Thema
2. Jg., Heft 2
Nov. 1997

Eduard Führ

Werk-Räume

1. Vorbemerkung

Bild 1: Darstellung des Wahrnehmungsvorgangs durch Osram

1Wenn man nachfragt, wird man feststellen, daß heute - auch bei Architekten - Wahrnehmung immer noch als Schnappschuß verstanden wird (siehe Bild 1): wahrgenommene Gegenstände, Wahrnehmungsinhalte sind dieser Vorstellung gemäß durch einen fotokameraähnlichen Apparat aufgenommene und heim ins Hirn gebrachte, technisch gewonnene Verdoppelungen der äußeren Dinge. Sprache hat bei diesem Vorgang keine konstruktive Funktion, sie stört eher den technischen Ablauf des Einhausens.
Dieses seit der Renaissance propagierte und ausgearbeitete Verständnis von Wahrnehmung ist aufgrund physiologischer und wahrnehmungspsychologischer Forschungen seit bereits geraumer Zeit nicht länger haltbar.

2Ich möchte hier jetzt nicht im Einzelnen über die entsprechenden, wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse berichten, also etwa, daß schon auf der Retina die optischen Wellen in elektro-chemische Reize ganz unterschiedlicher Art umgewandelt werden, daß für die Wahrnehmung des Farbspektrums ganz unterschiedliche Rezeptoren zuständig sind, daß niemals ein Fakt in seinem aktuellen Bestand, sondern ausschließlich Veränderungen und Unterschiede rezipiert werden, daß durch die zwei Augen zwei unterschiedliche Bilder von einem Gegenstand aufgenommen werden und daß diese wiederum aufgespalten werden und etwa die Reizfelder beider rechten Hälften des rechten und linken Auges in die linke Hirnhälfte und die beiden linken in die rechte Hirnhälfte vermeldet werden.
Vielmehr ist aus physiologischer Sicht zusammengefaßt, Wahrnehmung die Initiierung eines breiten Spektrum heterogener elektrischer und chemischer Vorgänge, die aufgrund von biologischer artspezifischer Prädisposition, von Lebenserfahrung, körperlicher Gesamtdisposition, von Emotionen und von Kognitionen zu einem dem äußeren Ding mehr oder weniger entsprechenden Wahrnehmungsinhalt re-konstruiert werden.
Sprache, als Medium intrasubjektiver und intersubjektiver Reflektion und Wissenschaft, als Mittel zu systematischer, kognitiver Organisation ist notwendiger Teil des Wahrnehmungsvorgangs.

3Ich könnte das Problem des Verhältnisses von Architektur und Sprache auch philosophisch abhandeln, also einen Vortrag über Fachsprachen in Architektur und Kunst halten, eine Kritik etwa an Erwin Panofskys Drei-Schichten-Modell von Ikonologie oder an Max Imdahls Begriff der Ikonik vornehmen; dabei hätte ich darüber gesprochen, wie man über ein Gebäude oder ein Kunstwerk spricht.
Wenn schon das Sprechen über ein Werk eine mentale und zumeist auch temporäre Distanz zum Werk beinhaltet, so sicherlich das Sprechen über das Sprechen über ein Werk.
Ich möchte statt dessen nun hier phänomenologisch versuchen, in unmittelbarer Auseinandersetzung mit einem Werk, ohne Distanz, in Präsenz und Vollzug ein Werk sprechend wahrzunehmen.

4Obwohl es hier um Architektur gehen soll, möchte ich der Einfachheit halber ein Bild von Sol LeWitt von 1973 besprechen, das sich heute in der Sammlung Vogel in New York befindet. Ich denke aber, man kann das Bild auch durch Gebäude und Texte von Architekten ersetzen, ohne daß im Prinzip die methodischen Ergebnisse ungültig sind.

2. Vortrag

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Bild 2: Sol LeWitt (1973); A LINE DRAWN BETWEEN THE TWO POINTS WHERE TWO SETS OF LINES WOULD CROSS IF THE FIRST LINE OF THE FIRST SET WERE DRAWN FROM THE POINT HALFWAY BETWEEN THE CENTER OF THE PAGE AND THE MIDPOINT OF THE LEFT SIDE TO THE UPPER RIGHT CORNER; THE SECOND LINE OF THE FIRST SET FROM THE CENTER OF THE PAGE TO THE UPPER LEFT CORNER; THE FIRST LINE OF THE SECOND SET FROM THE POINT HALFWAY BETWEEN THE CENTER OF THE PAGE AND THE LOWER RIGHT CORNER TO THE LOWER LEFT CORNER; THE SECOND LINE OF THE SECOND SET FROM THE POINT HALFWAY BETWEEN THE CENTER OF THE PAGE AND THE MIDPOINT OF THE LEFT SIDE TO THE LOWER RIGHT CORNER.

