Thema
3. Jg., Heft
2
Juni 1998

Eduard Führ

'genius loci'
Phänomen oder Phantom?

Einleitung

Heideggers Vortrag ‚Bauen Wohnen Denken‘ (1951) kann man auch als einen ersten Anstoß zu einer ‚Phänomenologie der Architektur‘ verstehen, in dem bereits grundlegende Themata, wie ewa ‚Raum‘ oder ,Wohnen‘ festgelegt sind und erste Gedanken zum System, zur Struktur und zum Inhalt dieser philosophischen Disziplin formuliert wurden.
Im Anschluß an Heideggers Vortrag hat dann 1963 Otto Bollnow einen phänomenologischen Ansatz in Bezug zur Architektur in seinem Buch 'Mensch und Raum' umzusetzen versucht und dabei über unterschiedliche Raumverständnisse und über die Räumlichkeit des menschlichen Lebens geschrieben, um letztlich 'Forderungen für das wahre Wohnen' aufzustellen und den Gegensatz von weiter Welt und Geborgenheit des Heims aufzuheben. Es geht Bollnow um eine phänomenologische Philosophie des Wohnens; er analysiert dabei auch einzelne architektonische Elemente in ihren essentiellen Bestimmungen (etwa den semipermeablen Charakter von Türen; Bollnow 1963, S. 154). Für den konkreten architektonischen Entwurf von Architektur und einzelner Teile gibt das Buch allerdings nicht viel her.
Während Heideggers Vortrag nicht leicht zu rezipieren war, hat Bollnows populärer geschriebenes Buch ein großes Publikum und nicht nur im deutschsprachigen Raum großen Einfluß auf das Nachdenken über Architektur gehabt. Ähnliche ‚phänomenologische‘ Ansätze ausländischer Autoren (Gaston Bachelard 1957; Rasmusson 1959) wurden ins Deutsche übersetzt, weitere phänomenologisch verstandene Publikationen erschienen (etwa Badt 1963).
Die Thesen und Verständnisweisen dieser Autoren wurden weitgehend zur Ausstattung der Kritik am Funktionalismus und am klassischen Wissenschaftsverständnis genutzt; als Entwurfsphilosophie, d. h. als Gebrauchsanweisung für das Herstellen von guter Architektur eigneten sie sich wenig.

Hier stieß Christian Norberg-Schulz mit seinem Buch über den architektonischen Raum (1971) und vor allem über den ‚genius loci‘, (1976 geschrieben, 1979 in Italien und den USA veröffentlicht und 1982 in einer deutschen Fassung herausgegeben) auf eine große Nachfrage.
Er beabsichtigte in diesen Schriften, die Möglichkeiten einer 'Konkretisierung des existentiellen Raums in der Architektur' (1976, S. 5) aufzuzeigen und versteht sich dabei im Gegensatz zu philosophischen Abhandlungen zum gleichen Thema als Architekturtheoretiker.
Norberg-Schulz versteht sich als Schüler Heideggers, dessen Gedanken zum architektonischen Raum er explizieren, anwenden und umsetzen will. Zugleich beansprucht Norberg-Schulz, eine Phänomenologie der Architektur zu entwickeln.
Ich möchte nun diesen Ansatz vorstellen (und beziehe mich dabei im wesentlichen auf die Äußerungen Norberg-Schulz zum ‚genius loci‘) und den Anspruch einer ‚Phänomenologie‘ untersuchen.

