Thema
2. Jg., Heft 2
November 1997

Architektur - Sprache

Interpretation

Alberto
Pérez-Gómez

(Montréal)

Hermeneutik als architektonischer Diskurs

In diesem Artikel wird argumentiert, daß der Umgang mit Geschichte in der Architekturtheorie neu bedacht werden muß. Nach zwei Jahrhunderten gescheiterter Extrapolation von wissenschaftlichen Methoden und Rahmengerüsten auf Architektur, wird dafür plädiert, radikal zu überdenken, wie wir "richtig über Handlungen sprechen".
Um die Geschichte als Theorie zu verstehen, ist es wichtig, damit zu beginnen, die objektivierende historische Betrachtungsweisen zu kritisieren. Wir müssen uns daran erinnern, was der Geschichte als Disziplin eigen ist, nämlich daß sie in unserer menschlichen Fähigkeit wurzelt, Geschichten zu erzählen und damit "eine Wahrheit" zu artikulieren.

Claus Dreyer

(Detmold)

Über das Interpretieren von Architektur

Wenn nach der "Bedeutung" von Architektur gefragt wird, ist eine Interpretation als sprachliche Handlung unausweichlich: Architektur kann ohne sie nicht verstanden und "begriffen" werden.
Die Entstehung eines Bedeutungskanons wird an den Kommentaren zu Gehrys Guggeheim Museum in Bilbao dargestellt.

Aleksej K.
Solovev

(Moskau)

Die künstlerische Architektursprache in der Epoche des Konstruktivismus in Rußland und ihr gegenwärtiges Verständnis

Die Konzeption des Funktionalismus, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, hatte in der Anerkennung der Abhängigkeit der Form von der Funktion ihre Grundlage. Louis Sullivan, der Ideologe der "Chicagoer Schule" in den USA, prägte dafür den treffenden Aphorismus "Die Form folgt der Funktion". Die klassische Triade Vitruvs - Nutzen - Beständigkeit - Schönheit - wurde durch eine lineare Abhängigkeit in eine Richtung ersetzt - von der Funktion zur Form.
"Sachlichkeit" und "Zielgerichtetheit" sind grundlegende Merkmale der funktionalistischen Architektur. Die Einfachheit der Form hatte ebenfalls eine bestimmte bildhafte Bedeutung. Sie wurde zum Verbindungsglied zwischen Funktionalismus und einer der Tendenzen der europäischen Kunstkultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Durch die Beschreibung eines der Architekturdenkmale der Epoche des Konstruktivismus in Rußland - Kommune Hauses der Studenten in der Donskoj-Gasse in Moskau (1930, Architekt Nikolaev) -wird einerseits der Versuch unternommen, das architektonische Prinzip der Epoche des Konstruktivismus verständlich zu machen, indem ihre Verbindung mit den sozialen Ideen jener Zeit sowohl vom Standpunkt der Funktionen als auch vom Standpunkt der konstruktiven Verkörperung aufgezeigt wird.
Andererseits wurde ebenfalls darauf verwiesen, wie die linguistische Verkörperung des Bildes - oder das Bild selbst als solches - Einfluß ausüben kann auf die Entwicklung anderer Elemente der Kultur und ebenso auf rein utilitäre Aufgaben, wie zum Beispiel auf die gegenwärtige Nutzung dieses Architekturdenkmals.

Svetozar
Zavarihin

(St.-Petersburg)

 Die Architektur: Sprache des Monologs und Dialogs

Die wissenschaftliche Erkenntnis der Architektur hinsichtlich ihres informatorisch-kommunikativen Potentials macht es erforderlich, zwischen der Sprache der Architektur im eigentlichen Sinne ( mittels derer sie mit den Menschen "spricht" ) und der Sprache für die Erörterung der Architektur.
Diese zwei miteinander verbundenen, aber dennoch verschiedener Phänomene wurden hervorgebracht durch den ewigen Dialog zwische Mensch und gegenständiglich-räumlicher Umwelt, die durch ihn geschaffen wird zu unterscheiden.
Die Sprache der Architektur im eigentlichen Sinne hat ihre völlige materielle Grundlage in Gestalt des Objekts selbst. Sie existiert aber zugleich nicht außerhalb des wahrnehmenden Sujets (des Rezipienten). Das ist die wortlose, nichtverbale Sprache der Gefühle, der emotionalen Reaktionen, der Assoziationen der Betrachter, der bildhaften Reminiszenzen.
Aber wenn sie auch diesbezüglich subjektiv ist, so ist sie doch zugleich bedingt durch geometrische, physische, kompositionelle und städtebauliche Parameter der architektonischen Form und ebenso durch die vorherrschenden axiologischen Richtlinien der Entstehungszeit des Objekts und der Zeit seiner Wahrnehmung.
Die Sprache der Erörterung der Architektur hat eine verbale Grundlage. Deshalb ist das wissenschaftliche Interesse nicht auf ihre strukturellen Besonderheiten gerichtet (linguistisch gesehen, entwickelt sie sich im Rahmen einer konkreten nationalen Kultur und deren Schrifttum, der Literatur und Publizistik), sondern auf die Typologie von Sinneinheiten, auf ihre Poetik, auf das System axiologischer Orientierungen, auf genrespezifische Formen und so weiter.