E. F.: Der Titel enthält die Konstruktionsprinzipien des Werkes; ich bilde es hier noch einmal mit den von mir gezeichneten Hilfslinien ab.

 

Bild 3: Konstruktionszeichnung von Sol LeWitts Bild ‘A LINE DRAWN BETWEEN...’

E. F.: 5Jeder könnte aufgrund des Titels ein mit Sol LeWitts Bild ‘A LINE DRAWN BETWEEN...’ von 1973 identisches Werk herstellen. Da in unserem Beispiel hier der Text dem Bild vorhergeht, könnte man bei jedem weiteren Bild auch von einem, dem ersten gleichwertigen Original sprechen.
Von vielen Architekten und Architekturtheoretikern würde das hier vorgestellte Bild und sein Titel als der seltene, glückliche Fall verstanden, bei dem Werk und Versprachlichung des Werkes miteinander identisch sind. Der Titel teilt alle Prinzipien für die Herstellung mit.
Ich meine, daß gerade ein klassischer Architekturtheoretiker dem zustimmen und hier eine Identität von Werk und Text sehen würde, denn die klassische Architekturtheorie (wie sie etwa Hanno Kruft zusammenfaßt) ist nichts anderes als die Verbalisierung von Entwurfsprämissen durch die Hersteller von Architektur, durch die Architekten. Allerdings gibt es einen Wermutstropfen. Architektur wird für komplizierter als das Werk von Sol LeWitt gehalten und deshalb auch - so konzidiert man - gelingt es nicht so einfach oder letztlich gar nicht, eine Identität von Werk und Sprache herzustellen. Die Aufgabe bleibt, die berufliche Sicherheit für die Architekturtheoretiker ist gewährt.
Aber handelt es sich bei unserem Beispiel wirklich um eine Identität von Werk und Text?

A. Werk und Titel

E. F.: 6Ich kenne das Bild aus einem Museum. Es gibt unterschiedliche Gründe, ins Museum zu gehen, darauf möchte ich jedoch nicht eingehen, sondern dies Ihrer Erinnerung und Ihrer Phantasie überlassen. Die Rezeptionsweisen im Museum können sehr unterschiedlich sein, man kann das Bild oder den Künstler schon vorher kennen, es kann eine thematische Ausstellung sein usw. aber auch darauf möchte ich nicht näher eingehen.
In diesem Fall kannte ich das Bild noch nicht. Die übliche Rezeption eines Bildes im Museum ist in diesem Fall, daß man kurz auf das Bild blickt; wenn es einen anspricht, dann auch länger. Wenn man dann Verständnis oder aber Unverständnis gefunden hat, sieht man auch auf den Titel. Diese sind in der Regel kurz und man erwartet eine Bezeichnung des Dargestellten oder einen kleinen Hinweis.

7Das Bild von Sol LeWitt ist nicht sehr umfangreich. Ich erkannte die Linie auf den ersten Blick und hatte das Gefühl, damit das Bild komplett wahrgenommen zu haben. Die Linie verlief irgendwie auf dem Bildfeld, möglicherweise war das ästhetisch gemeint, ich konnte aber nicht eine außerordentliche harmonische Position darin erkennen. Also: irgenwie banal, Bild abgehakt. Um ganz abzuhaken, noch ein Blick auf den Titel.
Als ich den Titel sah, habe ich angefangen zu lesen: ‘A LINE DRAWN BETWEEN THE TWO POINTS WHERE TWO SETS OF LINES WOULD CROSS’ und dann aufgehört, weil ich ihn für einen Nonsense-Titel gehalten habe, der genau dieses mein Hilfeersuchen an den Titel bei Unverständnis des Werkes ironisieren sollte.
Ich habe ihn dann doch - es sei dahingestellt, warum - ganz gelesen und gemerkt, daß er die Konstruktionsprinzipien verbalisiert.