'genius loci'

Christian Norberg-Schulz entwickelt seine Theorie in zwei Teilen, in einer Theorie und Typologie der Orte und in einer Darstellung und ästhetischen Analyse von drei Städten (Prag, Khartum und Rom).
In einer Einleitung macht er seinen eigenen wissenschaftstheoretischen Ansatz zur Entwicklung einer Phänomenologie der Architektur deutlich: die bestehende Wissenschaft wolle eine rationale, allgemeine Erkenntnis gewinnen. Sie sei nur durch eine neutrales objektives Vorgehen herzustellen und nur durch Abstraktion vom Gegebenen zu erreichen. Deshalb habe die klassische Wissenschaft den Kontakt zur konkreten Lebenswelt verloren. Auch und gerade die 'Phänomene' der Architektur könne man nicht mit diesen analytischen 'wissenschaftlichen' Begriffen" (1976, S. 5/6) fassen.
Im Gegensatz dazu will Norberg-Schulz eine 'Phänomenologie der Architektur' schreiben (1976, S. 5)
Dabei bezieht er sich auf Heideggers Philosophie. Im Bezug auf dessen Text 'Bauen Wohnen Denken (1951) geht Norberg-Schulz vom 'Wohnen' - wie er es sagt: - vom 'existentiellen Halt' (1976, S. 5) des Menschen in seiner Umwelt aus. Dieser 'Halt' entstehe für den Menschen, "wenn er sich in einer Umgebung orientieren und mit ihr identifizieren kann, kurz, wenn er seine Umgebung als sinnvoll erlebt." (1976, S. 5) Orientierung und Identifikation sind für Norberg-Schulz die beiden existentiellen Bedingungen zur Gewinnung eines Halts in der Welt. Orientierung bedeutet für Norberg-Schulz Konstituierung eines Raumes. Identifikation ist nur möglich, wenn der Raum einen Charakter, einen 'genius loci' hat. Wenn der Mensch einen existentiellen Halt im Raum gewinne, werde der Raum zum Ort. "Ein Ort ist ein Raum mit einem bestimmten Charakter" (1976, S. 5)
Er "stellt die Teilhabe der Architektur an der Wahrheit dar. Im Ort manifestiert sich in konkreter Weise das Wohnen des Menschen, und seine Identität hängt von seiner Zugehörigkeit zu Orten ab." (1976, S. 6)

Im Gegensatz zu anderen Phänomenologen, die über den Raum handelten, wie etwa Bollnow, und dabei sich mehr auf dingunabhängige subjektive Bedeutungswelten konzentrierten, versteht sich Norberg-Schulz als Architekturphänomenologe: es geht ihm um die Realität des Charakters, um die Konkretisierungen des existentiellen Raumes, also - mit Heideggers 'Ding'verständnis - um die Sammlung im Ding, im Gebäude, in der Landschaft.
Norberg-Schulz unterscheidet grundsätzlich zwischen 'Phänomen', 'Struktur' und 'genius', den er wiederum in 3 Typen und einer Mischtype unterteilt. Diese Ordnung bezieht er auf die natürlichen und auf die artifiziellen Orte.

 

natürlicher Ort

artifizieller Ort

'Phänomen'

     

'Struktur'

     

'genius'

romantisch    
kosmisch    
klassisch    
komplex    

Bevor Norberg-Schulz sich jedoch mit der konkreten Architektur und Landschaft beschäftigt, gibt er eine allgemeine Einführung zum Verständnis seiner Begriffe.

Theorie des Ortes

'Phänomen'
Ein Ort ist für Norberg-Schulz immer eine "Totalität aus konkreten Dingen mit materieller Substanz, Form, Oberfläche und Farbe" ein Ort ist immer ein qualitatives 'Gesamt-Phänomen', das Norberg-Schulz auch als 'Atmosphäre' oder als 'Charakter' bezeichnet (1976, S. 6)
Zur Verdeutlichung gibt Norberg-Schulz ein Gedicht von Trakl an, in dem ihm besonders deutlich werde, worauf es ankomme:

"Ein Winterabend

Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet,
Und das Haus ist wohlbestellt.

Mancher auf der Wanderschaft
kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
aus der Erde kühlem Saft.

Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein."

