Thema
3. Jg., Heft
2
Juni 1998

Gerd Achenbach

Bauen Wohnen Nachdenken

1Sich als Philosoph zu Fragen der Architektur zu äußern,1 ist unanstößig wohl nur möglich unter der Voraussetzung, daß sich der Fachfremde dabei auf eine Art Naivitätsprivileg beruft. Und der philosophische Hang zum Generaldilettantismus wird entschuldbar nur durch das vorangestellte Bekenntnis, vom Genre selbst nichts zu verstehen – außer allenfalls, was eben ein Laie davon versteht.

Fachleute allerdings werden nicht geneigt sein, ein solches Ungefähr „Verstehen" zu nennen.

Im besonderen Fall jedoch darf ich meine Einmischung damit rechtfertigen, daß es gar nicht meine Absicht ist, mich in direkter Weise zur Architektur zu äußern. Vielmehr möchte ich einige Überlegungen zu Fragen riskieren, die als externe und interne Arbeitsbedingungen den Architekten und Städtebauer gewöhnlich höchstens beiläufig und jedenfalls nicht als Experten beschäftigen.

Was sind zunächst solche externen Bedingungen?

Nun, beispielsweise – und heute unübersehbar –, ökonomische Voraussetzungen: So lassen gewisse Bautypen verläßlichere Rückschlüsse auf die Bodenpreise als auf den Stilwillen der verantwortlichen Architekten zu. Wenn im Bergisch Gladbacher Stadtteil Refrath bis zu 780 DM für den Quadratmeter Baugrund erzielt werden, macht dies einen bestimmten Haustyp wahrscheinlich, das herkömmliche Einfamilienhaus hingegen unwahrscheinlich. Und wenn in Refrath die Gärten schrumpfen – tendenziell beschränken sie sich auf die begrünte Garageneinfahrt, während der Rest des ehemals angelegten Vorgartens dem Einstellplatz für den Zweitwagen weicht –, so wird aus dieser Beobachtung nicht einfach ein abnehmendes Bedürfnis der Menschen nach Ziergartenflächen und Blumenschmuck zu schließen sein. Solche ökonomischen Diktate, die selbstverständlich unerbittlicher noch die Gestaltung der Stadt- und Wirtschaftszentren mitbestimmen, fallen allerdings sofort ins Auge; ihre weitere Erörterung mag darum überflüssig sein.

2Um also eine weitere, externe Voraussetzung zu nennen, an die Architektur und Städtebau gebunden sind, so lassen sich beispielsweise „geistige" Verfassungen und politische Überzeugungslagen aus den repräsentativen Monumentalbauten erschließen, die als museale Dokumente aus den Ären „Väterchen Stalins", des „Führers" oder Ceausescus zurückgeblieben sind. Wer das „Haus des Volkes", das Meister Ceausescu für sich und seine politisch mitengagierte Gemahlin errichten ließ, mit Downingstreet 10 vergleicht, kann durchaus erhebliche Rückschlüsse auf die grundverschiedenen Verfassungen jener beiden politischen Systeme ziehen. Und Generalbauinspekteur Albert Speer hätte im United Kingdom jedenfalls nicht die Chance erhalten, seine imperialen Architekturträume zu realisieren: sein ausgreifender Gestaltungswille war an jenes Sonderregiment gebunden, das seinerzeit im Namen des Dritten Deutschen Reiches die Herrschaft innehatte.
Natürlich gilt dies alles ebenso für die Gestalt unserer Innenstädte und Geschäftsmeilen: Wer aufmerksam durch die „Hohe Straße" in Köln flaniert, über die „Königsallee" in Düsseldorf oder die „Kaufinger Straße" in München, dem könnte das Studium dieser Kaufhaus- und Kettenfluchten womöglich gründlichere Kenntnisse einer wirtschaftlich geprägten Lebensverfassung erschließen, als Einsichten in rein architektonische Gestaltungspräferenzen.
Soweit einige externe „Randbedingungen" der Architektur, die mit wenigen plakativen Beispielen nur angedeutet werden sollten. 2

3Was folgt aus solchen – soweit und bisher noch trivialen – Bemerkungen?

Ich denke dies: Der Architekt, der Städtebauer – etwa auch der Industriedesigner – müssen mehr verstehen, als dem unmittelbaren Bereich ihres Genres angehört, wenn sie verstehen wollen, was sie tun. Denn was sie tun, ist zum erheblichen Teil das, was sie tun müssen, oder: was sie nicht tun können, obwohl sie es wollten und – soviel allein an ihnen läge – auch zu tun vermöchten.
Nun ist die Einsicht, die Arbeit des Experten sei in externe Verhältnisse und ein Gemenge von Randbedingungen verwickelt – die sich entweder restriktiv oder anweisend einmischten –, vergleichsweise geläufig.
Heikler, auch weniger greifbar – zugleich sehr viel interessanter, weil weniger leicht zu entziffern –, sind hingegen die internen Bedingungen, die die Arbeit des Architekturfachmanns mitbestimmen: Voraussetzungen, die ihn in dieser oder jener Weise kreativ sein lassen, seine Einfälle leiten, seinen Geschmack prägen, seine Entscheidungen lenken, ihm seine Zustimmungen und Verwerfungen plausibel erscheinen lassen usw.

4Und damit bin ich beim Thema: Bauen, Wohnen, Nachdenken. Unter dieser Überschrift sollen vor allem solche internen Verfassungen der Architektur versuchsweise erörtert werden.

Die Formulierung des Titels, für die ich selbst die Verantwortung zu tragen habe, macht eine Vorbemerkung erforderlich: Die Reihung der drei Begriffe erinnert an den Titel des berühmten Vortrags, den Martin Heidegger 1951 im Rahmen des „Darmstädter Gesprächs" zum Thema „Mensch und Raum" gehalten hat. Seine Titelformulierung damals lautete: „Bauen Wohnen Denken".

Die nun von mir unüberhörbar vorgenommene Veränderung legt unzweideutig das Gewicht auf den ersatzweise gewählten Begriff des „Nachdenkens". Nachdenken statt Denken. Warum? Was habe ich mir dabei gedacht? – Ich werde als These voranstellen, was ich mit dieser Korrektur im Schilde führe:

Die innerste Geschichte, der wir alle angeschlossen sind, als deren Teilnehmer wir uns verstehen müssen, sofern wir uns verstehen wollen – diese innerste Geschichte ist dabei, die Epoche des Denkens abzuschließen und die Epoche des Nachdenkens einzuleiten. – Oder:

Wo einst das Denken an der Macht war, zieht jetzt – mit übrigens denkbar veränderten Machtansprüchen – Nachdenklichkeit ein. – Oder:

Die Vordenker verlieren an Reputation und Geltungsselbstverständlichkeit, nachdem sie zweihundert Jahre Gelegenheit hatten, ihr Regiment auszuüben – und sich dabei immer deutlicher zu erkennen gegeben haben –, das Nachdenken hingegen gewinnt an Zustimmung, wird mehr und mehr als unverzichtbar begriffen oder als das verstanden, „was not tut". – Schließlich:

Wie die moderne Architektur der Ausdruck des die Moderne bestimmenden Denkens war, so wird eine nach-moderne Architektur Ausdruck der Nachdenklichkeit sein. Wäre an einem Titel gelegen, ließe sich ihr der Name einer „meditativen Architektur" beilegen.

Das ist – vorangeschickt – die These, die ich zunächst mit einigen Winken der Sprache erläutern möchte, um auf diese Weise vorbereitend ihren Umfang und ihre Bedeutung verständlich zu machen.

