Gebaute Räume
Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt

9. Jg., Heft 1
November 2004
   

 

___Hartmut Böhme
Berlin
  Ansprache zur Eröffnung der Tagung
an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus am 23. Juni 2004

 

   

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen,

es ist mir eine Freude, diese Tagung, die von der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus und der Humboldt-Universität zu Berlin gemeinsam vorbereitet und veranstaltet wird, eröffnen zu dürfen. Mein besonderer Dank für die sorgfältige Vorbereitung gehen an Herrn Führ, Frau Jöchner und Frau Wagner.

Ich könnte gleich anschließen an die Ausführungen des Präsidenten über Symmetrien in den modernsten physikalischen Theorien, womit er auf das Ästhetische nicht nur der Theoriebildung, sondern womöglich der Natur selbst verwiesen hat – und auf Beziehungen, die darin auch zur Architektur bestehen. Tatsächlich sind Symmetrien solche Verhältnisse des Schönen, mit denen im Abendland die Wissenschaft überhaupt begann, und zwar bei den Pythagoräern. Wir wissen davon im Wesentlichen  nur von Platon. Symmetrie meint hier Kommensurabilität, die das Ordnungsprinzip des Universums darstellt. Hier berührt sich die erste Naturphilosophie, prima philosophia, mit der neuesten Physik. Neben der Symmetrie steht die symphonia, der harmonische Zusammenklang, der die Sphären des Alls zu einem künstlerischen, nämlich musikalischen Geschehen werden lässt. Noch bis ins 18. Jahrhundert konnte von Sphärenharmonie gesprochen werden. Mit Symmetrie und Symphonie haben wir die beiden Arten der Homologia, also jenen Logos, jene Wissenschaft, die das Zusammenstimmen und das Gleichmaß des Universums entwickelt. Im Kleinen, im menschlichen Maß, stellt die Architektur jene Technik dar, die durch Gleichmaß und Zusammenstimmung, durch Homologien also, den Logos des Bauwerks herausstellt, seine Konstruktion, die von der Antike her immer ebenso technisch wie ästhetisch ist. Dies mag als kleine Anknüpfung an die Bemerkungen des Präsidenten genügen, um zweierlei festzuhalten: erstens sehen wir, dass man im Allermodernsten öfters an der Lösung der allerältesten Probleme arbeitet; und zweitens sieht man, dass eine Tagung wie diese, die sich mit Raum und Architektur beschäftigt, sehr schnell in einem transdisziplinären Netzwerk von Bezügen aufgehen könnte, die sowohl in die Geschichte, in die Philosophie, in die Ästhetik, aber eben auch in die Physik führen. Wie sehr Architektur, Malerei, Dinggestaltung, Geometrie, Mathematik, Ornament zusammenhängen, zeigte eindrucksvoll die Darmstädter Ausstellung „Symmetrie“ 1986. Damit will ich es bewenden lassen und zu dem thematischen Fokus der Tagung kommen.

Sie wissen, meine Damen und Herren, dass in den Geisteswissenschaften spätestens seit 1800 Modelle der Zeit und Verzeitlichung von Prozessen der Gesellschaft und des Wissens dominierten. Erst in den letzten Jahren, man darf sagen: endlich, erstarkt die Beschäftigung mit dem Raum. Und dies hängt sicher auch mit der kulturwissenschaftlichen Wende der Geisteswissenschaften zusammen. Denn die Kulturgeschichte beschäftigte sich immer ebenso mit Zeitregimes wie mit Raumordnungen.

Die traditionelle Dominanz der Zeit über den Raum mag denen unter Ihnen, die sich mit Architektur beschäftigen oder selbst Architekten sind, überraschend erscheinen. Denn neben anderen raumzen
trierten Praktiken – wie der Agrikultur, dem Reisen, dem Verkehr, dem Krieg, dem Tanz, der Skulptur oder, wie Lessing sagte, den Raumkünsten überhaupt in Abhebung zu den Zeitkünsten – daneben also war es seit jeher die Architektur, die vielleicht das Zentrum aller räumlichen Praxen und Künste darstellt.

Gleichwohl gilt, dass philosophisch wie kulturhistorisch der Raum wie ein unreiner Stiefbruder der Königin Zeit behandelt wurde, die am ehesten der göttlichen Sphäre der Zahlen und ihren Harmonien nahe zu kommen schien. Aber wir sahen schon am Beispiel der Pythagoräer und Platons, dass dies nicht immer so war und jedenfalls nicht am Anfang des philosophischen und naturwissenschaftlichen Denkens. Denn Symmetrie und Symphonie sind hier zuerst Raumfiguren.