"Chiasmus"

Eduard Führ

(Cottbus)

Werk-Räume

Anhand eines Bildes von Sol Le Witt wird der konkrete Prozeß der Auseinandersetzung zwischen Text und Bild bzw. zwischen Sprechen und Sehen in phänomenologischer Weise analysiert.

Maria Peters

(Hamburg)

"Erschriebene Grenz-Gänge":
Raumwahrnehmungen und ihre sprachliche Umsetzung.

Das Verhältnis von Architekturerfahrung und Sprache soll am Beispiel einer experimentellen Auseinandersetzung mit einer künstlerischen Raum-Klang-Installation näher betrachtet werden. Akustische, visuelle und bewegungsorientierte Raumwahrnehmungen und ihre schriftliche Vergegenwärtigung können zu einer veränderten Ich-Präsenz und einer wirklichkeitsverwandelnden Sicht auf die Mitwelt führen. Es entsteht dabei eine Sprache, die nicht nur im Verstehen und Mitteilen aufgeht, sondern sich jenseits von Kommunikationsbemühungen in ihrem 'ästhetischen' Ausdruck entfaltet. Sprache wird zum Instrument, um Wahrnehmungsdifferenzen zu formulieren; sie kann aber auch in ihrer Materialität Verschiebungen und Verdichtungen hervorbringen, die einen nicht vorhersagbaren Sinnausdruck entstehen lassen.
Ausgehend von phänomenologischen Überlegungen soll auf die Übergängigkeit und Veränderbarkeit der Beziehungen zwischen wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Raum hingewiesen werden, die auch über den Kontext der Kunst hinaus von Bedeutung sind. Mein Untersuchungsmaterial sind Texte, die geschriebene 'Grenz-Gänge' in Form von medialen Transformationen zwischen Hören, Sehen, Gehen, Bewegen, Empfinden, Denken, Schreiben und Lesen des Geschriebenen sichtbar machen.

 

Alltagssprache

Anette Sommer

(Cottbus)

Architektensprache - Nutzersprache -
Dolmetscher in der Planung

In diesem Beitrag möchte ich mich mit charakteristischen Sprachunterschieden und damit einhergehenden Verständigungsschwierigkeiten zwischen Architekten und alltäglichen Nutzern von Architektur beschäftigen.
Kann man Nutzersprache, die sich auf Aneignung bezieht, in Architektensprache, die sich auf Konzepte bezieht, übersetzen? Kann man zwischen diesen beiden Sprachgruppen dolmetschen?
Überlegungen zu diesen Fragen konnten im Rahmen eines dialogorientierten Planungsverfahrens empirisch untersucht werden.
Diskutiert wird neben den Möglichkeiten des "Dolmetschens" auch die Frage, warum man sich überhaupt mit diesen Verständigungsschwierigkeiten als Architekt bzw. Architektin auseinandersetzen soll, wenn man z.B. keine partizipativen Planungsverfahren einsetzt.

Alena I. Gella

(Charkow)

Architektur als Kommunikation

Untersuchungen zur Interaktion von Mensch und gegenständlich-räumlicher Umwelt haben gezeigt, daß es notwendig ist, die Umweltnutzer (Gemeinden, Bürger, die "Person von der Straße") in den Entwurfsprozeß einzubeziehen. C. Alexander, R. Venturi und I. Friedman z.B. haben sich dazu mit verschiedenen Varianten auseinandergesetzt.
Sprache kommt in der Architektur auf zwei Ebenen vor: als verbale Sprache und als Stereotypen visueller Wahrnehmung. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet kann der Architekt die Kommunikation mit sämtlichen Betroffenen eines Entwurfsprojekts unterstützen. Die Vertrautheit mit visueller Wahrnehmung bildet dabei die Grundlage für eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Aspekten eines Entwurfs. Der Architekt kann somit in einer Art Servicefunktion gesehen werden, da er den Inhalten solcher Kommunikationsprozesse technisch und ästhetisch eine Gestalt gibt.

