Thema
4. Jg., Heft 1
Mai 1999

Astrid Schmeing
Lena Kleinheinz

Zum Begriff des Entwerfens

Obwohl zur Produktion von Gebäuden viel mehr gehört, als die Festlegung der jeweiligen optischen Erscheinung , scheint der Begriff Entwurf untrennbar mit Determinierung dieser, der Form verknuepft zu sein.

Die Vorstellung, dass Materie in seiner spezifischen Erscheinung eine Bedeutung hat, daß Architektur kommunizieren kann, Sprache ist, umschreibt die Problematik des Entwerfens als Signifikation. Üblicherweise versucht man diese aus der Form oder Erscheinung abzuleiten, bzw. sucht diese in Form und Erscheinung. Liegt jedoch nicht ein wesentlicher Anteil der Bedeutung viel mehr in Aktivität als in Erscheinungsform? Verstehen wir ein Gebäude nicht wesentlich über die Art in der wir es nutzen? Und ist Nutzung nicht variabel, veränderbar und somit die Bedeutung ebenfalls flexibel?

Die Ermöglichung des Veränderlichen, Flexiblen, sich Entwickelnden (statt des Einschränkenden und Vorherbestimmten) ist eine zentrale Idee in Gilles Deleuzes und Felix Guattaris „Tausend Plateaus" sowie des von Ihnen beschriebenen Diagramms, das als „abstrakte Maschine" agieren soll und als diese Einzug in die Architekturtheorie und -praxis gehalten hat1. Ziel beim Experimentieren mit dem Diagramm als Entwurfsmethode ist nicht „anything goes", sondern die Entwicklung von Systemen, die weniger handlungseinschränkend als -ermöglichend sind, die Veränderung also zulassen. Das Diagramm soll hierbei den im Diagramm enthaltenen Inhalt in den Entwurf und das anschließende Gebäude transportieren.

Gilles Deleuze und Felix Guattari in „Tausend Plateaus"2:

„Eine abstrakte Maschine an sich ist nicht physisch oder körperlich, und auch nicht semiotisch, sie ist diagrammatisch Eine abstrakte Maschine ist die reine Materie-Funktion - das Diagramm"... Eine abstrakte Maschine oder Diagrammatik ist nicht dazu da, um etwas zu repräsentieren, sei es auch etwas Reales, sondern um etwas zukünftig Reales zu konstruieren...."

In der Moderne der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts waren Diagramme Hilfsmittel zur Entwicklung von Funktionalität zur Sicherstellung optimaler Nutzung unter Einsatz von Technik. Ein Beispiel hierfür wäre die Arbeitsweise am Bauhaus unter der Leitung von Meyer. Der Entwurf sollte „von innen" heraus, gemäß seiner Funktion entwickelt werden, und diese zum Ausdruck bringen.

Die Architekten nahmen an, mit Architektur den Menschen und die Gesellschaft verändern zu können. Architektur schaffte verbesserte Bedingungen, welche die Anpassung des Subjektes und der Gesellschaft nach sich ziehen würden. Funktionalismus, war das Mittel zur Erreichung dieser neuen Gesellschaft, die in einen Idealzustand mündet, in dem Veränderung hinfällig wird. Die Festschreibung von Funktionen und Aktivitäten in genau umschriebene Container, in ihrem bestimmenden, universalen Charakter, spiegelt diesen Optimismus (durch Architektur Gesellschaft verändern zu können) wider. Die Festschreibung von Funktionen und Aktivitäten stand kommenden Entwicklungen einschränkend gegenüber. Der heutige Ansatz versucht eher im Diagramm der Gesellschaft zu entsprechen, aber gleichzeitig die Möglichkeit für Veränderung offenzuhalten.

Veränderung in Form von Wandel entzieht sich aber weitgehend der Kontrolle des Architekten, da er das Unvorhersehbare beinhaltet. Wandel ist eine Anforderung, auf die in der späten Moderne mit flexiblen Grundrissen reagiert wird. Der offene oder universale Raum kann multifunktional und somit unbestimmt genutzt werden. Ein Beispiel hierfür sind die Hallenentwürfe Mies van der Rohes. Ein entstehendes Problem dieses universalen Raumes ist, daß er keiner Bauaufgabe oder Funktion voll entspricht und ihr nur mäßig genügt.