B. Textanalyse

E. F.: 8Nimmt man es genau, verbalisiert der Titel eigentlich nicht das Bild von Sol LeWitt, sondern meine Konstruktionszeichnung. Denn im Titel wird kein Unterschied gemacht zwischen einer Konstruktionshilfslinie, die alle in dem Werk von LeWitt nicht sichtbar sind und der einen sichtbaren Verbindungslinie zwischen den beiden konstruierten Punkten. Der Titel unterscheidet nicht zwischen einer mathematischen (Hilfs-) Linie und einem (Bleistifts-) Strich.
- Der Titel enthält die Konstruktionsprinzipien, er beschreibt aber nicht die faktische Genese des Bildes; also etwa: ‘IN MY STUDIO AT 115th STREET AT MONDAY 13th OCT 1973 AT 10.40 AM I TOOK A SQUARE SHEET OF PAPER, A PENCIL AND A RULER AND DREW THE TWO DIAGONALS TO FIND THE CENTER OF THE SQUARE. THEN ...’
Der tatsächliche Titel entzeitlicht und enttopologisiert also, d. h. auch, er enthistorisiert und entkulturalisiert das Werk.
- Der Titel stellt die Konstruktionsprinzipien in einer bestimmten Weise dar. Er heißt nicht ‘FROM THE POINT HALFWAY BETWEEN THE CENTER OF THE PAGE AND THE MIDPOINT OF THE LEFTSIDE IS A LINE DRAWN TO THE UPPER LEFT CORNER...’, sondern - wie oben lesbar - ‘A LINE DRAWN BETWEEN ..’.
Sol LeWitts Text gibt die Prinzipien der Konstruktion der Linie als Prinzipien des eigenen Seins und nicht als Prinzipien, die zwar conditio sine qua non für die Existenz des Strichs, aber nicht der Strich selbst sind. Bei Sol LeWitts Text ist die Struktur des Strichs geborgen im Sein des Strichs. Die Struktur ist nicht etwas, das zum Sein des Strichs führt, aber ontologisch in Differenz zu ihm steht, wie es beim alternativen Text nicht ‘FROM THE POINT HALFWAY BETWEEN THE CENTER OF...’ impliziert ist.
Oder anders gesagt: Der Text zeigt, vom sichtbaren Strich ausgehend, aufgrund welcher Struktur und welcher geometrischen Logik er genau so verläuft, wie er es tut. Er zeigt nicht, wie ein geometrisches Gerüst aufgebaut wird, dessen Resultat dann ein bestimmter Strich sein wird.

9- Der Text enthält kein Satzsubjekt und damit auch nicht den Produzenten des Werkes; er heißt nicht: ‘I DREW A LINE BETWEEN...’.
- Der Text formuliert nicht die Wahrnehmung des Striches durch einen Rezipienten ‘I SEE A LINE ..’.
- Der Titel gibt keine Handlungsaufforderung an einen Rezipienten, er heißt nicht ‘WHY DON’T YOU DRAW A LINE BETWEEN...’.
Der Text versachlicht also das Werk, er isoliert ein Ding vom Herstellungs-, Aneignungs- und Diskursprozeß und von den realen Subjekten dieser möglichen Tätigkeiten.
- Der Text enthält keine Verben, die Sätze sind nicht vollständig; der Stil des Textes ist so, wie er von technischen, technikwissenschaftlichen Aussagen und Definitionen üblich ist.
Damit wird Text und Werk durch den Text nicht als Kunst, oder besser gesagt: als Nichtkunst dargestellt.
- Der Text legt nicht fest, was ich für ein Papier zu nehmen habe, wie groß das Papier sein soll und daß für die Zeichnung der Linie ein Bleistift zu nehmen ist. Es ist nicht klar, welche Härte und welche Stärke der Strich haben soll.
Der Text definiert das Bild also nicht als ästhetisches Phänomen, sondern als geometrisches Exempel.
Zudem hätte die Beschreibung des Bildes viel einfacher durch Definition einer Strecke durch zwei cartesianische Achsen gegeben werden können: ‘1 LINE BETWEEN POINT A (X=4.7, Y = 7.8) AND POINT B (X= 6.7; Y= 9.8)‘ IN A SQUARE, IF YOU TAKE TWO EDGES AS AXES OF A CARTESIAN SYSTEM AND DEVIDE THE AXES INTO 10 UNITS‘

 

Bild 4: Cartesianische Achsen

E. F.: 10Das Resultat der Verbalisierungen wäre in beiden Fällen gleich, visuell gäbe es keinen Unterschied. Der Unterschied läge in der nichtsichtbaren Einbindung bzw. Nichteinbindung in eine Struktur, damit in eine über das Element Linie hinausgehende Rationalität und damit wiederum in einen über die Faktizität und Kontingenz hinausgehenden Sinn.
Da Sol LeWitt als Text nicht diese viel kürzere und einfachere cartesianische Definition vorgelegt hat, sondern die geometrische Struktur, kommt es ihm also darauf an, den Bleistiftstrich als sinnhafte Linie zu zeigen.