5Wie sich das Denken zum Subjekttitel des Denkers substantivieren ließ, so das Vordenken zum Vordenker – und das ist belangvoll, wie wir gleich deutlicher sehen werden, weil wirklich das Vordenken, das voraus entwerfende, setzende, hinstellende, offensive, sich selbst verwirklichende Denken das Privileg des modernen Subjekts war, das sich als Eigentümer seines Denkens verstand und sich berufen dachte, die Welt sich anzueignen. Denken, grammatisch gesprochen ein transitives, „abzielendes" Verb oder Tätigkeitswort, steht in innerster Beziehung nicht zur Wirklichkeit, sondern zur Möglichkeit. Deutlich verrät dies das Adjektiv, das aus ihm gebildet wird: denkbar. Das Denkbare ist das Vorgestellte, das Mögliche. Und so stand das neuzeitliche Denken im Dienst der Vorstellungen, die das Mögliche eruieren. Denken – nach Kant – ist „Erfassen des Denkbaren". Ziel des Denkens war, den Umfang des Denkbaren oder Möglichen auszumitteln und zu erweitern, Grenzen hinauszuschieben. Sein Gesetz ist das der Transgression, Überschreitung, Überbietung, sein Impetus das Überholen. – Wie so oft, hat auch hier Novalis die kürzest denkbare Formel gefunden:

„Denken ist Wollen oder Wollen – Denken." 3

Aus dem Nachdenken hingegen ist ein vergleichbares Substantiv als Subjekttitel nicht zu gewinnen. Wer nachdenkt, ist nicht der „Nachdenker", sondern der Nachdenkliche.
Den Nachdenklichen aber sehen wir gewissermaßen etwas, was ist, was wurde, was sich bereits als Wirklichkeit zur Geltung bringen konnte, bedenken.
Während mithin der Nachdenkliche bedenkt und, wie es mit dem sehr schönen Vermächtnis einer alten sprachlichen Wendung heißt, eingedenk ist – der Gestus seines Denkens ist, sich einzulassen –, ist für den Vordenker wesenseigentümlich, daß er sich etwas ausdenkt. Diesen Zusammenhang sah schon Cicero: Die Leistung des Denkens sei das „Erfinden" als „Ausdenken (excogitatio) wahrer oder wahrscheinlicher Dinge, die eine Sache probabel machen".4

Während dem Nachdenklichen der Stoff des Denkens als Wahrnehmung und Erinnern zuwächst, entwirft der präskriptive Denker einen Plan. Jenen beschäftigt, was ist, diesen, was sein soll.
Soweit eine erste differenzierende Charakteristik der zwei hier interessierenden Typen oder Gestalten des Denkens.

6Etwas Entscheidendes kommt hinzu: Das Nachdenken ist mit dem Denken der Denker beschäftigt, macht sich Gedanken angesichts dessen, was jene sich ausgedacht haben oder dabei sind, sich auszudenken, und ist insofern Reflexion jenes Denkens, die Gestalt, in der das planende und ausrichtende – auch „anrichtende" – Denken zur Besinnung kommen kann, die Gestalt, in der das Denken mit einem Maßstab in Berührung gerät, der ihm ansonsten fremd ist: dem der Besonnenheit.

Seinen eigenen Imperativen und Selbstverständlichkeiten nach ist nämlich das Denken nicht geneigt, besonnen zu sein, also sich zu sich selbst in Distanz zu setzen, auf sich selbst zurückzublicken; sondern das entwerfende Denken blickt voraus und ist mit den Mitteln beschäftigt, die ihm zur Ausführung des Ausgedachten nötig erscheinen – und mit den Widerständen, die sich der Ausführung des Ausgedachten widersetzen oder ihm Schwierigkeiten bereiten.

Man könnte tatsächlich – mit dem Mut zur plakativen Zuspitzung – sagen: Was wir gemeinhin die Wirklichkeit nennen, das Ensemble alles dessen, was der Fall ist, ist für den tätigen, zum eigenen Gedanken entschlossenen Denker nur entweder ein Mittel, das er zu seinem Zweck gebraucht, oder es ist ein Hindernis und Widerstand.

Also entweder er kann es gebrauchen, oder er muß es überwinden, ausräumen, wegschaffen, zum Verschwinden bringen.

7Der Denker, damit sein Gedanke möglichst rein und ungestört und vor allem als sein Gedanke zur Ausführung kommt, braucht gewissermaßen „freie Bahn": Bedeutung hat für ihn nur, was er sich ausgedacht hat oder was ihm „eingefallen" ist – wie es mit bedenklichen Konnotationen heißt. Alles, was sonst der Fall sein mag, ist hingegen an-sich-selbst ohne Bedeutung, im eigentlichen Sinn „nichts-sagend"; Bedeutung kommt ihm nur zu, sofern es sich als brauchbares Mittel seinen Zwecken dienstbar machen läßt. Was man sonst Wirklichkeit nennt, ist dem Denker Material, das er entweder verwenden kann oder verändern muß.

Um mir eine kryptotheologische Anspielung zu gestatten ...: Der Denker ist die tätig werdende, in Aktion tretende Vorsehung; er sieht voraus und setzt um oder verwirklicht.
Er stellt fest, was ihm hilfreich und was ihm hinderlich sein könnte, er registriert insofern Tatsachen, doch das alles nur, um hinzustellen und seinerseits Tatsachen zu schaffen.
Kennzeichnend für den Nachdenklichen ist hingegen die Haltung der Rücksicht. Und dies darum, weil er primär bedenkt, was wirklich ist. Er sucht nicht festzustellen, was der Fall ist, sondern zu verstehen, was vorgeht und was wurde. Der vorausdenkende Denker im Gegensatz dazu erscheint als rücksichtslos; denn tatsächlich scheint ihm zurückzusehen vertane Zeit und ein sinnloses Beschäftigen mit Totem zu sein. Paul Valéry hat diesen Zusammenhang mit schrecklicher Deutlichkeit ausgesprochen:

„Das Denken ist brutal, es kennt keine Schonungen. Was ist brutaler als ein Gedanke?"5

Und auch hier enthält die Sprache für uns manchen Aufschluß, jedenfalls Wink: Der Denkende „macht sich", heißt es, Gedanken. Das Denken ist wesentlich Tätigkeit, Handlung. „Denken ist nicht Reproduktion, sondern Produktion von Wirklichkeit."6

8Während so das Denken handelndes Bewußtsein ist, ist das Nachdenken sich besinnendes Bewußtsein. Es ist nicht so sehr Tätigkeit, es ist vielmehr eine Verfassung: Nachdenklich bin ich oder werde ich, denken tue ich. So wie etwas denkbar wird, indem ich es denke, stimmt und macht mich etwas nachdenklich, läßt mich etwas nachdenklich werden, indem ich bereit bin, auf jenes Etwas achtzugeben.

Wie das Denken ein Handeln und „Auf-etwas-aus-Sein" ist, ist Nachdenken eine Verfassung des Seins, ein „Bei-sich-selbst-Sein", indem es bei der Sache ist.
Denken ist Arbeit an der Welt, Nachdenken Modifikation des Selbst. Sein innerstes Motiv ist das der Umkehr: Einstellungs-Umstellung statt Weltveränderung.7
So auch weist seine Etymologie bedenkenswerterweise nicht auf das lateinische cogitare, sondern auf das gewöhnlich gleichfalls mit „denken" übersetzte meditare. Nachdenken ist meditatives Denken, ein „Betrachten ..., das nicht etwas ins Werk zu Setzendes ausdenkt, sondern den Meditierenden gewissermaßen in die zu betrachtende Sache versetzt".8
Mit sonderbar bestätigender Entsprechung verbindet sich übrigens auch der Sanskrit-Terminus für Meditation, das Wort dhyâna – übersetzbar auch als „Versenkung" –, mit Nachdenken, denn Nachdenken, dhyâ, ist die Wurzel des Wortes.9

9Soweit der einleitende Exkurs, der, angeleitet vom „Sprechen der Sprache", eine erste Differenzierung des Denkens und Nachdenkens hörbar machen sollte;(10) eine Unterscheidung, die freilich nicht nur die Charakterisierung zweier Typen des Denkens im Sinn hatte, sondern vorbereitend der Absicht diente, beide Weisen des Denkens in eine geschichtliche Beziehung zueinander zu rücken: Das offensiv-projektive Denken repräsentierte danach die Moderne, in deren Zentrum es stand, während nun eine andere Epoche sich meldete, als deren Mitte sich ein defensiv-retrospektives, auch meditatives Nachdenken ausbildete.
Diese geschichtliche Verhältnisbestimmung soll mit einem Gedanken Hegels, dem wohl bekanntesten Diktum des Revolutionsbürgers Marx und schließlich dessen zeitgenössisch nach-moderner Korrektur durch Odo Marquard verständlich werden, bevor dann nach den inneren Beziehungen dieser Geschichte des Denkens zur Geschichte der Architektur gefragt werden kann.