Eine Möglichkeit von Funktionsgerechtigkeit bei gleichzeitig „ermöglichendem" Charakter, ist der variabel nutzbare Raum. Dieses heißt nicht alle zukünftigen Möglichkeiten zuzulassen, sondern vorher determinierte Nutzungen in funktionsbestimmten Zonen unterzubringen, die dann mit bewußt unbestimmten Zonen verbunden werden. Diese Kombination fördert variable Nutzung. Variation ist (im Gegensatz zu Wandel) zu einem gewissen Grad simulier- und bestimmbar. Sie versucht Offenheit zuzulassen und gleichzeitig spezifisch zu sein, das heißt z. B. sich auf einen bestimmten Bauherrn und dessen Ansprüche zu beziehen.

Für gleiche Funktionen sind mehrere Erscheinungen möglich, bzw. für eine Erscheinung mehrere Funktionen. Die Erkenntnis dieser Unabhängigkeit gibt Raum, die Erscheinung als eigenständige, wenn auch repräsentative Funktion zu sehen. Eine Fokussierung auf Erscheinung zieht den Vorwurf einer rein formalen Definition von Architektur nach sich. Der Architekt wird Dekorateur (the decorated shed), der sich aus der Planung neuer Organisationsstrukturen zurückzieht bzw. diese nur noch zweitrangig betreibt. Zeichen werden unabhängig vom Signifikanten und somit willkürlich. Dieses zieht einen Legitimations- und damit Machtverlust der Architekten nach sich.

Unter anderem um diesem Legitimationsverlust entgegenzuwirken vollzieht sich in neueren Architekturpraxen eine Rückkehr zu Programm und Aktivität. Anders als beim Funktionalismus der frühen Moderne wird das Ideal einer universalen, besseren Gesellschaft, zu der das Individuum geführt werden muß, nicht mehr angestrebt. Angestrebt wird eine Architektur, die den Universalcharakter der Moderne vermeidet und Systeme einführt, die konstante Variation in der Organisation des Zusammenlebens ermöglicht.

MVRDV arbeiten mit solchen räumlichen Systemen, basierend auf einer Art Hyperfunktionalismus. Vergleichbar zur Moderne versuchen Sie in ihrer Villa VPRO jegliche Art von sich nicht aus der Funktion oder den Daten ergebender Erscheinung zu vermeiden. Der Architekt als subjektive Instanz soll ausgeschaltet werden. Statt dessen werden Datascapes zu Einflußfaktoren, die den Entwurf des Gebäudes und die darin stattfindende Aktivität bestimmen. Datascapes sind Diagramme zur Organisation von baulichen Vorgaben und Ansprüchen und somit gesellschaftliche Bedingungen, die dem Gebäude zu Objektivität verhelfen sollen. Ein Anspruch an das Gebäude ist die Möglichkeit der variablen Nutzung im Sinne von sich ständig neu definierenden Verhältnisse zwischen den Mitarbeitern. Diesem wurde entsprochen durch visuell verbindende Atrien, die gleichzeitig die Räume definieren, sowie nicht klar getrennte Erschließungs- und Arbeitsflächen.

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Erneut stellt sich jedoch die Frage, ob sich rein aus Funktion oder Daten eine Erscheinung ergeben kann. MVRDV über den Entwurf der Fassade:

 

„The frontage is the outcome of a datascape of requirements. We used 35 different sorts of glass, whose colour, reflectivity, and degree of transparency reflect the different ways they are positioned relative to the rooms lying behind them..."3

„The facade, bordering the endless interior requirements, has become a „result", a datascape of demands. In a building whose activity is mainly expressed by other media, any representation in the facade has been avoided..." 4

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Diese Aussage reflektiert MVRDVs Anspruch, den Entwurf ausschließlich an einer vorher gesammelten Masse von Daten und den sich aus diesen ergebenden Anforderungen zu orientieren. Bei Analyse der Fassade treten jedoch Fragen auf: nach Material (verschiedene Glassorten), Anzahl (35) und ob dies nicht eher eine Repräsentation der innen stattfindenden Variabilität als deren nutzungsbedingter Ausdruck ist. Wie schon zuvor angemerkt, ist die totale Übereinstimmung von Erscheinung, Nutzung und Aktivität nicht zu erzielen. Dieses stünde auch dem Ziel der möglichen Veränderung, sowie der Selbstbestimmung des Subjekts entgegen. Wenn Aktivität durch Form und Erscheinung vollständig bestimmbar wäre, würde Architektur zum totalitären System.