11Aber was macht den Sinn aus? Es handelt sich hier um eine geometrisch verstandene, zweidimensionale Fläche und nicht um ein physikalische Kräftfeld, bei dem es physikalischen Sinn machte, Linien als Kräftevektoren darzustellen. Unsere zweidimensionale Linie ist das notwendige Ergebnis seiner Konstruktionsstruktur. Wie notwendig ist jedoch die Konstruktionsstruktur?
Was hat das für eine Rationalität, für einen Sinn, wenn ich eine Hilfslinie gerade von der Mitte zwischen dem Mittelpunkt und der linken Seite gerade in die obere rechte Ecke ziehe? Ihr Sinn ist, daß sie diese ist und nicht eine andere. Sie ist unverwechselbar diese, und in ihrem Sosein begründet.
Es wäre auch eine andere Hilfslinie möglich, etwa wenn ich sie in die untere rechte Ecke ziehen würde, oder wenn ich die Strecke zwischen Mittelpunkt und linker Seite dritteln würde und vom Ende des ersten oder zweiten Drittels die Linie in die Ecke ziehe. Auch sie wäre unverwechselbar und eindeutig und hätte eine Begründung.

12Aber alle diese Entscheidungen, die eine eineindeutige Notwenigkeit konstruieren, sind als Einzelentscheidungen zufällig und willkürlich und so oder aber genausogut auch anders zu treffen.
Das Sein der sichtbaren Linie könnte auch anders sein; so wie es ist, ist es aber mit Notwendigkeit. Ordnung als solche ist damit notwendig und Ordnung als diese ist zugleich beliebig.

E. F. wendet sich nun wieder dem Bild zu.

C. Bildanalyse

E. F.: 13Ich sehe einen Strich, der von rechts unten nach links oben geht, so irgendwo ein wenig in der Mitte des Blattes.
Ich schaue hin und habe unmittelbar das Gefühl, alles zu seiner und meiner Genüge gesehen und damit erkannt und verstanden zu haben.

1. Bild und Vorwissen

E. F.: 14Wir hier können natürlich von unserem Vorwissen nicht absehen. Wir wissen, wie der Strich zu Stande kam und daß er in sich seine Konstruktionsrationalität enthält. Mit oder ohne dieses Vorwissen, man kann so lange hinsehen, wie es nur möglich ist, man wird das Konstruktionsprinzip nicht heraussehen.
Selbst wenn man den Strich selbst gezeichnet hat, selbst dann transvisualisiert er sich nicht zu einer Linie in einem System. Er bleibt ein vereinzelter Strich an indefiniter Stelle.
Das einzige, was der Strich durch das Vorwissen erhält, ist eine zusätzliche Spannung, da ich ausgehend und motiviert von meinem Wissen, permanent kognitiv und visuell mit ihm ruckele und zuckele, um ihn in die gewußte Ordnung einzugliedern, nicht zuletzt, um mir selbst mein eigenes Wissen auch optisch einsichtig zu machen.
Sollte es gegen alle Erwartungen dennoch jemandem gelingen, den einzelnen Strich im System der Konstruktionsprinzipien auch zu sehen (und nicht nur zu wissen), so zerstört er dessen visuelle Existenz und transformiert ihn zur Darstellung eines Textes.

2. Wahrnehmung und Verbalisierung

E. F.: 15Ich werde nun verbalisieren, was ich sehe und vielleicht können Sie mir dabei in Absehung von Ihrem Vorwissen folgen.

Formate

E. F.: 16Das Bild ist verhältnismäßig klein, es gleicht einem kleinen Tafelbild oder einer Ikone. Was bewirkt das optisch?
Ich kann das Bild völlig übersehen, da mein optisches Wahrnehmungsfeld weitaus größer ist als das Bild. Ich stehe ihm gegenüber, habe es als Gegenstand und bleibe in Distanz; ich werde nicht - um ein gegenüberliegendes Extrem zu nennen: wie bei Barnet Newman oder etwa Mark Rothko – völlig von dem Bild umfangen und in es integriert.
Als Quadrat ist es eine – oder besser gesagt neben dem Kreis, die - geometrische Grundform, die sich aus einer biomorphen Naturwelt und in einer durch Funktionen komplex geformten technischen Kulturwelt am stärksten hervorhebt.
Das quadratische Format eines Bildes ist auch selten Ergebnis einer in ihr dargestellten Bildwelt.
Es bildet also zu seiner Außenwelt und zu seiner Innenwelt eine autonome Form.