9Hegels Einsicht nach ist die Neuzeit konstitutionell die Entschlossenheit zum Denken: Das sei noch nicht gesehen worden – heißt es in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" mit Blick auf die französische Revolution, die die Moderne eröffnet habe –, „solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d.i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem
erbaut." 11

Grundsatz der Neuzeit sei – heißt es in den „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" –: „daß der Gedanke, der abstrakte Gedanke herrschen soll".12
Als klassischer Ausdruck dieses neuzeitlich-modernen, weltverändernden Denkens, das den Anspruch stellte, die Wirklichkeit nach den Plänen des Gedankens umzumodeln, dürfte das berühmte Wort von Marx, die „11. These über Feuerbach", gelten:

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern." 13

Doch diese Parole hat unübersehbar ihre Reputation als leitende Orientierung verloren, so daß die witzig-hintersinnige Verdrehung der Devise, wie sie Marquard sich erlaubte, möglich wurde und inzwischen wohl die Sympathie auf ihrer Seite haben dürfte:

„Die Philosophen haben die Welt zwar verschieden verändert; es kommt aber darauf an, sie zu verschonen."14

Die hier interessierende Frage lautet nun: Läßt sich diese Geschichte des Denkens als innere Geschichte der Architektur in der Moderne wiedererkennen?
Dazu wäre zuerst zu fragen, in welcher Weise sich die Herrschaft der „abstrakten" Vernunft oder Rationalität in der klassischen Moderne der Architektur zur Geltung brachte. Und zuvor noch, ob sich jenem neuzeitlichen Denken zur leichteren Verständigung womöglich ein Name geben lasse. – Ich denke, ja.

10Es ist der Geist René Descartes': Die Parole, die als Kampfruf ihre Wirkung tat, hieß: clare et distincte, Klarheit und Deutlichkeit.
Und nun: ist nicht das Credo Mies van der Rohes, „Less is more", eine Formulierung ganz aus diesem Cartesischen Geist? Wie lauteten die Imperative, die seither die Arbeit der Klassiker unter den Modernen leiteten? Exorzieren alles „Überflüssigen", Beschränkung der künstlerischen Ausdrucksmittel auf das Unerläßliche, ausschließliches Vorrecht des Unabdingbaren, Ausschluß aller Mehrdeutigkeit, Elimination alles Verspielten, Eindeutigkeit der Idee, Herrschaft der Rationalität als Durchsichtigkeit der Funktionen, Übersichtlichkeit der Gestaltung, Eindeutigkeit der Konzeption, geometrische Reinheit der Formen durch die Kunst des Absehens und Weglassens – mit diesen Stichworten, denke ich, ließe sich der Geist der klassischen Architektur-Moderne in erster Annäherung charakterisieren. Es sind Stichworte zugleich, die der Auskunft Hegels, die abstrakte Vernunft errichte ihre Herrschaft, näher bestimmen.
Und in der Folge? Wie ließe sich die Vielfalt der Absetzbewegungen aus dieser entschlossen „modernen" Geschichte begrifflich fassen? Vom Verändern durch Denken zum nachdenklichen Schonen –

wäre kurzgefaßt mein Vorschlag, der die Logik des hier interessierenden Epochenwechsels als Begriffskurzgeschichte erzählte. Ermöglicht, zumindest eingeleitet wurde sie durch eine radikale Kritik der Rationalität im Blick auf ihre Weltveränderungsfolgen. Das Schlagwort dazu hat Foucault ausgegeben:

„La torture, c'est la raison." 15

Exkurs: Wenige Bemerkungen zu Heideggers Vortrag „Bauen Wohnen Denken" und Adornos Reflexion „Asyl für Obdachlose"

11Martin Heideggers Vortrag aus dem Jahre 1951 16 auch nur annähernd verantwortlich in diesem Rahmen zu referieren ist nicht möglich. Schon der Versuch, sein den „Zuspruch der Sprache" vernehmendes Bedenken eines aus den Blick geratenen „ursprünglichen Wesens" in eine sonst gesprochene und verständigungsübliche Sprache zu übersetzen, wäre ein Anspruch, der an der knappen Zeitressource jedes Vortrags scheitern müßte.

Also mache ich vorsorglich darauf aufmerksam, daß ich mich darauf beschränken werde, einen Lesevorschlag zu wagen.

Heideggers radikale Modernitätskritik – die im Falle dieses Vortrags von der Wahrnehmung inspiriert sein mag, der moderne Mensch sei in seiner Welt nicht mehr „heimisch", er erlebe sich als fremd in ihr, so daß sie seine Welt eigentlich nicht länger sei und „Heimatlosigkeit" sein Schicksal wurde – wird durch die Erinnerung an Vergessenes und die Wahrnehmung von Übersehenem geleistet.

Eine Art Schwerhörigkeit habe den Menschen verhängnisvoll taub gemacht für das Wesentliche, das in der Sprache – nicht in der, die wir sprechen, sondern in der, die „zu uns spricht" – bewahrt worden sei.

Was aber ergibt sich, indem Heidegger, stellvertretend gewissermaßen, für uns auf den „Zuspruch der Sprache" hört? Daß uns Zusammenhänge aus dem Blick geraten sind und daß wir Zusammengehöriges ungehörig auseinandergerissen, es von einander isoliert haben. Es ist mit anderen Worten die Diagnose Hegels, der die in der Moderne wirksame und zur Herrschaft gelangende Vernunft eine abstrakte nannte, eine übersehende, absehende, isolierende, einseitige, wie sich ihre Kennzeichnung als „abstrakt" übersetzen ließe.

12Was vor allem übersehen oder vergessen wurde, sei das in gemeinsamer sprachlicher Wurzel verbürgte Einssein und Zusammengehören von Bauen und Wohnen, Dasein in der Welt und für die Welt, wobei wir für die Welt dasind, indem wir sie „schonen" und sie in ihr „eigenes Wesen freilassen". (140 ff) Für die Welt als das „Ganze unseres Daseins" aber weiß Heidegger den Namen „Geviert": Das sei die „ursprüngliche Einheit", zu der „die Vier [gehören]: Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen in eins". (143)

Im „Bedenken" der Zusammengehörigkeit jener Vier „ereigne" sich das Wohnen „als das vierfältige Schonen des Gevierts": „im Retten der Erde, im Empfangen des Himmels, im Erwarten der Göttlichen, im Geleiten der Sterblichen". (145)

Zweifellos ist eine solche Schilderung unseres ursprünglichen und jetzt vergessenen rechten In-der-Welt-Seins für den Zeitgenossen schwer verständlich – was ja auch Heideggers Rede ist: Die Schwerverständlichkeit wäre danach nicht etwa ein Mangel seines Textes, sondern unseres Verstehens, da für uns eben nicht mehr unbedingt-bedingend zusammengehört, was dem Zeugnis der Sprache nach Eines ist.