Achim Hahn

(Bernburg)

Über das Beschreiben der Wohndinge

In meinem Vortrag geht es um die Veranschaulichung zweier Ausdrücke: Beschreibung und Wohndinge. Beide werden eingerahmt von der Pragmatik des Wohnens. Unter "Pragmatik des Wohnens" verstehe ich die Perspektive, die das Wohnen als Folge des Wohnens, also als Wohnerfahrung auffaßt. Ich möchte plausibel machen, daß Beschreibung keine laienhafte Wiedergabe von Realität ist, die wissenschaftlich verbessert werden kann. Vielmehr begreife ich Beschreibung als eine Mitteilung, die dem anderen zeigt, wie "hier" und "in diesem Fall" mit den Wohndingen umgegangen wird und was sie daraufhin bedeuten.
Beschreibungen sind der sprachliche Ausdruck von "vor Ort" erprobten Handlungsregeln.
Der Erfahrungswissenschaftler hat keinen privilegierten Zugang zu den Wohndingen jenseits solcher Mitteilungen. Es gibt keinen Bruch zwischen der "Erkenntnis" eines Dings und seinem Gebrauch. Und die Wohndinge sind schlicht das, wie sie beschrieben werden: Gegenstände gewöhnlicher Erfahrung und vertrauten Umgangs.

Buchstäblichkeit und Körperlichkeit

Kristine Patz

(Berlin)

Die littera Pythagorae in der Architektur

Bis in das 17. Jh. hinein galt die Vorstellung, Pythagoras habe das Y in seiner Doppelfunktion als Buchstabe und Signum zugleich erfunden. Wenn ich von dem Buchstaben Y als einem Signum spreche, so ist damit weder der bloße Buchstabe noch eine zwar bedeutungstragende, aber gestaltunabhängige Chiffre, sondern allein die von der sichtbaren Gestalt des Buchstaben ermöglichte bedeutungsverschlüsselte Form gemeint, wie sie sich unter der Bezeichnung littera Pythagorae oder in deren Tradition erhalten und weiterentwickelt hat. Während der Schrift die Ähnlichkeit mit den Dingen verlorengegangen ist, besaß nach damaligen Vorstellungen einzig die hieroglyphische Bilderschrift diese Ähnlichkeit. Ihr wurde das pythagoreische Y zugeordnet, da es als Bild kraft seiner mimetischen Seite mit dem Gegenstand verbunden ist. Der Buchstabe Y war Zeichen für das menschliche Leben, das sich am Entscheidungspunkt gabelte zwischen Tugend und Laster oder heilsgeschichtlich zwischen Erlösung und Verdammnis. In der Form des Baumes verband sich das Y mit dessen Bedeutungen als Baum der Erkenntnis oder als Kreuzesstamm, und über die cornua (Hörner) des Baumes wie des Gabelkreuzes konnte das Y weiteren Formen: im Bauwesen wurden die Enden eines Bogens oder einer Lünette als Hörner bzw. corn(u)a bezeichnet, Bedeutung geben. Mein Vortrag wird sich mit dem Buchstaben Y befassen, den architektonischen, anthropomorphen und vegetabilen Nachbildungen dieses Zeichens und mit seinen Bedeutungen in ausgewählten Werken der Renaissance.

Valentin
Gorozhankin

(Charkow)