Materialität der Bildfläche

E. F.: 17Die Bildfläche besteht aus weißem Karton. Was zeigt das?
Der Karton stützt die geometrische Identität des Bildes und dessen Autonomie. Es ist jedoch eine Autonomie, die sich nicht aus einem Gegenstand bestimmt, etwa in der Selbständigkeit eines massiven Gegenstandes aus Blei oder aus Beton, der insofern autonom wäre, als er sich als singulärer Gegenstand gegen konkrete physikalische Einwirkungen von außen beständig erweist. Die Autonomie des weißen Papiers besteht in der prinzipiellen Andersheit, in der Konstitution einer autonomen Realität, die eine eigene zur Alltagsrealität autonome Rationalität hat.
Das Papier ist stumpf, es reflektiert somit keine Lichtquellen des Außenraumes, den ich also nicht im Papier miterfahre. Das stumpfe Papier entwirft mir eine ausgegrenzte homogene Eigen-Räumlichkeit.

Materialität des Strichs

E. F.: 18Die Linie ist ein zarter Bleistiftstrich. Sie wirkt in gewisser Weise als Gegenstand auf einem Bildfeld. Allerdings ist die Gegenständlichkeit des Striches minimalisiert.
Um das zu erläutern, habe ich einmal einige Alternativen zu dem Strich anfertigen lassen, die ich Ihnen hier zeige.

 

 

 

Bild 5: Bild mit weichem Bleistiftstrich

 

 

Bild 6: Bild mit dickem Tuschestrich

E. F.: 19Der Tuschestrich grenzt sich klar zum Umfeld ab. Sein Sein im Gegensatz zum Nichtsein der Umgebung ist eindeutig. Beim Bleistiftstrich ist die Ausgrenzung nicht so eindeutig; an einzelnen Stellen des Strichs wird er etwas dünner, punktuelle Aussetzer lassen die weiße Papierfläche durchscheinen. Zudem glänzt das Graphit (oder der Graphitersatz) des Bleistiftes, was sein natürliches Grau ins Weiße transformiert, was seine Dinglichkeit im Gegensatz zum Umfeld reduziert. Ein Bleistiftstrich wirkt tendenziell eher als Verdichtung der Fläche, was ihn auch mehr dazu eignet, in Interaktion mit dem Papier Körperlichkeit und Volumen zu entwerfen.
Ein (zarter) Bleistiftstrich modelliert die weiße Fläche wie eine pastöse Haut.

Verlauf des Striches

E. F.: 20Der Strich verläuft nicht in einer simplen Ordnung, etwa parallel zu einer Kante oder diagonal. Es scheint so, als würde er aber auch nicht völlig frei verlaufen, denn wenn ich ihn nach beiden Seiten verlängere, so schneidet er die untere rechte Kante in dem gleichen Abstand von der rechten Ecke, wie er die obere von der linken Ecke schneidet.
Die Linie scheint an ihrem oberen Ende nach rechts und nach oben zu ziehen; am unteren Ende nach unten und nach links.
Die Linie liegt nicht in der Mitte des Bildes, sondern sie ist nach unten versetzt. Es gibt damit ein schwereres und ein leichteres Feld; das wiederum transformiert die Bildfläche in einen Bildraum. Die Linie selbst beteiligt sich nicht an der Konstruktion des Raums. Würde sie von links unten nach rechts oben verlaufen, so könnte sie als Fluchtlinie gelesen werden und würde insofern einen Raum dimensionieren. In ihrem jetzigen Verlauf wirkt sie der traditionellen Gestaltung eines Raums und der traditionellen Situierung eines Fluchtpunktes (im rechten oberen Teil eines Bildes) entgegen.
Durch ihre Lage im Bildfeld bewirkt die Linie eine Verräumlichung der Bildfläche; durch ihren Verlauf und durch ihre Materialität arbeitet sie auf eine Visualisierung des Bildes als Bildfläche hin.