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Van Berkel & Bos (jetzt un-studio) haben in ihrem Möbius Haus das Diagramm auf der funktionalen und formalen Ebene benutzt. Die Möbius Struktur hat hier als generierendes Element gedient. Die Form des Hauses und die darin befindliche Erschließung simulieren die Endlos-Bewegung, die im Möbius-Band enthalten ist. Das 8-förmige „Band" wird der Rahmen, der die Möglichkeiten für Wandel und Variation festlegt, wobei im Möbius Haus die Möglichkeiten der Umnutzung gering, die der Variation im Gebrauch jedoch groß sind. Die Bewohner des Hauses sind ein Paar und das Haus ist für jede andere Konstellation kaum geeignet, die Struktur ist inflexibel. Das Paar hat jedoch eine Vielzahl von Möglichkeiten Räume zu belegen, die Funktion wird durch Aktion bestimmt. Dieses ist möglich durch die fließenden Verbindungen und Bewegungen entlang relativ offener Räume, denen eine rigorose Funktionstrennung entgegenwirken würde.

Die Individualität der Bewohner wird durch Schaffung persönlicher Bereiche gegeben. In der aktiven Benutzung des Raumes, stellen sie Verhältnisse oder Relationen zueinander her. Was das Haus zeigt, ist das konstante Forcieren von Variation, allerdings nur innerhalb eines festgelegten Systems, das Einschränkungen bringt, in diesem Fall die beschränkte Umnutzbarkeit des Hauses.

Der Aspekt des Möbius-Bandes, der diagrammatisch noch im Gebäude enthalten ist, insbesondere in der Zirkulation durch das Gebäude und der Möglichkeit der Variation, hätte auch in der Gestalt einer Box verwirklicht werden können. Die Gleichbehandlung der Beton-Oberflächen von Innen- und Außenraum, sowie die Gebäudeform repräsentieren die Eigenschaft des Möbius-Bandes, daß Innen- und Außenraum auf der gleichen Fläche liegen. Diagramm und Gebäude werden in diesem Fall Analogie, während sich in der Erschließung und Organisation das Diagramm in der Aktivität im Gebäude fortsetzt.

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Während van Berkel & Bos das Diagramm simultan formal und programmatisch einsetzen, versucht MVRDV eine rein formale Anwendung des Diagramms zu vermeiden. MVRDV proklamieren die Rücknahme des Architekten als subjektive, kreative Instanz. Diese kehrt insbesondere in der Erscheinung des Gebäudes jedoch wieder, wie am Beispiel der Fassade erläutert.

Das Verhältnis von Aktivität und Erscheinung sind im Möbius-Haus und in der Villa VPRO vergleichbar. In beiden Entwürfen wurde die Erscheinung Repräsentation der Aktivität.

Diese Art der Repräsentation läßt sich mit der Technikästhetik der Moderne vergleichen, in der das Gebäude als Maschine visualisiert wurde. Die Repräsentation des technischen Fortschritts, in der Verwendung bestimmter Materialien, wie Glas und Metall, sowie Referenzen, zum Beispiel zu Schiffen, bestimmt das Erscheinungsbild der Gebäude. Insofern ergibt sich eine Vergleichbarkeit beider Situationen, wobei der Inhalt des dargestellten ein anderer ist, im ersten Fall Variabilität, im zweiten Technologie.

Mit Erkenntnis einer bedingten Unabhängigkeit von Erscheinung und Aktivität stellt sich die Frage, wie das Verhältnis von beiden gedacht werden kann und soll. Die Übertragung des Diagramms auf das Gebäude bietet die Möglichkeit Nutzung und Erscheinung in ein verständliches, lesbares Verhältnis zu setzen. Das Gebäude wird selbstbezogen und erklärt gleichzeitig mögliche Aktivitäten.

Die Wahl eines geeigneten Diagramms wird essentiell, da sich aus diesem die spätere Anwendung und Lesbarkeit, und somit gesellschaftliche Relevanz und Legitimation entwickelt. Das Möbius-Band bietet inhaltliche und formale Qualitäten, die in Einklang mit dem aktuellen philosophischen und gesellschaftlichen Diskurs, zum Beispiel dem Prozess von Variation, in dem sich Individuen in ihrem Verhältnis zueinander ständig neu definieren, stehen. Dieses sind Eigenschaften, die Architektur verkörpern kann, zum einen durch die Nutzung des Gebäudes, zum anderen indem sie eine Geschichte über die Nutzung erzählt. 

Anmerkungen:

1Beispiele für Architekten, die sich mit der Theorie des Diagramms beschäftigen und versuchen diese in ihre Arbeit einfließen zu lassen sind Koolhaas, van Berkel & Bos (jetzt un-studio), Eisenman, Lynn, Umerto und Reiser, Kipnis und andere.

2Deleuze und Guattari: Tausend Plateaus, 1977, Seite 195-196

3El Croquis, no. 58

4assemblage 34, Architects’ Report

 

Bildernachweis:

Images zur Villa VPRO: The Architectural Review, March 1999, The Netherlands,

Images zum Möbius-Haus: A+U, 99:03, No 342, Featuring Koolhaas and van Berkel & Bos

 

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