13Um jedoch zumindest eine Ahnung von dem zu geben, was Heidegger zur Sprache kommen läßt, möchte ich an die vergangene, für uns inzwischen unfaßbare Sicherheit erinnern, mit der die Menschen die Mitte ihrer Ortes der Kirche und dem Friedhof eingeräumt haben: Das Einssein oder Zueinandergehören des Himmels und der Erde, des Göttlich-Ewigen und des Menschlich-Zeitlichen als Los der Sterblichen – zugleich damit, uns betreffend, das Beieinander der Lebenden und der Toten –, hatte darin seinen sichtbaren Ausdruck gefunden. Verstehen wir jedoch noch, was es heißt, die Erde vom Himmel loszureißen und uns, die Lebenden wie die Toten, vom Göttlichen, vor dem die Sterblichen und die Verstorben „miteinander" waren? – während wir nun die, die uns vorausgegangenen sind, aus dem Kreis der Lebenden entfernen, sie an den Rand der Stadt auf den „Waldfriedhof" exilieren? 17

Zur ersten Nachfrage möchte ich nicht mehr als ein Wort einfügen, dessen suggestiver Kraft ich zutraue, uns eine vergessene Gewißheit noch einmal ahnen zu lassen:

„Ohne den Himmel über uns verlieren wir den Boden unter uns." (Franz Kamphaus) 18

14Was aber das „wohnende Dasein" als das „Geleiten der Sterblichen" angeht, hoffe ich diesen dem gegenwärtig ausgenüchterten Verstand schwer faßbaren Zusammenhang durch ein Zitat aus John Steinbecks Roman „Der fremde Gott" jedenfalls noch einmal erlebbar werden zu lassen, wenn er unser Leben auch nicht mehr leitet:

Der Roman schildert das Geschick einer Familie, die in der „Neuen Welt" nach Westen zieht und, wo immer es sie hin verschlägt, wieder aufbricht. Ruhelos ziehen sie weiter, weil sie nicht finden, was sie suchen: heimatlichen Boden.

Dann, in einer kargen Landschaft, die an sich nichts bietet, das sie einlädt, dazubleiben, stirbt einer aus dem Clan. Man versammelt sich, ihn zu begraben. Ein zweiter Todesfall ereignet sich schon bald darauf. Einer der jungen Männer zimmert im Schuppen den Sarg, als der Bruder dazukommt und sich folgendes Gespräch ergibt:

„Erinnerst du dich, was wir sagten, als Benjy starb? Wir sagten, erst Gräber machen einen Ort zur Heimat. Das ist wahr. So werden wir ein Teil des Ortes. Darin steckt eine große Wahrheit." (1)

Die uns vorausgegangen sind, erwarben uns die Heimat. Indem wir sie geleiten, werden wir „Bleibende" und als „Wohnende" heimisch. Soviel – mit den Worten jenes Epos – zu der „großen Wahrheit", die uns Heutigen verlorenging, indem wir einem Denken ausgeliefert sind, das uns das Zusammenhängende zerriß.

15Um nun noch einen Hauptzug zu skizzieren, der Heideggers Vortrag durchzieht, möchte ich sein Nachdenken einem Prosastück gegenüberstellen, das gleichfalls 1951 erschien: Adornos Gedankenskizze „Asyl für Obdachlose" aus den „Minima moralia". (2)

Eine gewisse herausragende Bedeutung kommt dieser „Reflexion aus dem beschädigten Leben" zu, insofern sie jenen viel zitierten Satz als Resümee enthält: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen." (3)

Während Adornos Einspruch – Zitat: „Das Haus ist vergangen." – eine gesellschaftlich produzierte Weltverschandelung beklagt, der die „Zerstörung der europäischen Städte" zugerechnet werden müsse und deren Hinterlassenschaft Häuser seien, die „nur noch dazu [taugen], wie alte Konservenbüchsen fortgeworfen zu werden", die also „die Möglichkeit des Wohnens ... vernichtet" habe – ein Verhängniszusammenhang, gegen den „kein Einzelner [etwas] vermag" –, während Adorno in demselben Sinne das Elend „den neusachlichen" anlastet, „die tabula rasa gemacht haben", den modernen Architektur-„Sachverständigen" also – und nun als Folge schließt: „Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen." – war für Heidegger die Verwüstung der Erde durch ein unwohnliches Bauen die Folge des Unvermögens, wohnen zu können: „Nur wenn wir das Wohnen vermögen, können wir bauen." (155) Die Frage, „wie es mit dem Wohnen in unserer bedenklichen Zeit" stehe, beantwortet Heidegger also so, daß „die eigentliche Not des Wohnens ... nicht im Fehlen von Wohnungen" bestehe oder darin, daß sie zerstört worden seien, sondern „die eigentliche Not des Wohnens beruht darin, daß die Sterblichen das Wesen des Wohnens ... erst wieder suchen, daß sie das Wohnen erst [wieder] lernen müssen". Diese „Not" als „die eigentliche Wohnungsnot" noch gar nicht bedacht zu haben, darin bestehe „die Heimatlosigkeit des Menschen". (156) (4)

16Heißt also, wie bekannt, Adornos Resümee, ein „richtiges Leben" sei nicht möglich, weil es „im falschen" lebe, ließe sich dem als Einsicht Heideggers entgegensetzen: Da wir verlernt oder eigentlich vergessen haben, was es hieße, richtig zu leben, leben wir im falschen.

Es ist dies der ewige Einschätzungswiderstreit: Der eine beklagt „Die Unwirtlichkeit unserer Städte" (Mitscherlich, 1965), sieht das Leben durch bedrückende Umstände belastet, durch schlechte Welteinrichtungen behindert, und wird deshalb sagen: kein Wunder, daß die Menschen jede Gelegenheit ergreifen, aus ihren Stuben und Städten zu fliehen; der andere – pars pro toto Blaise Pascal – sieht umgekehrt „alles Unglück der Menschen" dem einen entstammen, „nämlich daß sie unfähig sind, in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben zu können". (5) Der eine sieht die „Verhältnisse" und was in ihnen mit dem Menschen wird, der andere den Menschen und inwiefern sich die Verhältnisse gerade so entwickeln, wie sie zu seiner inneren Verfassung passen. Der eine sieht den Menschen in den modernen Wohnmaschinen verkrüppeln, der andere sieht in den Behausungen den Ausdruck des verkrüppelten, unseßhaften, heimatlosen, flexibilisierten, mit einer Unterkunft versorgten Arbeitsmenschen.

Jener erste Blick ist der Adornos, Habermas und Mitscherlichs, jener andere ist der Pascals und Heideggers. Der eine exkulpiert den Menschen, der andere ehrt und würdigt ihn durch einen hohen Anspruch und Erwartungen. – Es ist der ewige Widerstreit ...

17Das Diktat des Denkens in der klassisch modernen Architektur

Die vorbereitenden Überlegungen zu einer Differenzierung von Denken und Nachdenken – die zugleich als Epochentitel verstanden werden – sollen nun auf die Geschichte der neueren Architektur übertragen und gleichzeitig an ihr überprüft werden.

Der zentralen Stelle, die das autonome, aus allen historischen Traditionen und „bodenständigen" Überlieferungen emanzipierte Denken in der Architektur der klassischen Moderne einnimmt, entspricht die Vorherrschaft des Planens, der Programme und Konzepte sowie der Rationalität der Mittel. Die Lust am „Machen" äußert sich und findet Anerkennung; fasziniert zu sein von dem, was „machbar" ist, wird infektiös; das „Naturwüchsige" wird verachtet; für das „Althergebrachte" fehlt der Sinn; anstelle dessen wird „Veränderung" zur Leitvokabel, und der Reiz von aller Art von Widerstandsbewältigung – die möglichst weit gespannte Brücke – wird für den technischen Verstand unwiderstehlich: der Ingenieur macht Karriere.