D. Bildwelt, Lebenswelt und Sprachwelt

1. Bildwelt und Lebenswelt

E. F.: 21Sol LeWitt sagt im Titel seines Bildes, daß er den Mittelpunkt der ‘PAGE’ nimmt. Damit dürfte also das Blatt ursprünglich in einem Zeichenblock o.ä. fixiert gewesen sein.
Eine ‘PAGE’ hat ein direktes Davor und ein direktes Danach. Der Inhalt einer Seite steht immer im Zusammenhang mit dem Kontext. Das Blatt an der Wand ist isoliert.
Ein Blatt, das Teil eines Blockes ist und auf dem Tisch liegt und eines, das an der Wand hängt, unterscheidet sich in seiner Raumhaltigkeit und in seiner Distanz zum Betrachter.
Es gibt Unterschiede zwischen dem Umfeld Tisch und dem Umfeld Wand. Was an der Wand ‘oben’ ist, ist auf dem Tisch ‘weiter von mir entfernt’, also ‘hinten’; was an der Wand ‘unten’ ist, ist auf dem Tisch ‘vorn’.
Der fiktive Raum in einem Bild ist, wenn es an der Wand hängt, tiefer als wenn es auf dem Tisch liegt.
Ich bin dem Bild näher, in der Regel ist mein Gesicht 20 - 30 cm entfernt. Hängt es an der Wand (in einem Museum) werde ich mich nur kurz so nah dem Bild nähern können.
Aus der größeren Distanz des Betrachtens in einem Museum resultiert jeweils eine unterschiedliche Intensität und Genauigkeit der Wahrnehmung; damit ändert sich die Identität des Bildes.
Letztlich bestimmt das Umfeld das Werk ebenso, wie dessen Materialität.. Die Existenz eines Umfeldes kann prinzipiell nicht infrage gestellt werden, solange Menschen mit dem Werk interagieren. Ein spezifisches Umfeld kann nur durch ein anderes ersetzt werden. Man kann das Umfeld nicht beseitigen, wenn man das Werk ins Museum gibt, genausowenig, wie man im 19. Jahrhundert einen Dom durch Freilegung aus dem Handlungsfeld der Städter ausgrenzen konnte; man erzeugt ein neues Handlungsfeld, aus dem heraus der ästhetische Gegenstand seine Identität erhält.

22Ich habe Ihnen jetzt die ganze Zeit dieses Dia gezeigt und gesagt, es handele sich um Sol LeWitts Bild ‘A LINE...’ Das ist aber nicht wahr, denn Sie sehen hier ein Dia, nicht ein Bild.

E. F. holt das Original und präsentiert es. Das Licht im Vortragsraum wird angemacht.

E. F.: 23Was macht den Unterschied zwischen beiden aus?
Ich möchte nur drei Aspekte (Größe, Materialität und lebensweltliche Qualität) herausstellen.

- Größe

E. F.: 24Bei einem Kunstwerk wird durch die immense Vergrößerung bei der Diaprojektion das (Bild)Objekt in einen Raum umgewandelt. Der Betrachter steht nicht mehr vor dem Werk, sondern ist im Werk.
In der Architektur passiert in gewisser Hinsicht das Gegenteil, der Betrachter wird aus dem Werk vertrieben.
Das möchte ich noch gesondert begründen: bei der Architektur muß man in der Regel mehrere Dias von einem Gebäude zeigen, um es komplett zu sehen; zudem kann man Innenräume oder die Ordnung der Räume nicht fotografieren, sondern muß Zeichnungen oder Grundrisse zeigen.
Bei mehreren Dias wechselt natürlich immer der Standort des Fotografen, der selbst die Standpunkte nacheinander erschlossen hat und sich auf seinen Wegen immer zum Gebäude verortet, und somit um die räumlichen Zusammenhänge seiner aufeinanderfolgenden Fotos weiß.
Der Betrachter sieht dann die Fotos hintereinander, bleibt aber am immer gleichen Ort sitzen. Er kennt nicht den Zwischenraum, nicht die sinnliche Fülle und nicht die intermittierende Ordnung zwischen zwei Schnappschüssen. Er hat somit keine Erfahrung von der Kontinuität des Objekts und des Raumes. Diese, die Kontinuität seines Ortes, die Logik seines Raumes resultiert aus dem Hörsaal, in dem einzelne Fotos gezeigt werden.
Deshalb verliert ein Diabetrachter die Bindung an die Architektur.

- Materialität

E. F.: 25Das Werk, ob Kunst- oder Architekturwerk, verliert seine Materialität. Zwar sehe ich auch bei der direkten Betrachtung eines Werkes oder eines Gebäudes nur Farbreflektionen, hier handelt es sich aber um Körperfarben (deren Addition schwarz ergibt) während es sich bei einem Dia um Lichtfarben handelt (deren Addition weiß ergibt) Die neue Lichtidentität eines Dias gleicht letztlich immer einem gotischen Glasfenster. Die Materialität ist diaphan, das Sein ist Licht.