Das Gedicht wurde - wie Norberg-Schulz sagt - 'tiefsinnig' von Heidegger analysiert, er selbst versteht das Gedicht als poetisches Programm einer Architekturphänomenologie mit einer Explikation der wesentlichen Kategorien der natürlichen und artifiziellen Umwelt (1976, S. 10) und von Außen und Innen (1976, S. 9). Das Außen sei eine umfassende Totalität mit göttlichem Charakter, auf den die Abendglocke verweise. Der Schnee sei Metapher für das Gesamtphänomen, den Charakter, für den 'genius loci' des Winterabends. Das Innen werde im Gedicht durch den Tisch als Mitte konstituiert; es sei "eine begreifbare Welt von Dingen, in der das Leben von 'vielen' stattfinden könnte." (1976, S. 9) Die Schwelle stehe für die Trennung von Innen und Außen, "für den 'Riß' zwischen dem 'Anderssein' und der manifesten Bedeutung." (1976, S. 9)

Die Theorie von Norberg-Schulz ist nicht ohne seine Abbildungen zu verstehen (seine Abb. 2 steht für Außen, Abb. 6 für Innen und Abb. 3 für die Vermittlung von Innen und Außen).

Norberg-Schulz: Abb. 2. Auf der Erde - unter dem Himmel

Norberg-Schulz: Abb. 6. Altes norwegisches Haus

Norberg-Schulz: Abb. 3. Außen - Innen

In ihnen verbildlicht er seine verbalisierten Erkenntnisse. Ich werde sie in einem gesonderten Abschnitt analysieren.

'Struktur' des Phänomens
Norberg-Schulz setzt sich vom mathematisch verstandenen Raum als Begriff für ‘Landschaft’ und ‘Ort’ ab und befürwortet eine - wie er es nennt - phänomenale Sicht. Ihm zufolge werden Räume von einer jeweiligen Mitte her konstituiert und erhalten dann Richtung und Rhythmus durch topografische und architektonische Elemente. Der Raum werde so zu einer 'Gestalt', die nach den 'Gestaltprinzipien' der 'Gestalttheorie' organisiert werden müsse.
Bestehe oder entstehe ein Gestaltphänomen, so existiere ein Charakter, ein 'genius loci'. Neben den Gestaltstrukturen bestimmen noch weitere Faktoren den 'Charakter'; dazu gehören etwa das verwendete Material, die gestalteten Formen, aber auch das Licht oder die Art der Grenzfassung.
Die Struktur des Ortes könne vollständig gegeben sein. Dann sei es Aufgabe eines Architekten oder Bauherren, sie genauer herauszuarbeiten und zu visualisieren. Wo die Struktur Mängel habe, habe er sie zu ergänzen und zu verbessern (1976, S. 16).
In beiden Fällen muß der Architekt jedoch noch darüber hinaus die 'Gestalt' und den 'genius loci' 'symbolisieren; Norberg-Schulz sagt, den gegebenen Sinn in den Dingen versammeln, ein 'imago mundi', einen konkreten Mikrokosmos schaffen. (1976, S. 18)

Eine Gegend könne sich verändern, der Orts-charakter, der 'genius loci' sei jedoch beständig (1976, S. 18) Was nicht heiße, daß es nur eine einzige Realisierung des 'genius loci' gebe. Er könne sehr verschieden gedeutet werden und müsse immer wieder neu zu konkretisieren versucht werden.
"Als allgemeine Schlußfolgerung ergibt sich daraus, daß Ort in unserer strukturellen Untersuchung sowohl den Ausgangspunkt als auch das Ziel bildet; zu Beginn bot sich der Ort als gegebene, spontan erfahrene Totalität dar. Am Ende, erhellt durch eine Analyse der Aspekte von Raum und Charakter, erscheint er als strukturierte Welt." (1976, S. 18)