Das Bauen unter dem Diktat des Denkens wird zur Schwärmerei für Möglichkeiten, als gehe es darum, die Kategorie „Unmöglichkeit" als Kränkung aus der Welt zu schaffen. Das Denken feiert sich und triumphiert, wo immer es „entgrenzt": Schranken werden eingerissen, Schwierigkeiten überwunden, Hindernisse aus dem Weg geräumt. Zugleich damit wird es zum Angebot für jede Art von Herrschaftsphantasie: Utopien stampfen Städte „aus dem Nichts", beziehungsweise was an „Masse" da ist wird vorher eingestampft. Was danach entstehen soll, erinnert häufig an die Perfektion gigantischer Gefängnisbauten – denn Rationalität erträumt die vollständige Übersicht: Kontrolle. Dem Zufall ist der Krieg erklärt, das Unvorhersehbare ist der Feind, der Sieg ist die Verwirklichung des Plans.

18Es ist nebenbei bemerkt erwähnenswert, daß die Obsession, erst einmal alles einzuebnen, ehe man „von Grund aus" alles neu und herrlich aufzurichten anfängt, in den Wirtschaftsdiktaturen ebenso verbreitet war wie im nationalen und im internationalen Sozialismus: Es hat sich eben nicht nur Hitler ausgemalt, nach dem Sieg Berlin zu planetieren, um die beispiellose Welthauptstadt aus einem Guß ab ovo hinzustellen, sondern auch Le Corbusier, so heißt es, habe mit seinem Plan für ein neues Paris den Abriß der alten Stadt propagiert.(6) Bezeichnenderweise befand bereits Descartes, „man könne Städte am besten rational bauen, wenn man die Alt-Städte erst einmal niederlegte".(7)

Das Denken möchte sich realisieren, also darf das Ausgeführte keine anderen Voraussetzungen haben als das Gedachte selbst, der Entwurf muß rein zur Geltung kommen: die Tätigkeit des Denkens wird zur „Furie des Verschwindens" (Hegel). Seine Freiheit, sein „Zu-sich-selber-Kommen", sucht es, indem es alle „Fesseln" abstreift oder sprengt: so kommt es zu sich selber als „entfesseltes". Und von nichts „befreit" es sich so gründlich wie von allem Überlieferten, mit einem Wort: von der Geschichte. Als in Havard Gropius sein Lehramt antrat, soll eine seiner ersten Anordnung gewesen sein, „alle Bücher über historische Architektur aus der Bibliothek zu entfernen".(8) Das ist mehr als eine Anekdote: Die Verschwörung gegen die Historie ist der Diktatur des projektiven Denkens wesentlich. Wo sie herrscht, steht Tradition „nicht auf dem Prüfstand, sondern am Schafott".(4)In „Brave new World" – Aldous Huxleys schauerlicher Schreckensutopie – erläutert Seine Fordschaft Mustafa Mannesmann, Mitglied des Weltaufsichtsrates, einer Gruppe von Studenten den „erhabenen und erleuchteten Ausspruch Fords des Herrn: history is bunk" ... – „›Geschichte‹, wiederholte er, ›ist Mumpitz‹".(9)

19So liefert sich das Denken selbst dem Bann der Überbietungslogik aus und verfällt dem penetranten Aberglauben an das Neue: das Beispiellose und noch nie Gesehene, das noch nicht Dagewesene gewinnt den Kampf ums letzte knappe Gut: die Beachtung. Innovationen machen das Geschäft, denn das Novum steht im Rampenlicht, und für den Augenblick, in dem es auftritt, setzt es sich als Maßstab.

Im Kult des Neuen feiert sich die Tyrannei der Zeit.(10) Die Bindung an den Ort wird aufgelöst und dem Zeitlauf unterworfen. Der Partikularismus der Regionen wird durch den Partikularismus des weltweit durchgesetzten Zeitgeschmacks ersetzt: Die Skyline Frankfurts oder Abu Dhabis gleicht sich der Chicagos an, die Hotelpaläste Hongkongs gleichen jenen in Johannesburg, die Warentempel und Passagen Montreals sind von demselben Schlag wie die in Hamburg oder Tokio. Den prominenten Bauten sieht niemand mehr den Boden an, auf dem sie stehen, den Ort, an den sie „hingehören", die Landschaft, in die sie sich als andere und zweite, „künstliche Natur" zu fügen hätten – sie tragen nur noch einen Stempel, der ihren Wert beglaubigt: den der Zeit, das heißt genauer: der jeweiligen Gegenwart. Im Bild: Sie tragen keine Tracht, sie stecken allesamt in Jeans.

Wie das abstrakte Denken selber, intendierte die moderne Baukunst den Universalismus ihres Ausdrucks: Das Allgemeine, Funktionale, die geometrisch strenge Form „befreiten" sich vom „zufälligen" Inhalt, die Mittel machten sich vom Zweck los, dem sie dienen sollten: Es heißt, Mies van der Rohe habe seinen Plan für die Berliner Nationalgalerie vorrätig im Schreibtischfach gehabt. Es habe sich dabei um den Entwurf für den Verwaltungstrakt eines kubanischen Rum-Produzenten („Bacardi"-Rum) in Santiago de Cuba gehandelt.(11)

20Solches Denken, das als die verständnislose Macht des reinen, rationalisierenden Verstandes in Aktion trat, konnte sich – wie die pure Mittelrationalität auch sonst – erfolgreich etablieren, da es reibungslos dem herrschenden Paradigma, dem ökonomischen, zu integrieren war: Was als „Funktionalismus" ästhetisch ausgegeben wurde, rechnete sich gut, weil es die technisch eingesetzten Mittel betriebswirtschaftlich kalkulierbar machte. Le Corbusier feierte die neue Zeit als Zeitalter des „Serienbaus", die Utopie der „Wohnmaschine" wurde proklamiert, so trug die künstlerische Legitimation zur „effizienten" Produktion bei, und der Architekt empfahl sich als Agent industrieller Zwecke.(12)

Heinrich Klotz hat den Zusammenhang wohl gültig ausgesprochen:

„Bautechnische Struktur, ökonomischer Funktionswert und Nutzungsanalyse standen im Vordergrund des Interesses. Daß eine Form dieses oder jenes bedeuten könnte, war nicht offizielles Thema und stand jenseits aller Fragen der Architekturtheorie." (13)

 

21Um zuletzt jedoch den vielleicht tiefsten inneren Zusammenhang der klassischen Architektur-Moderne mit dem Programm des neuzeitlichen Denkens auszusprechen, so ist es, wie ich denke, das Unvermögen, Widersprüche zu ertragen: das Besondere und Eigentümliche wird idiosynkratisch abgelehnt, das Viel- und Uneindeutige wird ausgemerzt, das Eindeutige wird zur Regel, die Ausnahme und alles, was irgend aus der Reihe tanzt, wird nicht geduldet.

Zum Non-plus-ultra avanciert das Tautologische: Alles soll nichts andres sein als das, was es zweifelsfrei in eindeutiger Weise ist; alles wird darauf verpflichtet, nichts weiter als „es selbst" zu sein.

Das bedeutet, den Dingen überhaupt wird jegliche Bedeutung abgezogen(14): Im „Einfachen" muß aller Widerspruch verschwinden, was abweicht, wird beseitigt.

Es war der Geist Descartes', der herrschte, und sein Ideal: „clare et distincte" wurde zur Devise der Moderne. Es war das eifersüchtig herrschende Gebot der Zeit des Denkens: die eine Geltung, die keine andern gelten ließ.

Gewissermaßen spricht sie: ›Ich bin die eine Gültigkeit, du sollst keine andern Gültigkeiten haben neben mir.‹ Die Rationalität modernen Denkens hat das Erbe des verblaßten einen Gottes angetreten.(15)

22Nachdenklichkeit als Paradigma nachmoderner Baukunst

Bekanntlich ist, was war bzw. der Vergangenheit anheimfällt, sehr viel leichter zu erkennen, als das, was wird und erst im Gange ist. Dennoch will ich es versuchen.