Sprache und Mythos in der Architektur

Die Architektur erforscht den Raum, der "real" wahrgenommen, aber "ideal" dargestellt wird. Ihre Geschichte ist überreich an Beispielen sakraler Symbole und Allegorien, die die architektonische Form über das Bauwerk stellen. Jedoch ist das mythisch-poetische Bewußtsein auf die "Form" und die "Gestaltung" gerichtet.
Die Entwicklung in der Architektur hat Linguistik durch Ästhetik ersetzt, indem Form und Gestaltung vom Ritual losgelöst wurden. Die "Form", ehemals Sache der Kultur, wird ein Produkt der Technologie. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch der Architektur kann man diesen technologischen Aspekt darin erkennen, daß der sinnlich erfahrbare Raum auf einen "Code" komprimiert wird, und lediglich Inhalte wie "Metapher" und "Symbol", losgelöst von sakraler Bedeutung, scheinen in der Lage, diese tropischen Bedingungen zu bewältigen. Die "Doppelkodierung", welche die Architektur mit dem Genre der Ironie bereichert hat, ist durch eine pradoxe Formenbildung entstanden. Indem die Postmoderne die Normen zerstörte, die zuvor die Qualität des traditionellen Sujets garantiert hatten, eröffnete sie die Möglichkeit, mit den Inhalten zu spielen. Die "Doppelkodierung" erwies sich als eine Methode, den Autor als Bildgestalter vom Helden als Akteur darin, zu trennen. In diesem Sinne ist der "Nutzer" eine Figur im Autorentext. Indem der Architekt die Möglichkeit des Genres aufzeigt, wendet er sich immer häufiger dramaturgischen Formen der Kommunikation zu. Mit der Entwicklung architektonischer Szenografie und Regieanweisung wird das literarische Paradigma durch das theatralische verdrängt und gibt auf diese Weise der Architektur den künstlerischen Raum zurück.

Christian Katti

(Berlin)

Buchstäblichkeit und Struktur zwischen Architektur und Urbanismus

Architektur, Sprache und Wissenschaft werden in diesem Beitrag nicht als Reihung aufgefaßt, sondern im Sinne eines komplexen Austauschverhältnisses. Dabei zeichnet sich ein Oppositionsverhältnis von drei herkömmlich auf dieses Austauschverhältnis bezogenen Disziplinen, nämlich Kunstgeschichte, Soziologie und Philosophie mit drei das Selbstverständnis dieses herkömmlichen Bezuges unterlaufenden Disziplinen ab, nämlich Semiotik, Diskursanalyse, Dekonstruktion. Exemplarisch wird die problematische Beziehung zwischen Architektur und Urbanismus vor diesem Szenarium entfaltet und auf eine doppelte Rolle des Buchstäblichen in der Architektur erweitert. Architektur und Urbanismus formieren diese Doppelrolle dort, wo sie sich von einem geläufigen »Text-« bzw. »Sprachbegriff« innerhalb beider Bereiche in einer problematischen Flucht aus der Kategorie des Buchstäblichen aneinander brechen. Es wird versucht diesen Komplex theoretisch zu umreißen und anhand weniger Beispiele die Rolle des Buchstäblichen in der Architektur zu problematisieren.

Susanne
Hauser

(Berlin)

Architektur, Körper, Sprache

In meinem Vortrag möchte über Beziehungen sprechen, die Architektur, Körper und Sprache miteinander in Entwurfsprozessen eingehen können. Ausgangspunkt ist eine Schilderung, die die beiden Architekten der COOP Himmelblau von ihrem Prozeß der Ideenfindung und -weiterentwicklung gegeben haben. Diese Schilderung möchte ich in drei Hinsichten kommentieren und in einige historische Kontexte stellen. Der erste Kommentar betrifft die Frage, wer spricht im Entwurfsprozeß und was macht dabei der Körper? Der zweite Kommentar streift die Frage, wie es um sprechfähige, schreibende, andere signifizierende und beschriebene Körper in der Geschichte der Architekturtheorie bestellt ist. Der dritte Kommentar ist ein Versuch über Eigenarten, die die aktuelle Beziehung von Architektur, Körper und Sprache kennzeichnen.

Die abgedruckten Texte sind für die nächsten 6 Monate Diskursangebote. Anmerkungen, Anregungen und Kritiken durch Leser können zu den jeweiligen Texten geäußert werden. Die Texte werden dann gegebenenfalls in den 6 Monaten von den Autoren überarbeitet. Am Ende des Diskurszeitraums wird der Artikel dann eingefroren, ist aber weiter zugänglich.

Die Redaktion behält sich alle Rechte, einschließlich der Übersetzung und der fotomechanischen Wiedergabe vor. Auszugsweiser Nachdruck mit Quellenangabe: (Wolkenkuckucksheim,Cloud-Cuckoo-Land,vozdushnyj zamok >/theoriederarchitektur/Wolke/) ist gestattet, sofern die Redaktion davon informiert wird.


weitere Hefte Heft 1/96: Architektur im Zwischenreich von Kunst und Alltag
Heft 1/97: Modernität der Architektur. Eine kritische Würdigung

 

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