- Lebensweltliche Qualitäten

E. F.: 26Lassen Sie mich etwas über das Licht beim kunsthistorischen Vortrag sagen.
Wenn wir ein Dia betrachten, sitzen wir im abgedunkelten Raum, vorrangig, um das Dia besser zu sehen. Das Dia leuchtet und der Vortragende wird beleuchtet. Durch Verdunkelung der Dinge geht zugleich ein Ausschluß meiner alltäglichen Lebenswelt einher; durch Verdunkelung der Mitzuhörer sind diese mir zwar noch bewußt aber nicht mehr präsent, d. h. ich sehe nicht mehr, wie sie auf das Bild reagieren und es rezipieren. Zugleich wird es schwierig, die physiognomische Reaktion der anderen Zuhörer auf meinen Vortrag wahrzunehmen.
Ich werde in der Rezeption des isolierten Werkes auf mich gestellt. Letztlich und pointiert gesagt, produziert diese Art der Vorstellung von Kunst und Architektur die außeralltägliche Autonomie eines Werkes und die A-Sozialität und Individualität des Rezipienten.
Was Benjamin über die Zerstörung der Aura durch den Film gesagt hat, gilt auch hier: das Werk verliert durch seine Transformation zu einem reproduzierbaren und also überall zu zeigenden Dia seinen Ort, es verliert seine Integration in lebensweltliche Zusammenhänge.

27Ich möchte nun aber nicht den Untergang des Abendlandes und einen grundsätzlichen Verlust des Authentischen und Autochthonen beschwören .
Sie haben mit Legitimität das Dia für das Bild nehmen können, weil Sie sich an die vorgegebene Wirklichkeit erinnern und weil Sie sie imaginieren können, also weil sie re-konstruieren.
Wahrnehmung und Erkenntnis sind – wie ich eingangs sagte – Re-Konstruktionen der Wirklichkeit, das Konstruierte wird - wenn es denn richtig geht - immer rückgebunden und an der Wirklichkeit evaluiert. Die Medialisierung und Fiktionalisierung des Authentischen ist sinnvoll, so lange wie es Konstruktions- und Re-Konstruktionsmöglichkeiten ausweitet und die medialen Transzendentalien bewußt werden.
Ich kann die lebensweltliche Situation auch verändern:
- Ich kann das Manuskript verlassen, mich aktuell dem Bild zuwenden und in Sprache fassen, was ich sehe.

28E. F. wendet sich dem Bild zu (Rücken zum Publikum) und redet über das Hell-Dunkel auf der Papieroberfläche..............."

E. F.: 29Dabei sind Sie aber ausgeschlossen. Warum rede ich dann? Reden macht doch nur Sinn, um sich mitzuteilen.
Ich könnte aber auch zu Ihnen in die Gruppe kommen.

29E. F. verläßt das Rednerpult und stellt sich zwischen die Zuhörer.

E. F.: 30Es braucht sozial einen Moment, um mich aus meiner vorherigen herausgehobenen Position nunmehr in die Gruppe als gleichgewichtiges Mitglied zu integrieren.
Rede ich nun weiter über das Bild, so mache ich eine komische Figur. Meine durch meine ehemals herausgehobene Position am Rednerpult legitimierte Ansprache an Sie wird nunmehr zu einem unsere aufs Gespräch orientierte Gleichheit zerstörenden Monolog.
Sie sitzen, während ich stehend spreche.
Wenn ich zu Ihnen herübergehe und weiterspreche, müßte ich mich wegen der sozialen Gleichheit setzen.
Wenn wir alle aber sitzen, hängt das Bild zu hoch. Man könnte es auf unseren Augpunkt herunterhängen. Das sähe komisch aus, weil jeder, der den Raum betritt, dann auf das Bild herunterblickt.
Wenn wir das Bild aber dennoch herunterhängen, so müßten wir uns in einem Kreis darum herum setzen, denn wir könnten uns beim Sprechen ansonsten nicht ansehen. Das Bild aber wäre dann Mitglied der Gruppe. Dies widerspricht unserem üblichen Verständnis von Kunst.
Also stehen wir alle auf und stellen uns um das Bild.

2. Bildwelt und Sprachwelt

E. F.: 31Wir könnten uns einfach zusammen das Bild ansehen, ohne zu sprechen.

...

...

32E. F. schweigt ca. 3 min.

- Sprechen als Weise der Wahrnehmung

E. F.: 33Ich habe das Bild nicht beschrieben, sondern meine Erfahrungen verbalisiert. Wenn ich sie aber nicht verbalisiert hätte, hätte ich sie gar nicht gemacht. Die Erfahrung entsteht in der Verbalisierung.
Sogar wenn ich allein in meinem Arbeitszimmer vor einer Reproduktion eines Bildes sitze und über es schreibe, interagiere ich sozial. Ich spreche mit mir vor dem Bild, dieses Sprechen sucht von sich aus einen Dritten, der zuhört oder - besser gesagt - anhört. ‚Anhören‘ im Unterschied zum ‚Zuhören‘ enthält eine gewisse Zustimmung, Akzeptanz des Gesagten, Kommunikation. Insofern ist es ein Rudiment eines Gespräches.