Dabei soll es nicht bloß darum gehen, Züge nach-modernen Bauens(16) zu beschreiben oder aus den Manifesten und Erklärungen von Architekten, die den Geltungsanspruch einer mittlerweile „klassischen Moderne" für geschichtlich überholt ansehen, rezeptiv zu referieren. Es ist ja allzu offenkundig, daß sich das Lob der Vielfalt, das man heute hört, dem klassisch-modernen Lob der Eindeutigkeit als Antithese entgegensetzt, daß sich ein Programm der Multicodierung gegen den modernen Purismus profiliert, der programmatische Kontextualismus sich im Blick auf den modernen Universalismus als Alternative empfiehlt, Spielerisches gegen Strenge, Heiterkeit gegen kalten Ernst, historische Reminiszenz gegen eine unduldsame Gegenwart usw.(17)

Die Frage aber ist, ob und inwiefern solche Züge ein Ausdruck von Nachdenklichkeit sind, und so geht es darum, Auffälliges in der nach-modernen Architektur und ihrer Selbstauslegung mit der eingangs geäußerten Vermutung zu verbinden, die zuendegehende Geschichte des Denkens eröffne einer Geschichte der Nachdenklichkeit eine Chance.

Dafür sollen abschließend einige Indizien gesammelt werden.

23Offenkundig hat sich das Verhältnis zur Historie gewandelt. Dabei denke ich nicht nur daran, daß mit tradierter Bausubstanz respektvoller verfahren wird, als dies in Zeiten einer selbstgewissen, gewissermaßen angriffslustigen Moderne und auch noch vor kurzem üblich war – Kükelhaus soll einmal geäußert haben, die Architektur der Nachkriegszeit sei die Fortsetzung des Krieges mit den anderen Mitteln der Architektur gewesen(18)...; wohingegen heute ein unübersehbarer Hang zum Erhalten, Renovieren und Musealisieren die Oberhand gewonnen hat –, sondern sehr viel weitergehend ist gemeint: Der Abschied von einer „erinnerungssterilen Ästhetik" in der Architektur der Moderne (19) scheint von der nachdenklichen Einsicht mitinspiriert zu sein, daß beispielsweise menschliche, einladend wohnliche Städte womöglich gar nicht planbar und im strikten Sinne gar nicht machbar sind, daß also ein entwerfendes Denken allenfalls „Wohnparks" schafft und Arrangements „verordneter Gemütlichkeit",(20) nicht aber die Atmosphäre eines historischen Stadtkerns, der sich bis in unsere Tage erhalten hat und die Gegenwart des Alten im Gegenwärtigen repräsentiert.

24Sofern mit solchen Einstellungsumstellungen eine „Entkanonisierung des Fortschritts" – bei gleichzeitiger Rehabilitierung einer „von Avantgarde-Normen bislang nur heimlich verstattenen Neigung, Altes besser zu finden als Neues" – einhergeht,(21) dürfte dies als Anzeichen einer neuen Nachdenklichkeit gedeutet werden, die sich dadurch auszeichnet, daß die Grenzen des Herstellbaren und die Beschränktheiten eines von der Tradition unbelehrten Denkens geahnt werden: Wir vermögen weniger, als wir (in der Moderne) dachten, weshalb wir auf die Bewahrung von Beständen angewiesen sind, die wir nur zerstören, keinesfalls aber gleichwertig ersetzten könnten. Mit anderen Worten:

Im Zeichen der Nachdenklichkeit wird Bescheidenheit

plausibel.

25Die Revision des ehemals überheblichen Verhältnisses zur Geschichte könnte weiterhin ein Ausdruck für die Einsicht sein, daß wir vieles gar nicht anders als historisch zu verstehen in der Lage sind.

Ich zitiere zur Erläuterung die witzig-kluge Frage Hermann Lübbes:

„Wie macht es eine Rathaus, das es aussieht wie ein solches ...?" (22)

Der sicherste Weg, diese Frage zu beantworten, ist zweifellos das historisch belehrende Studium möglichst vieler Rathäuser, die uns eine vielfältige Anschauung gestatten. Für ein Anzeichen von Nachdenklichkeit würde ich dieses Verfahren insofern halten, als es nicht nur sich selbst, sondern auch andern zutraut, sich bei dem, was sie taten, Sinnvolles gedacht zu haben. Die Lösung, die sich schließlich zur praktisch-ästhetischen Beantwortung der Frage ergäbe, wäre eine, die sich in einen historischen Kontext einfügte und an bereits Wirkliches anknüpfte. Darin äußerte sich die geschuldete Dankbarkeit, daß wir nicht mit allem von vorne anfangen müssen, sondern Vorbilder vorfinden, die uns die Orientierung erleichtern. Mit anderen Worten:

Im Zeichen der Nachdenklichkeit wird Dankbarkeit

plausibel.

26Während das Fortschritts-Dogma der jeweiligen Gegenwart vor der Vergangenheit ein Geltungs- und Beachtungsvorrecht eingeräumt und so dem Neuen, eben Aufgetauchten, ein hohes Maß besonderer Beachtung zugesichert hatte, ist gegenwärtig nicht zu übersehen, das manches scheinbar Überholte, von der Geschichte angeblich Erledigte oder sonst vom Gang der Zeit Beseitigte und Abservierte die Gelegenheit zur Wiederkehr bekommt, als gelte es, das erste Urteil, das es einmal einfach für „veraltet" abgetan und damit ausgeschaltet hatte, noch einmal gründlich und mit gelassener Gerechtigkeit zu überprüfen.

Für ein Zeichen einziehender Nachdenklichkeit möchte ich diese Bereitschaft zur Urteilsrevision halten, weil sie die menschlich-geschichtliche Irrtumsanfälligkeit in Rechnung stellt und, aus Skepsis klug geworden, dem Ausgeschlossenen und Verworfenen das versagte Überlebensrecht zurückerstattet. Lautete einmal in der Architekturmoderne das unerbittliche Gesetz, es gäbe „kein Zurück", was von der Geschichte „überholt" sei, kehre niemals wieder, so scheint die nach-moderne Baukunst dieses gründlichste Tabu nicht mehr zu respektieren: Vergangenes kehrt wieder, zunächst als sei es nur „zitiert", dann als gleichberechtigte, bewährte Möglichkeit, schließlich als gültiges Ausdrucksmittel. (Beispiel: Das rehabilitierte Ornament oder die wiederentdeckte Metaphorik in der Baukunst.) Mit anderen Worten:

Im Zeichen der Nachdenklichkeit werden Revisionen

vergangener Urteile möglich.

27Darüberhinaus beginnt man zu ahnen, daß manche früheren Verwerfungsgründe ihrerseits verwerflich, zumindest oft sehr einseitig gewesen sind.

Als Beispiel: Manche Bausubstanz hat weichen müssen, weil sie ihren „Zweck" nicht mehr erfüllte: dort ein altes Stadttor, hier ein Wall mit Mauerwerk und Wassergraben, an wieder anderm Ort vielleicht ein Speicherhaus am Hafenbecken. Daß freilich eine Sache ihr ganzes Recht verloren haben sollte, sobald sie ihren ersten Zweck nicht mehr erfüllt, das zu meinen war der moderne Dogmatismus, der uns inzwischen anstößig erscheint. Der Nachdenkliche wird jetzt dazu neigen, das uns Vererbte pietätvoll zu erhalten und womöglich einem neuen Zweck zu widmen: In dem renovierten Speicherhaus werden Wohnungen geschaffen, die verlassene Fabrik wird ein Kulturzentrum etc. Ein Recht der schon vorhandenen, uns anvertrauten Dinge vor den bloß ausgedachten und geplanten wird im Verein mit einer neuerdings sich meldenden Empfindung für alles irgendwie Bedrohte und Gefährdete verständlich: auch dies ein mögliches Zeichen einziehender Nachdenklichkeit. Inwiefern?