Der 'genius loci' ist für Norberg-Schulz eine ‘geistige Identität’. Die Struktur der Orte könne sich verändern, dies führe nicht notgedrungen auch zur Veränderung des genius loci (1976, S. 18); er könne während einer sehr langen Zeitspanne auch unverändert bleiben.
Wohnen war als Orientierung und Identifizierung verstanden worden, dabei war die Identifizierung der für den Menschen wichtigere Vorgang. Identifizierung könne nicht ohne eine Identität des Ortes geschehen, deshalb sei die Identität des Ortes, der 'genius loci' von so zentraler Bedeutung. "Personale Identität setzt Identität des Ortes voraus, Identifikation und Orientierung sind Grundaspekte des menschlichen In-der-Welt-Seins." (1976, S. 22) In der Architektur müsse auf den 'Ruf' des Ortes gehört werden; "damit schonen wir die Erde und werden selbst Teil einer umfassenden Totalität." (1976, S. 23)

Typologie der Orte

Norberg-Schulze unterteilt in die natürlichen und in die artifiziellen Orte.

Für den natürlichen Ort gibt es zwei Weisen des Naturverstehens, Magie und Kosmos.
Die magische Sicht, als Inbeziehungsetzen von Kräften zu Dingen, erklärt die Entstehung der Natur als Zeugung in der Hochzeit von Himmel (Uranos) und Erde (Gaia) und Ausdifferenzierung in der Geburt zu Bergen, Wasser und Vegetation.
Die Berge bilden Mittelpunkte, das heißt sie geben Orientierung, das Wasser ist eine dynamische chthonische Kraft, die Identität verleiht, also Charakter herausbildet. Die Vegetation ist eine Manifestation der Vitalität.
Die Abstraktion einer systematischen kosmischen Ordnung (1976, S. 28) läßt eine geordnete Welt mit vier Himmelsrichtungen, einer Himmelsachse (Irminsul) entstehen. Hier ergänzt menschliche Vernunft die Magie.

Die Struktur des natürlichen Ortes kann in Wegen, Knoten und Bereichen gefaßt werden.

Norberg-Schulz: Abb. 42 - 44 Norberg-Schulz: Abb. 45 - 47

Sie bieten Möglichkeit zu einer Orientierung. Hinzu kommen Beschaffenheit, Farbe und Vegetation, die der Landschaft einen Charakter verleihen; sie kann somit ‘wild’ oder ‘freundlich’ sein. "Die Erde wird somit zu einer Bühne, auf der das tägliche Leben der Menschen stattfindet" (40)

Der Geist des natürlichen Ortes wird - etwas an Hegel (auf diesen Bezug hat mich Hans Friesen hingewiesen) orientiert, wobei aber Hegels symbolische Kunstform durch die kosmische ersetzt wird und Norberg-Schulz sie zudem entzeitlicht und verräumlicht - in drei Klassen aufgeteilt:
- In der romantischen Landschaft sind die ursprünglichen Kräfte spürbar, komplex, Wohnen heißt, daß der Mensch sich in die individuelle, veränderbare Natur begibt.

Norberg-Schulz: Abb. 62. Leben zwischen und unter Bäumen


- In der kosmischen Landschaft gibt es endlose Weite, sie ist in ihren monotonen Abläufen Manifestation einer absoluten, ewigen Ordnung. Es bilden sich keine Orte heraus, sondern vielmehr ein durchgängig neutraler Grund. Wohnen heißt, sich auf den Kosmos zu beziehen.

Norberg-Schulz: Abb. 65, 66 Kosmische Landschaft


- Die klassische Landschaft, etwa in Griechenland und Rom, hat eine verstehbare Anordnung unterschiedlicher Elemente und klar begrenzte natürliche, vorstellbare Räume. Sie bildet eine sinnvolle Ordnung selbständiger einzelner Orte, Wohnen heißt, daß der Mensch der Natur als gleichrangiger Partner gegenübersteht, die Natur ist eine freundliche Ergänzung seiner selbst.

