weil dieser Geist in Hegels Systementwurf nicht in der Abstraktion verharrte, sondern sich vorzugsweise in Krisensituationen konturierte und durch tatkräftige Individuen erklärte, konnte der Zeitgeist Charakter, ein Gesicht und sogar einen Namen annehmen. Einen solchen Kulminationspunkt aus Geistpersonalisierung und historischer Situation hat Hegel in dem berühmt gewordenen Brief vom 13. Oktober 1806 „...am Tage,“ wie der Philosoph kommentierte, „da Jena von den Franzosen besetzt wurde, und der Kaiser Napoleon in seinen Mauern eintraf“[6] dem Freund Niethammer beschrieben: „...den Kaiser – diese Weltseele sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten; – es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend über die Welt übergreift und sie beherrscht.“[7] Hegel ist dieser Personalisierung und der Verklärung des Imperators wegen später viel gescholten worden. Allemal aber offenbart diese Passage den Charakter der geschichtsphilosophisch begründeten modernen Zeitgeistanalytik, die Personen und Situationen gleichsam als Medien des flüchtigen Zeitgeistes (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) auffasste und in ihnen doch die Macht der Ideen feierte. So überschritten diese ihr Reich des Idealen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) und verwirklichten sich in der politischen Praxis (Code civile). Karl Jaspers hat diesen Sachverhalt im Kontext seiner Zeitgeistanalytik nochmals aufgegriffen und prononciert. Er schrieb:
„Letzthin ist nur der einzelne in einer Situation. Von da
übertragend denken wir die Situation von Gruppen, Staaten, der Menschheit,
von Institutionen wie Kirche, Universität, Theater, von objektiven Gebilden
wie Wissenschaft, Philosophie, Dichtung. Wie wir den Willen einzelner
diese als ihre Sache begreifen sehen, ist dieser Wille mit seiner Sache
in einer Situation. In diese Dynamik des
Zeitgeistes, Situationen der Gesellschaftsproduktion sowohl zu reflektieren
als auch zu produzieren, sind die Künste, trotz ihres beharrlichen Autonomie-Bekenntnisses,
eingebunden – die Architektur als Gebrauchskunst allemal. Nicht des politischen
Aktionismus, sondern dieser Tendenz zur Erkenntnis von Situationen wegen
deklarierte sich die 1957 gegründete Künstlergruppe als Situationistische
Internationale, die in der Tradition der revoltierenden Praxis und in
der Haltung des Protestes die „Bewusstwerdung“ (A. Camus) über die geistige
Situation der Zeit zu erregen suchte. Schließlich ging es um den Nachweis,
dass alles, die Existenz, das Denken und Handeln der Einzelnen und Kollektive
in den jeweils verschiedenen sozialen Rollen politische Praxis ist, mithin
die Architektur als „Gegenstand einer kollektiven Simultanrezeption“ (W.
Benjamin) immer der bevorzugte Gegenstand gesellschaftspolitischer Manifestationen
sein wird. „So far as the concept of production is concerned, it does not become fully concrete or take on a true content until replies have been given to the question, that it makes possible: `Who produces?´ `What?´ `How?´ `Why and for whom?´“[11] Diesem Programm haben
sich die jungen Architekturproduzentinnen und -produzenten von 1968 verpflichtet
gefühlt. Anders als die Wiederaufbaugeneration, die sich im Umfeld von
„Hitlers willigen Vollstreckern“ agierend, derartige Fragen der Legitimität
ihrer Entwurfsarbeit grundsätzlich verbeten hatte, rezipierte man jetzt
mit besonderer Aufmerksamkeit sozialpolitische Analysen, die zur Beantwortung
nach spezifischen politischen Implikationen, die die Produktion von Architektur
beeinflussen, tauglich wären. Ein Buch, das diesen Kontext der individuell-konkreten
Prägung detailliert untersucht hat, also dem Geflecht des „Warum, für
wen und auf welche Weise“ Raumfigurationen überhaupt ersonnen und realisiert
werden können, ist die 1965 verfertigte und 1968 erschienene Untersuchung
der in Frankfurt am Main am Sigmund Freud Institut lehrenden Heide Berndt
mit dem Titel „Das Gesellschaftsbild bei Stadtplanern“ gewesen.[12]
In dieser Analyse lernte man, dass gerade Planer – und Architekten waren
in diesem Falle ebenfalls gemeint – unter bestimmten Weltbild-Positionen
agieren, also auch unter normativ-ideologischen Prämissen und nicht allein
unter sachbezogenen. Wenn heute in Westeuropa mit hoher gesellschaftlicher
Akzeptanz in Zeitungen und Internetforen lautstark darüber gestritten
wird, wie die Arbeit der zur Zeit in China planenden Westarchitekten zu
bewerten sei, ob ihre Mitwirkung an Projekten wie dem Olympia-Stadion
und anderen Großbaustellen, die mit Zwangsumsiedlungen und dem Abriss
von Wohngebieten verbunden sind, als legitim anzusehen seien oder allein
durch böswillige Gutmenschen propagandistisch-politisch ausgeschlachtet