Man beginnt den „guten Gründen" und den „starken Argumenten" zu mißtrauen, die sich auf klare, „unumstößliche Prinzipien" berufen konnten, denn man weiß aus einfacher Erfahrung, daß im Namen klarer, bester Argumente und gestützt auf „gute Gründe" sehr viel Unheil angerichtet werden konnte.(23)

Und man ahnt, daß alle Klarheit der Argumente damit erkauft wird, daß man dem Unklaren die Aufmerksamkeit entzieht. (Beispiel: Hat ein Gebäude, das seinen „ursprünglichen" Zweck nicht mehr erfüllt, sein Bleiberecht verloren? Braucht der Mensch womöglich eine Menge „Unbrauchbares"?) Solche Ahnungen könnten als ein Zeichen einziehender Nachdenklichkeit ausgelegt werden, sofern die Einsicht darin sich meldete, daß die mögliche Vernünftigkeit des Wirklichen komplexer wäre als vernünftigem Denken je zu denken möglich ist. Damit wird dem Wirklichen ein Beachtungsvorrecht vor dem bloß Möglichen eingeräumt. Mit anderen Worten:

Im Zeichen der Nachdenklichkeit wird eine lange

vermißte Treue zum Vorhandenen plausibel.

Zugleich entstehen mit dem Ende des Fortschritts-Dogmas Chancen für einen ästhetischen Pluralismus. An die Stelle der einen Geltung treten viele Gültigkeiten, das stilistische Einerlei wird durch die lebendige Vielfalt – oftmals historisch vorgeprägter – Formen überholt beziehungsweise korrigiert. Nachdenklichkeit, die sich der Besinnung auf das Denken verdankt, erkennt die Rücksichtslosigkeit, die mit Überzeugungen und durchgesetzten Wahrheiten einhergeht – und seien es ästhetische. Der Glaubenseifer, mit dem einmal frisch reformierte Protestanten die bunt ausgemalten Kirchen überkalkten, weil sie den Skandal des mißachteten Bilderverbotes nicht ertragen konnten, erscheint uns heute nicht mehr ohne weiteres als Indiz grundsatzfesten Glaubens, sondern eher noch als der Einbruch einer engherzigen, besinnungslosen Barbarei. Wer nachdenklich wurde, weiß hingegen auch zu akzeptieren, was seinem Verständnis unzugänglich blieb. Mit anderen Worten:

Im Zeichen der Nachdenklichkeit wird Duldsamkeit

plausibel.

28Ergo

Der Dogmatismus der Moderne ist gebrochen. So kündigt sich das Ende einer Epoche an.

Die Verdammung aller Tradition zur „bloßen" Geschichte ist selbst Geschichte. So wird die Moderne historisiert.

Die Monopol-Vernunft ist unvernünftig. Eine offene, nachdenkliche und verstehende Vernunft zieht ein.

Der Universalismus der Formen war die Tyrannis der Zeitdiktatur und das seinerseits partikulare, unbarmherzig-kalte Gesetz. Es ist aufgehoben: ausgesperrtes Leben kehrt zurück.

Die Verurteilung der Konkurrenten reinen Denkens, der Mythen und Erzählungen, war das Vorurteil des Denkens. Unterdessen wird jetzt das Erzählen der Moderne fällig. Gelänge es, wäre das ihr Ende.

29Zum Schluß

Zwischen 1450 und 1457 wurde in Kues an der Mosel das „St. Nikolaus-Hospital" (Cusanus-Stift) errichtet, das der Philosoph und Kardinal Nikolaus von Kues (1401-1464) gestiftet hat.

Das Bauwerk ist die sinnbildlich dargestellte Philosophie seines Stifters. Zum Exempel: Im Kreuzgang gleicht kein Bogen und kein Fenster dem andern – zusammen aber ergeben sie, für jeden Betrachter intuitiv einleuchtend und überzeugend, ein ganz und gar harmonisch stimmiges, lebendig „richtig" anmutendes Ganzes.

Daß kein Ding auf Erden einem andern völlig gleich und kein Stern im unendlichen Kosmos mit irgendeinem anderen identisch sei, war die revolutionäre Lehre des Cusaners. Gleichwohl aber sei das Einzelne und alle Vielheit Teil der unendlichen Einheit, aus der es als aus seinem Grund hervorgegangen sei und dem es sich verdanke.

Wer „Metaphorik" in der Baukunst, von der jetzt viel die Rede ist, studieren möchte, sollte das Cusanus-Stift in Kues besuchen.

Der Einheit der Vielfalt als Geheimnis – das wir wirklich sehen, aber nur abstrakt als möglich denken können – steht dort als Baudenkmal vor uns.

Womöglich bringt die Exkursion danach auf den Gedanken, einmal unvoreingenommen das andere berühmte Haus nach Plänen eines Philosophen zu besichtigen, das Ludwig Wittgensteins (in Wien, entworfen und gebaut für seine Schwester).

Im schroffen Gegensatz zum Stift des Nikolaus ist seine Villa ein streng durchdachtes, offenes Bekenntnis zur Moderne.(24)

Um meinerseits zuletzt ein sehr persönliches Bekenntnis nicht zu scheuen: Das Haus in Kues ist freundlicher.

1Selbstverständlich haben sich Philosophen zur Architektur geäußert. Ich erwähne hier Martin Heidegger, Bauen Wohnen Denken, in: drs., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 61990, S. 139 - 156 (daß dieser Vortrag, den Heidegger 1951 in Darmstadt hielt, mich meinerseits zum Titel meines Versuchs inspiriert hat, dürfte offensichtlich sein ...); Theodor W. Adorno, Asyl für Obdachlose, in: Minima moralia, Nr. 18, Frankfurt/M. 1951, S. 40 ff; Jürgen Habermas, Moderne und postmoderne Architektur, in: drs., Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985, 11 - 29; Hermann Lübbe, Am Beispiel der Architektur. Postmoderne – ein Definitionsvorschlag, in: Schweizer Monatshefte, 67. Jg., H. 10, 1987, S. 807-816; Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, darin vor allem das 4. Kapitel, „Postmoderne für alle: Die postmoderne Architektur", S. 87 - 134.

2Jürgen Habermas, a.a.O., diskutiert in diesem Sinne besonders die Zwänge, denen die Architektur-Moderne unter den Bedingungen der industriellen Revolution ausgesetzt war; vgl. S. 15 ff. Als Conclusio: „Die Gesetze des Bau- und Wohnungsmarktes verändern die Einstellung zu Bauen und Wohnen." (S. 18)

3Das allgemeine Brouillon, Nr. 1055 (Werke, hg. v. Mähl und Samuel, Darmstadt 1978, Bd. II, S. 706)

4De invent. I, 9, zit. im Artikel „Denken", Histor.Wb.Philos., Bd. II, Basel 1972, Sp. 74

5Paul Valéry, Windstriche, Frankfurt/M. 1971, S, 109; auf denselben Denkwegen ging später ein anderer Franzose, André Glucksmann, Die Meisterdenker, Reinbek 1978, S. 125: Er habe einmal den Meisterdenkern „die ungeheuerlichste Wahrheit" abgelesen, „die Wahrheit der Ungeheuer: Denken ist Beherrschen". Freilich gehört dies in das Bewußtsein der Dialektik der Aufklärung, das des „instrumentellen Charakters" neuzeitlichen Denkens innewurde.

6vgl. Art. „Denken" im Hist.Wb.Philos., op.cit., Sp. 86; außerdem den Art. „Denken" von H. Krings in Handbuch philos. Grundbegriffe, München 1973, Bd. I, S. 274 - 288, bes. S. 284.

7vgl. B. Mojsisch/W. Halbfass/T. Grimm, Art. „Meditation", Hist.Wb. Philos., Bd. V, Basel 1980, Sp. 961–968, wo auf dieses „Umkehr"-Motiv durchgängig hingewiesen wird: „Seine eigentümliche philosophische Färbung erhält der Meditations-Begriff durch den Gedanken der Umkehr" (Sp. 962), und der sei ihm wesentlich von Platon an bis zu Husserl: der „philosophische Inhalt" des Meditationsbegriffs sei „Vollzug denkender Umkehr" (Sp. 964).