Norberg-Schulz: Abb. 67, 68 Klassische Landschaft


- Zudem gibt es noch eine Mischform, die ‘komplexe Landschaft’

Der artifizielle Ort wird ebenfalls in diese drei Kategorien unterteilt.
- Dabei handelt es sich um romantische Architektur, wenn Fülle und Vielfalt realisiert sind. Sie ist irrational und subjektiv, phantastisch und geheimnisvoll, sie ist - wie sich zum Beispiel in der mittelalterlichen Architektur zeigt, eher topologisch als geometrisch (1976, S. 69).

Norberg-Schulz: Abb. 113 Romantische Architektur Dinkelsbühl

- Die kosmische Architektur ist gleichförmig und absolut geordnet. Sie enthält ein integriertes logisches System, kann aber auch labyrinthischer Raum sein (Kasbah), wie in der islamischen Architektur.

Norberg-Schulz: Abb. 116 Kosmische Architektur Decumanus in Gerasa

- Die klassische Architektur wiederum hat eine vorstellbare, gestaltete Ordnung. Sie zu verstehen, bedarf es der Einfühlung. Jedes Element habe eine eigene Persönlichkeit. Sie ist weder statisch noch dynamisch, sondern organisch. Es gebe kein allgemeines System, deshalb könne man sie als demokratische Architektur verstehen.

Norberg-Schulz: Abb. 121 Klassische Architektur Akropolis Athen


- Auch hier gibt es eine komplexe Architektur, die Norberg-Schulz in der Kathedrale sieht.

Das Buch schließt mit den zu erwartenden Attacken gegen Mies van der Rohe und gegen den Verfall des Ortes.
Gleichwohl sieht Norberg-Schulz in der dritten Generation der Moderne (Le Corbusier mit 'Notre Dame du Haut in Ronchamp, das Bürogebäude von BBPR an der Piazza Meda in Mailand, dem Studentenhaus von Pietilä in Otaniemi (Finnland) oder dem Pyramidenmonument von Bofill (in Katalonien) den richtigen Weg zur überzeugenden Gestaltung von Orten beschritten.

‚Genius loci‘: Das ‚Phantom der Architektur'
Zur Kritik an Norberg-Schulzes Theorie

Ich möchte meine Kritik an der Norberg-Schulzes Gedanken zum ‚genius loci‘ einleiten mit der Analyse einer Abbildung aus seinem Text.
In einem abgrenzenden Kapitel schreibt Norberg-Schulz über den ‚Verlust des Ortes‘ und gibt einleitend zu seinem Text ein ganzseitiges Bild, in dem er den Verlust des 'genius loci' beklagt:

Norberg-Schulz: Abb. 327 Visuelles Chaos Oslo

Der Standpunkt des Fotografen ist sorgfältig gewählt, so daß sich eine interessante Flächengestaltung und zugleich eine bedeutsame Bilddramaturgie ergibt:

  • Die Fläche ist in der Waagerechten in zweidrittel dunkle und eindrittel helle Fläche unterteilt. Sie ist senkrecht durch drei hölzerne Leitungsmasten, die in die helle Fläche hineinragen, derart aufgeteilt, daß ein kleinerer Mast in der Mitte der Fläche steht und also das Bild zentriert. Zwei weitere, gößere Masten, die sich bis an den oberen Rand des Bildes erstrecken, teilen die beiden seitlichen Flächen noch einmal auf und bilden einerseits einen ziemlich statische Flächenordnung und zudem so etwas wie einen innerbildlichen Rahmen.
  • Bilddramaturgisch wird diese Ordnung aufgenommen. Ein Weg führt von links kommend in das innerbildliche Bild hinein. Rechts und links im Foto, aber außerhalb dieses innerbildlichen Bildes wird der Weg von parallel zu ihm stehenden und am Bildrand abgeschnittenen Häusern flankiert, was den Bildraum der Fotografie nach vorne zum Betrachter hin entgrenzt und gleichzeitig die Dynamik des Hineinführens erhöht. Die Dynamik verwirrt sich und löst sich im innerbildlichen Bild auf, indem der Weg seine Richtung ändert und im Nichts verendet. Die am Ende des innerbildlichen Bildes sehenden Häuser stehen quer zur Introduktionsdynamik und unterstützen diese Verwirrung. Sie ergeben zudem keine alternative Ordnung.
  • Diese ‚Unordnung‘ wird durch die Inhalte des Bildes noch weiter verstärkt. Ein unentschiedenes Wetter – ein bißchen Schnee, den man kaum so nennen kann und der nur als Präsentation der Desavouierung der Sehnsucht nach einem ordentlichen (und kategorial klaren) Winter gelesen werden kann – ein matschiger aber offensichtlich viel von Autos befahrener Weg (er ist platt und glatt und sieht wie das Gegenteil eines tiefgefurchten Holzweges im Wald aus), entlaubtes Buschwerk und Bäumchen (auch hier handelt es sich nicht um eine Thematisierung der Hoffnungslosigkeit, wie etwa in einem entlaubten aber heroisch präsentierten Baum bei Caspar David Friedrich) in der ganzen Banalität, die – vielleicht kann man das noch weiter lesen – in den entzweigten Masten der Elektrizitätskabel ihre industriell genutzte sublimierte Entsublimierung visualisiert erhielten und die – ca 20% des Gesamtbildes einnehmende - proletenhafte Halbwelt des Wegrandes, die aus unterschiedlich niedergefallenen Pflanzenresten besteht und von der jeder weiß, daß Ölreste, verschmutzes Papier und sonstige Abfälle ihre wesentlichen Bestandteile sind.

Norberg-Schulz macht exzellente Fotos (ich unterstelle, sie sind von ihm); die Frage ist, ob der ‚genius loci‘ nicht ausschließlich durch die Fotos produziert wird und somit ein fotografisches Phänomen und kein architektonisches ist.
Schon wenn man einen anderen Ausschnitt nimmt – und mir ist fototechnisch natürlich nichts anderes möglich – ergibt ich eine völlig andere Aussage.

Ausschnitt aus Bild 327

Ich möchte dies durch eine unkommentierte Collage von Norberg-Schulz Abbildungen und von mir neu gewählten Ausschnitten weiter dokumentieren:

Norberg-Schulz: Abb. 65
Kosmische Landschaft
Alternative Bildausschnitte
aus Norberg-Schulzes Bild

Es ist der Blick, der den 'genius loci' konstituiert; besser gesagt, der 'genius loci' ist eine Produktion des fotografischen Blickens, ist also konstituiert unter den Bedingungen der ästhetischen Möglichkeiten einer zweidimensionalen Fläche und muß somit notwendigerweise auch einen Standpunkt fixieren, also das Subjekt feststellen. Jeder andere Standpunkt, jeder andere Blick, jeder andere Zugang verfehlt den 'genius loci' oder konstituiert einen ganz anderen.

Norberg-Schulz: Abb. 121
Akropolis
Ansicht der Akropolis
bei Camillo Sitte

Die Folge ist auch, daß die typologischen Klassifizierungen schwierig nachzuvollziehen sind.

Dinkelsbühl Gerasa

Wieso die linke Abbildung für eine romantische und die rechte für eine kosmische Architektur stehen, ist nur klar, wenn man den Verlauf der Straßenfluchten bedenkt, eine Straße, die von links nach rechts in die iefe eines Bildes führt, also gegen die leserichtung und zudem nach einer bestimmten entfernung durch ein Gebäude einen visuellen Abschluß erhält, verleiht einem Foto natürlich eine andere Atmosphäre als eine Straße, die in Leserichtung unbegrenzt in die Tiefe des Bildes führt, wobei die Erscheinung von Ferne noch dadurch gesteigert wird, daß ein aufragender Säulenstumpf eine Art offener Schwelle zur Tiefe angibt, deren wesentliche Funktion nicht der Abschluß, sondern das 'plus ultra' ist.
Andererseits hätte das Foto von Gerasa mit der auf eine ruinenhafte Säule zuführenden Straße - wenn man Standpunkt und Bildflächengestaltung (Ausschnitt) etwas geschickter wählte - auch ein Bild von Caspar David Friedrich sein können.
Der Begriff der 'Romantik' für Dinkelsbühl scheint mir mehr vom Bildgegenstand als vom Bild her angemessen.