Freilich ist wahr, dass alles Räumliche verkörpert ist; doch nicht erst im Christentum, sondern schon im Platonismus begann eine Abwertung von Körper und Materie, mithin des räumlich Verfassten. Dieses ist notwendig und unhintergehbar mit jener Sphäre kontaminiert, welche in der europäischen Geschichte mit dem Dunklen, Unreinen, Niedrigen und deshalb Unwahren assoziiert wurde: der Materie, der Welt also der natürlichen und artifiziellen Körper.

Jede Verkörperung – sei es eine solche eines Dinges, eines Lebewesens, einer Handlung – trägt zeiträumliche Indizes. Dagegen weisen die wahrhaft edlen Objekte des Geistes und der Seele allenfalls einen zeitlichen Index auf – wie etwa die Musik oder die Ideen –, wenn sie nicht gleich am Zeitlosen selbst partizipieren, wie die Zahl. Nur im Maß, wie das Universum an Musik und Zahl partizipierte, ragte es gewissermaßen über das Materielle hinaus ins Göttliche.

Natürlich wissen wir längst, dass diese Auffassung einem griechisch-christlichen Vorurteil entspricht, das falsch ist und wahrhaft ver-kehrt. Denn damit wird jene Fundamentaltatsache geradezu auf den Kopf gestellt, wonach jeder kulturelle Akt vor allem eine Form der räumlichen Einbettung darstellt. Das Wohnen ist die erste Raumnahme, und zuletzt geht es um die kulturelle Einbettung auf der Erde, auf der, nach dem Wort der Alten, der Mensch anders als alle Tiere ein peregrinus, ein Unbehauster ist. Kultur – von lat. colere herstammend – heißt darum ‚das Anbauen’, ein spatialisierender Akt, gleichgültig, ob es sich um Pflanzen oder um Pflanzstädte, coloniae, handelt.

Es ist durchaus der Überlegung wert, ob die atemberaubende Karriere der Digitaltechniken nicht nur, aber auch damit zusammenhängt, dass der wachsenden Bedeutung der Raumkategorie mit dem Virtuellen eine immaterielle Sphäre entgegengesetzt werden konnte, die erneut einen Triumph der Zeit darzustellen scheint.

Dass indes die digitale Welt ohne Anleihen beim Raum nicht auskommt – und Cyberspace und Interface sind schon vom Wort her Winke in diese Richtung –, dies mag hier als Hinweis darauf genügen, dass reine Zeittechniken im wahrsten Sinn transhuman sind, nämlich jenseits aller Vorstellbarkeit, aber auch jenseits aller Belebbarkeit stehen. Es geht hier um die ebenso schlichte wie prinzipielle Tatsache, dass man ebenso wenig nur in der Zeit wie nur im Zeitlosen leben kann. Für beides müsste man körperlos sein. Und im Raumlosen wäre Leben eine bloße Chimäre, eine Einbildung.

Denn Leben ist – vom Einzeller bis zur komplexen sozialen Handlung – zuerst eine Verkörperung im Raum. Und Architektur ist im weitesten Sinn als Verkörperung zu verstehen. Nicht etwa, dass Architektur anthropomorph wäre, auch wenn es solche Ansätze gibt. Ich erinnere nur an Passagen bei Vitruv, in denen dieses mensura-hominis-Denken zu beobachten ist.

Man muss Verkörperung allgemeiner fassen:
1.) Architektur ist eine der stabilsten Kulturtechniken, in denen sich menschliche Intentionen verkörpern.
2.) Architektur ermöglicht und codiert die sozialen Choreographien des Handelns.
3.) Architektur bildet jenen Umgebungsraum, durch den eine ebenso abstrakte wie bedrohliche Umwelt zur menschlichen Mitwelt wird.
4.) Architektur ist Expression und Repräsentation zugleich der elementaren Objektivierungs-Gesten,  durch die alle, oder wenigstens die sesshaften Kulturen erst auf den Weg kommen.
5.) Architektur ist die vielleicht stärkste Formel, in der sich der Gestaltungswille der Gegenwart sedimentiert, und zugleich einer der mächtigsten Faktoren, durch welche die Vergangenheit die Gegenwart festlegt. In all diesen Merkmalen ist Architektur eine Raum-Macht, man kann auch sagen: eine Territorialisierungsstrategie.