8Hist.Wb.Philos., Art. „Denken", op.cit., Sp. 73

9vgl. Hist.Wb.Philos., Art. „Meditation", op.cit., Sp. 966 f.

10Dieses Hörbar-Machen des Sprechens der Sprache ist hier weniger ambitioniert und grundsätzlich gemeint, als dies Heidegger in seinem Vortrag „Bauen Wohnen Denken" vorträgt: „Der Zuspruch über das Wesen einer Sache kommt zu uns aus der Sprache, vorausgesetzt, daß wir deren eigenes Wesen achten." – heißt es dort. Nicht der Mensch sei „Bildner und Meister der Sprache", sondern „sie ... die Herrin des Menschen". (S. 140)

11Hegel, Werke in 20 Bänden (Suhrkamp Theorie-Ausgabe), Bd. XII, Frankfurt/M. 1970, S. 529

12Hegel, ebd., Bd. XIX, Frankfurt/M. 1971, S. 533

13Karl Marx, Die Frühschriften, hg. v. S. Landshut, Stuttgart 1971, S. 341

14Odo Marquard, Skeptische Methode im Blick auf Kant, Freiburg/München 1958, S. 52. – Einem Bericht des Spiegels zufolge soll unter jungen Intellektuellen im Jahre 1994 der Slogan umgegangen sein: „Wir haben die Welt genug verändert; es kommt darauf an, sie zu interpretieren." (Spiegel 40/1994, S. 165)

Ein womöglich noch sinnreicheres „Zeitzeichen", daß die Möglichkeit eines Übergangs von der Epoche des Denkens zu der des Nachdenkens ankündigte, war der von Rudi Dutschkes Frau berichtete „Lesefehler", der ihrem Gatten nach dem Attentat und im Rahmen seiner ersten Versuche, wieder zur Sprache zu finden, unterlaufen sei. Er habe die 11. Feuerbach-These mit folgendem „Versprecher" gelesen: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sich zu verändern" (Spiegel 35/1996, S. 112), was Dutschke mit der Bemerkung kommentiert habe, diese Lesart könne den Wert der These für das jetzt fällige politische Handeln erhöhen.

15So in einem Interview; zit. bei Manfred Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, Frankfurt/Main 1986, S. 8

16Martin Heidegger, Bauen Wohnen Denken, a.a.O.. Ich zitiere im weiteren Text nur durch die einfache Seitenangabe in Klammern.

17Es ist zu erwähnen, daß Heidegger selbst nicht explizite von der Zusammengehörigkeit der Lebenden und der Toten spricht. Seine Rede vom „Geleiten der Sterblichen" meint „ein ›gehörend in das Miteinander der Menschen‹" im „Bleiben vor den Göttlichen". (143) Gleichwohl „birgt" seine Rede von uns als den „Sterblichen" jene hier angesprochene Zu- und Zusammengehörigkeit der Lebenden und Toten, die darin ihren Ausdruck fand, daß man die Toten in die Mitte aufnahm.

18Franz Kamphaus, Gott hat uns gewürdigt, in: FAZ Nr. 299 v. 24.12.1994

1John Steinbeck, Der fremde Gott, Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1974, S. 151

2a.a.O., siehe Anm. 1, S. 1

3S. 42; vgl. dazu die späteren, richtigstellenden Einschränkungen, die Adorno im Rahmen seiner Vorlesungen zur „Philosophischen Terminologie" (Bd. I, Frankfurt/M. 1973, S. 133 + 189 ff) nachschob. Ich selbst habe mich dazu – auch dort mit vergleichendem Verweis auf Heideggers gleichzeitigen Vortrag – in dem Aufsatz „Lebensform und Therapie" geäußert, in: Neue Rundschau, Frankfurt/M., Heft 2/97.

4Es ließe sich dieser Zusammenhang mit der bekannten Heideggerschen Formel von der „Not der Notlosigkeit" benennen: Die eigentliche Not ist, daß sie als solche nicht begriffen wird.

5Blaise Pascal, Pensées, übers. v. Wasmuth, Nr. 139

6vgl. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, a.a.O., S. 101

7Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1979, S. 181

8Welsch, a.a.O., S. 101 4) ebd., S. 93

9Aldous Huxley, „Schöne neue Welt", 3. Kapitel

10vgl. Verfasser, Alles – auch die Zeit – hat seine Zeit, in: Alles hat seine Zeit – Ich habe keine Zeit, hg. v. Rothbucher u. a., Salzburg-Wien 1995, S. 24 - 38.

11vgl. Welsch, a.a.O., S. 96 f

12vgl. Jürgen Habermas, Moderne und postmoderne Architektur, a.a.O., S. 28.

13Heinrich Klotz, Moderne und Postmoderne, in: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, hg. v. Wolfgang Welsch, Weinheim 1988, S. 99–109; siehe im selben Band auch Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur, S. 79–84, und Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur, S. 85–98.

14vgl. Robert Venturi, Komplexität und Widerspruch ..., a.a.O., S. 81

15vgl. dazu Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, a.a.O., der aus dem Monotheismus und seiner ihm philosophisch zugelegten metaphysischen Gestalt schließlich die neuzeitliche Wissenschaftsidee und das Ideal „theoretischer Exaktheit" hervorgehen sah, die endlich zur „Weltuniform der Intelligenz" wurde. (S. 110)

16Es wird aufgefallen sein, daß ich mich bemühe, nicht den Ausdruck „postmodern" bzw. „Postmoderne" zu verwenden. Ich will hier den Grund angeben: In den Manifesten der architektonischen Postmoderne, ebenso aber „im Geist" mancher für „postmodern" gehaltener Bauten (Beispielsweise die Charles Moores), sind Momente enthalten, für die mein Plädoyer für eine „nachdenkliche Architektur" nicht mitplädiert. Andererseits kann ich mich im Rahmen dieses Vortrags nicht auf eine Kritik der Postmoderne einlassen. Also meine ich in diesem abschließenden Kapitel genau nur das, was ich ausspreche, beziehe es aber nicht auf die bisher sich abzeichnende Postmoderne überhaupt.

17Übrigens bin ich der Ansicht, daß sich viele Texte der sogenannten „postmodernen" Architekten in einen unterstützenden, gewissermaßen idealen Zusammenhang mit Schriften des Philosophen Odo Marquard bringen ließen. Vgl. vor allem: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981, aber auch: Krise der Erwartung – Stunde der Erfahrung. Zur ästhetischen Kompensation des modernen Erfahrungsverlustes, sowie: Einheit und Vielheit, in: Skepsis und Zustimmung, Stuttgart 1994, und: Apologie des Zufälligen, im gleichnamigen Buch, Stuttgart 1986.

18siehe Welsch, a.a.O., S. 90

19Hermann Lübbe, Am Beispiel der Architektur, a.a.O. (s.S.1), S. 810

20Titel eines Buchs des Architektur- und Städtebaukritikers Wolf Jobst Siedler, II. Teil: Die gemordete Stadt, 1985, Quadriga Verlag J. Severin

21Hermann Lübbe, a.a.O., S. 815

22Hermann Lübbe, a.a.O., S. 811; vgl grundsätzlich zu dieser Frage: drs., Was heißt ›Das kann man nur historisch erklären‹? Zur Analyse der Struktur historischer Prozesse, in: drs., Fortschritt als Orientierungsproblem, Freiburg 1975

23Wolf Jobst Siedler, Vorsicht: Experten! FAZ 69 v. 22.3.1986, S. 25: „Der Plan eines Abrisses der Fasanenstraße [Berlin] ... war wie alle anderen Verwüstungs-Schritte der Nachkriegszeit kein Ergebnis von Gedankenlosigkeit, sondern ein solches angestrengten Nachdenkens", der „Rat der Fachleute".

24vgl. Henning Ritter, Der Philosoph als Architekt, FAZ-Magazin Nr. 477 v. 21.4.1989 (mit zahlreichen Fotos und Aufrissen)

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