Der 'genius loci' ist für Norberg - Schulz ein 'Phänomen', das eher in der Abwesenheit der Menschen zu entstehen scheint, als durch seine Anwesenheit oder gar durch seine Aktivitäten in der Landschaft. Der 'genius loci' ist nicht Eigenschaft oder Qualität einer Lebenswelt, sondern erlebter Sachlichkeit.

Einer der fünf , sechs Menschen auf den 125 Abbildungen des theoretischen Teil des Buches

Mit dieser Entmenschlichung des Raumes und der Architektur geht deren Entgeschichtlichung und Entgesellschaftlichung überein.
Die 'genius-loci'-Welt des Norberg-Schulz ist normativ; so zum Beispiel muß der Charakter einer Wohnung im 20. Jahrhundert immer noch das 'Schutz-bieten' sein; der Charakter eines Büros ist nach all den is heute geführten Untersuchungen über die wichtigen sozialen Interaktionsfelder und die ästhetische Ausstattung immer noch die 'Praktikabilität' und der Charakter einer Kirche nach all den theologischen Diskussionen über 'Kirche und Alltag' und 'Kirche von unten' immer noch die 'Feierlichkeit'. (1976, S. 14)

Wenn ich abschließend noch einmal auf die Abbilding 327 (Visuelles Chaos, Oslo) (s. o.) zurückkommen kann. Der Ort ist keineswegs 'chaotisch'‘, es handelt sich vielmehr gerade hier - im Gegensatz zu den schönen langweiligen anderen Bildern in Norberg - Schulzes Buch - um eine anspruchsvolle Geschichte, die man in Ruhe lesen muß. Sie ist sehr bedeutungshaft und erzählt von dem ‚genius‘ von 'Vororten' und speziell von einem Vorort in Oslo.
Ich habe weiter oben angefangen zu lesen, nur ein paar Sätze, die Verbalisierung müßte umfangreicher sein und weitergeführt werden. Dabei gibt Items (Wegrand), die das gleiche für uns alle bedeuten und andere (Weg), deren Leseweise man als überzogen ansieht, die also meine subjektive Bedeutungswahrnehmung wiedergeben, und es gibt sogar Bedeutungen, die ich für mich selbst als nicht zwingend gegeben, sondern als möglich ansehen würde (Elektromast als ‚sublimierte Entsublimation‘).

Eine 'Phänomenologie der Architektur' meint, Architektur als Teil unserer Lebenswelt zu verstehen, zu lesen und herzustellen. Qualitätskriterien müssen darüberhinaus entwickelt werden. Phänomenologie meint nicht Qualität der Lebenswelt, schon mal gar nicht ästhetische, bzw. bildhafte, sondern Lebenswelt.
Ich könnte mir einen genius des Ortes vorstellen - um nicht ganz ratlos zu enden - der die Fülle des Sinns eines konkret gegebenen Ortes, seinen geschichtlich-gesellschaftlichen Charakter, sowie die daraus möglich werdene Utopie verdinglicht.

Die Lebenswelt ist so schon phantastisch, sie braucht keine Phantome.

Literatur:

Gaston Bachelard; La Poétique de l'espace; Paris 1957 (dt. München 1960)
Kurt Badt; Raumphantasien und Raumillusionen; Köln 1963
Otto Bollnow; Mensch und Raum; Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1963
Martin Heidegger; Bauen Wohnen Denken; 1951
Steen Eiler Rasmussen; Om at opleve arkitektur; Kobenhavn 1959 (dt. Stuttgart 1980)
Camillo Sitte; Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen; 4. Aufl. 1909; Reprint Braunschweig Wiesbaden 1983

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