werden, dann ist dieser Sachverhalt für sich gesehen schon eine Folge
der Architekturdebatten von 1968; denn damals wurde der Diskurs darüber
verfertigt, dass Akteure, die den öffentlichen Raum verarbeiten – und
das tun Architekten – sich in weit reichenden Rechtfertigungszusammenhängen
politischer Natur bewegen und sich daher nach ihren Motiven befragen lassen
müssen. Vor diesem Hintergrund erhält die Aussage Jacques Herzogs ihre
Brisanz, sein Statement in Bezug auf das Olympia-Stadion von Peking: „Die
Demokratie, wie wir sie in der Schweiz haben, hat manchmal etwas Lähmendes
für Architekturprojekte...“[13]
Der Tatbestand, dass das Bird´s Nest, wie das Stadion freundlich
sanft und euphemistisch genannt wird, zuweilen nur mithilfe von 10.000
gleichzeitig zum Einsatz kommenden, schlecht bezahlten, ausgebeuteten
Wanderarbeitern umgesetzt werden konnte, eine Leistung, die Pierre de
Meuron nur im Vergleich zur menschlichen Arbeitskraftkonzentration des
archaischen Pyramidenbaus qualifizieren mag, gehört aus dem Blickwinkel
von 1968 betrachtet (mit dem auch die Kritik am Stalinismus verbunden
war) in die Kategorie des „intellektuellen Gehilfentums“ (M. Ryklin). „And from the Bay we see New York arranged by the Continuous Monument into a great plain of ice, clouds or sky...“[17] Diese technische Zukunftsvision
visualisierte die Urbanisierungsdynamik als Option der westlichen Industrienationen,
zwischen Untergang oder der Rückgewinnung einer paradiesischen Landschaft
wählen zu können. Die Gruppe knüpfte damit an die Friedrich Engels und
Rosa Luxemburg zugeschriebene Sentenz an, dass die Menschheitsentwicklung
zwei Wege offen halte, entweder ins Reich der Freiheit oder in die Barbarei
einzumünden. „By the elimination of the city, we mean the elimination... of the city as hierarchy and social model. Looking for a new free egalitarian state, in which everyone can reach different grades in the development of his possibilities, beginning from equal starting points. By the end of the work, we mean the end of specialized and repetitive work...foreign to the nature of man.“[18] Diese Suche nach einem
gleichsam urkommunistischen Raummodell als Alternative zur funktionalistisch
organisierten Industriestadt hat Superstudio nach dem Zerfall der
Studentenbewegung und unter dem Schock der Ölkrise von 1973 in radikalen
Formen der Konsumkritik fortgeführt. Unter dem Einfluss ethnologischer
Forschungen untersuchte man jetzt bäuerliche Lebensformen innerhalb und
außerhalb Europas, die als Alternative zur kapitalistisch-technischen,
Natur zerstörenden Produktionsweise wieder zu beleben wären, ein Gedanke,
der durch die Lektüre der Veröffentlichung von Claude Lévi-Strauss zum
wilden Denken angeregt worden war und später in der Begründung des von
Collin Rowe und Fred Koetter begründeten Collage City-Konzeptes
der Postmoderne noch einmal vernutzt wurde.
Literaturverzeichnis: Berndt, Heide: Das Gesellschaftsbild bei Stadtplanern. Beiträge zur Umweltplanung, Stuttgart 1968. Conrads, Ulrich: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Bauwelt Fundamente 1, Basel/Boston/Berlin 2001. Habermas, Jürgen: Stichworte zur 'Geistigen Situation der Zeit', 2 Bde, Frankfurt a. M. 1979. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Briefe von und an Hegel, hg. von Johannes Hoffmeister, 4 Bde, Hamburg 1952. Herder, Johann Gottfried: Briefe der Humanität. Schriften zur Humanität Bd. 4, Frankfurt a. M. 1947. Herzog, Jacques, in: Bird's Nest – Herzog & de Meuron in China, Dokumentarfilm von Ch. Schaub und M. Schindhelm, Schweiz 2005. Hollein, Hans: Alles ist Architektur, Wien 1968. Jaspers, Karl: Die geistige Situation der Zeit, Leipzig 1932. Lefèbvre, Henri: The Production of Space, Oxford 1998. Piper, Ernst / Schoeps, Julius H. (Hg.): Bauen und Zeitgeist. Ein Längsschnitt durch das 19. und 20. Jahrhundert, Basel/Boston/Berlin 1998, S. 7. Lang P. / Menking W. (Hg.), Superstudio. Life without Objects, New York/London 2003.
Anmerkungen: [1] Der Text beruht in einigen Passagen auf einem Vortrag am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Würzburg am 16. April 2008. Gerhard Schweppenhäuser veröffentlicht soeben einen Tagungsband zum Symposion „Die '68er“. [2] Piper/Schoeps 1998, S. 7. [3] Jaspers 1932, S. 5. [4] Herder 1947, S. 34. [5] Habermas 1979, Bd.1, S. 7. [6] Hegel 1952, Bd.1, S. 119. [7] Hegel 1952, Bd.1, S.120. [8] Jaspers 1932, S. 19. [9] Jaspers 1932, S. 19. [10] Hollein 1968. [11] Lefèbvre 1998, S. 69. [12] Berndt 1968. [13] Jacques Herzog 2005. [15] Conrads 2001, S. 149. [16] Conrads 2001, S. 155. [17] Lang/Menking 2003, S. 122.
[18]
Lang/Menking 2003, S. 23. |
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