-Sprechen als soziale Interaktion

E. F.: 34 Es gibt verbindliche Regeln des Vortragens, der Referent darf eine gewisse Zeit ununterbrochen über das Bild reden. Es gibt dann eine Diskussion, bei der sich das Publikum allein auf das vom Referenten Gesagte beziehen und keine alternative Interpretation des Bildes vortragen darf. Es gibt also keinen gemeinsamen Diskurs mit dem Bild, vielleicht einen mit dem Referenten, vielleicht dabei auch über das Bild.

Sozialpsychologisch oder sozialräumlich gesehen bilden Sie eine Gruppe Gleicher, die ihre Einheit und Gleichheit aus der Gegenüberstellung zu Bild und Redner generieren.Wichtig für die Definition von Bild ist, daß während des Vortrages allein der Referent redet, das Publikum nur zuhört. Das Bild redet nicht direkt, sondern durch den Referenten, der aber das Bild, in dem Moment, in dem er (zum Publikum gerichtet) redet, nicht sieht.

Das Publikum blickt auf das Bild, geht aber keinen Diskurs mit ihm ein, ‚hört‘ nicht ihm zu, sondern dem Referenten.
Sprache und Bild werden systematisch voneinander getrennt, um dann im Nachhinein wieder aufeinander bezogen zu werden. Die Art des Vortrages konstituiert für das Publikum ein Bild des reinen Blickens, für den Vortragenden ein Bild der reinen Sprache.

-Sprache als Verräumlichung der Gegenwart

E. F.: 35Eigentlich spricht der Vortragende gar nicht über das Bild, das in Präsenz neben ihm (aus der Sicht der Zuhörer) hängt, sondern über das Bild, das er vor Tagen vor Augen hatte, als er den Text schrieb.
Sie sehen jetzt das Bild und gleichzeitig hören Sie mich vom Bild sprechen. Was Sie aber sprechen hören, ist Vergangenheit, denn ich lese ab, was ich vor einiger Zeit geschrieben habe.
Ich sah das Bild zuerst in den 80er Jahren, zur Vorbereitung des Vortrages habe ich es im vergangenen Monat immer wieder angesehen und über es geschrieben. Zuletzt habe ich alle Textabschnitte und das heißt Verbalisierungen und Verständnisse homogenisiert. Ich verbalisierte das Bild in der Vergangenheit und spreche jetzt. Sie sehen es jetzt.
Die Rationalisierung des zu Worten und Kognitionen gekommenen Bildes oder auch der Diskurs über ein Bild dehnt das punktförmige Sein, das durch einen Blick entsteht, aus und verschafft dem Bildes eine zeitliche und räumliche Existenz.

3. Nachbemerkung: Über den 'Werkbegriff'

36Was ist nun die Identität des Bildes?
Bleibe ich bei der ersten Wahrnehmung und bei der zuerst erkannten Identität von Bild und Text und gebe mich damit zufrieden, so sind weder Bild noch Text, noch beide zusammen Kunst. Es handelt sich beim Einzelnen um zwei Banalitäten; zusammen um die Verdoppelung oder besser die Tautologisierung der Banalität. Das Werk ist gescheitert.

37Erst wenn ich Bild und Titel aufeinander beziehe, wenn ich einen Identitätsanspruch unterstelle, meinen Anspruch bedient sehe, ihn dennoch prüfe, Disidentitäten feststelle und in einen Prozeß, einen Arbeitsprozeß der Konfrontation von Bild und Text bringe, dann entsteht das Werk als Kunstwerk. Erst das Aufdecken von Möglichkeiten füllt den Rahmen.
‘Werk’ ist kein sinnliches Ding, nicht mehr das körperhafte, sachliche Blatt Papier an der Wand eines Museums, sondern ein Gegenfluidum (ich möchte nicht Gegenstand sagen) eines kognitiven Arbeitsprozesses.
‚Werk‘ ist der sich ständig selbst überholende Zwischenstand eines Diskurses von Ding und Denken im alltäglichen sozialen Raum.

38Was hat das nun mit Architektur zu tun?
Schon bei einem zweidimensionalen Bild zeigt sich, daß dessen Identität aus Aktion, Interaktion, Denken und Sprechen besteht. Es gibt kein abspiegelndes Sehen und keine dann auf diese pure Wahrnehmung aufgesattelte rein wissenschaftlslogische oder technische Versprachlichung. Das ist ein Mythos, der gezielt und aktiv weite Teile der Existenz des Bildes ausgrenzt.

Es gibt keine rein sachliche Architektur, die unabhängig von einer Lebenswelt und ohne praktische und kognitive Aneignung existiert.

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