Der Kategorie des Raumes ihre elementare Bedeutung zurückzugeben, ist gewiss ein indirektes Ziel dieser Tagung. Und welche Phänomene könnten mehr geeignet sein, diese Elementarität zu verdeutlichen, als die Architektur und die Stadt, in der sich das soziale Leben seit den ersten Hochkulturen, das Leben der Moderne aber radikal räumlich konzentriert. Es bedarf gewiss einer komplexen interdisziplinären Anstrengung, wie sie hier unternommen wird, um an Architektur und Stadt die Figurationen des Räumlichen abzulesen. Und es bedarf ebenso der Analyse jener Erscheinungen, man möchte fast sagen: jener Existenzialien, an denen Räumlichkeit allererst phänomenologisch wie kulturell aufgeht: also am Leib, dem Wohnen und der Bewegung.

Bewegung – als Eigenbewegung, Bewegtwerden und als Wahrnehmung von Bewegung – ist vielleicht diejenige Kategorie, die Raum und Zeit gleichermaßen konstituiert. Am Unbewegten können wir weder Raum noch Zeit begreifen, ja, nicht einmal sagen, dass es ist. Dass aber gerade dem Unbewegten Sein, ja das Sein überhaupt zugesprochen wurde,  ist eines der größten Verhängnisse der abendländischen Metaphysik nach Parmenides.

Nur scheinbar widerspricht dem die Architektur. Sie will in das Vergehende der Zeit und in das Ungegliederte des Raumes, der Chora, Stabilität einziehen, an der das kulturelle Leben einen An-Halt gewinnen kann. Bauen und Bewegung hängen aber kulturell unmittelbar zusammen. Denn Bauen ist jener Akt, durch den abgegrenzte Bezirke – Wohnstatt und regio – sowie die gegliederten Raumstaffeln befestigt werden, die allererst Bewegungen erlauben, nämlich solche zur kulturellen Reproduktion und Evolution unabdingbaren Bewegungen, die der Realisierung von Zwecken dienen und nicht nur das Wirken natürlicher Kräfte sind. Kulturen sind nur als stabilisierte Raumordnungen denkbar, also im weiten Sinn: als Architekturen. Dann erst haben Kulturen eine Chance, Gedächtnis und Tradition auszubilden und Sorge für Zukunft zu tragen, also Zeitregimes zu entwickeln, welche den Terminus der Zeit, den Tod nämlich, hinhalten –; während der Terminus des Raumes das Chaos, die Chora ist.

Ich darf Sie – und erlauben Sie mir, damit diese sehr allgemeinen Überlegungen abzuschließen; das Konkrete, sozusagen Raumerfüllende werden Sie in Ihren Vorträgen liefern – ich darf Sie also ermuntern, Ihre Forschungskraft weiterhin auf die kulturellen und architektonischen Verräumlichungsformen und ihren funktionalen wie historischen Wandel zu richten. Es gibt viele Nachbarschaften zu dieser Tagung, die wir in Zukunft weiterentwickeln können, Nachbarschaften, die sich alle aus der Einsicht in die grundlegende Relevanz der Raumkategorie ergeben. Ich erwähne nur, dass der Berliner SFB 447 Kulturen des Performativen einen Schwerpunkt seiner dritten Förderungsperiode auf „Bewegung – Rhythmus – Raum“ legen wird. Ich erwähne, dass das Symposion, das die DFG einmal im Jahr in eigener Regie durchführt, diesmal dem Thema der Topographien gewidmet ist. Ich nenne ferner die gerade laufenden Bemühungen, zwischen der Freien Universität, der Humboldt-Universität und der Technischen Universität in Berlin ein Zentrum für Metropolenforschung aufzubauen. Ich erinnere an die Weimarer Kollegen und ihre Aktivitäten im Feld von Medien und Raum. Es gibt also viel zu tun.

Ich wünsche Ihnen deswegen viel Erfolg für die Tagung und vor allem fruchtbare Diskussionen über die Fächergrenzen hinweg, die zu überwinden niemals leicht, im Fall aber von Raumforschung zu überschreiten absolut notwendig ist.

     

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9. Jg., Heft 1
November 2004